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Generationenromane - Korrekturen des kulturellen Gedächtnisses?

  • Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. (Philologische Studien und Quellen 192) Berlin: Erich Schmidt 2005. 259 S. Kartoniert. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-503-07942-4.
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Friederike Eiglers Studie Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende hält, was der Titel verspricht – und noch viel mehr. Das Buch liegt scheinbar ganz im Trend der Forschung; über Generationen wird gehandelt von Hamburg bis Konstanz, 1 Soziologen, Psychologen, Historiker und Kulturwissenschaftler versuchen in Tagungen, Kolloquien und Publikationen, diesem schwierigen und leicht diffusen Begriff beizukommen. Aber auch Gedächtnis und Erinnerung sind Begriffe, die schon seit Jahrzehnten ein schier unerschöpfliches Reservoir für Forschungsfragen bieten. 2

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Doch Eigler sucht aus transatlantischer Perspektive heraus einen ganz spezifischen Zugang zu den viel diskutierten Themen. In vier Generationenromanen des ausgehenden 20. Jahrhunderts analysiert sie Erinnerungspraktiken und Vergangenheitskonstruktionen. Die literaturwissenschaftliche Analyse bezieht sie dabei nicht nur auf die politische und gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik, sondern besonders auf das kulturelle Gedächtnis derselben, fragt nach Divergenzen, Dissonanzen oder Übereinstimmungen mit den literarischen Diskursen. Das ist sicher eine der Besonderheiten dieses Buchs, dass es literarische Verfahren und Produktionen ernst nimmt und ihnen eine formierende Kraft nicht nur innerhalb des literarischen Diskurses zuschreibt. Zielpunkt der Analyse ist dabei »die literarische Verarbeitung unterschiedlicher, aber auf vielfältige Weise miteinander verwobener Vergangenheitsschichten sowie das Verhältnis dieser literarischen Erinnerungsdiskurse zu dominanten Tendenzen im kulturellen und familiären Gedächtnis der neuen Bundesrepublik« (S. 37).

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Öffentliches Gedenken
und individuelles Erinnern

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Den Einzelanalysen von Zafer Senocaks Gefährliche Verwandtschaft (1998), Kathrin Schmidts Gunnar-Lennefsen-Expedition (1998), Monika Marons Pawels Briefe (1999) und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land (2003) hat Eigler zwei größere, theoretische Kapitel vorangestellt. Alle Einzelanalysen sind unter Aspekten wie Hybridität und Interkulturalität, Tätertrauma und Schuldangst, Fotografien als visuelle Medien des Gedächtnisses und so weiter durchgeführt.

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Im ersten Theoriekapitel legt Eigler die gesellschaftlichen Koordinaten nach der Wende fest, zwischen denen der öffentliche Gedächtnisdiskurs wie die familiären Erinnerungspraktiken sich bewegen, und sie skizziert Unterschiede und Entwicklungen des Genres Generationenroman vor und nach 1989. Im zweiten Kapitel analysiert sie kritisch die unterschiedlichen Gedächtnistheorien und steckt den methodologischen und theoretischen Rahmen für die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ab.

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Beide Kapitel sind sehr informativ und reich an Forschungsliteratur aus Historiographie, Soziologie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften und geben einen guten thematischen Überblick.

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In den öffentlichen Erinnerungsdiskursen macht Eigler anhand der entsprechenden Fachliteratur 3 zwei Tendenzen aus: zunächst eine – spezifisch deutsche – ›Entdifferenzierung‹ von historischen Phasen und ›Ritualisierung‹ von Gedenkformen, sodann eine – transnationale – ›Medialisierung‹ von Geschichtsdarstellungen und ›Kosmopolitisierung‹ von Holocaustdiskursen (S. 16 ff.). Unter dem Begriff ›Medialisierung‹ subsumiert Eigler den Umstand, dass das kulturelle Gedächtnis immer schriftlicher, optischer, akustischer oder topographischer Medien bedarf und dass der Einfluss elektronischer Medien bei der Vermittlung von Geschichte fortwährend zunimmt. 4 Mit dem Schlagwort ›Kosmopolitisierung‹ folgt sie einerseits den Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider, 5 die ausführlich darstellen, wie durch die Metaphorisierung des Holocausts neue Solidaritätsformen geschaffen werden, die auf die Menschenrechtspolitik weltweit wirken. Andererseits zeigt sie mit Huyssen, 6 dass der Holocaust als Deckerinnerung die spezifische lokale Situation blockieren könne oder gar von Schuld entlaste (S. 17 f.). Literarische Texte können, so Eigler, – und hier schlägt sie den Bogen zur Literaturwissenschaft – der Entortung und Enttemporalisierung, wie sie ja eine Metaphorisierung unweigerlich mit sich bringt, entgegenwirken, indem sie das historisch und kulturell Spezifische wieder in den Blick rücken.

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Mit der ›Entdifferenzierung‹ deutscher Vergangenheit meint Eigler vor allem die in den 1990er Jahren entfachte Diskussion um die Nivellierung der Unterschiede zwischen dem so genannten Unrechtssystem der DDR und dem des Nationalsozialismus wie auch die undifferenzierte Sicht Westdeutschlands auf Ostdeutschland. Eiglers Frage nun ist, wie die literarischen Texte zu den polarisierten öffentlichen Diskursen sich stellen, die entweder auf eine Dämonisierung oder Verharmlosung der DDR-Gesellschaft hinauslaufen.

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Die Gefahr der Ritualisierung von Gedenkformen sieht Eigler vor allem in der Abkopplung der Rituale vom individuellen und kommunikativen Gedächtnis (S. 20). Diskrepanzen zwischen dem individuellen Erinnern und dem kollektiven Gedenken zeigen sich dann beispielsweise in der öffentlichen, hitzig geführten Debatte um die Vertreibung oder die Flächenbombardierung. Eigler macht deutlich, wie in diesen durch die Medien forcierten Diskussionen meist unterschiedliche Ebenen vermischt werden, wenn ›deutsches‹ Leid gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten ausgespielt wird. Für die Generationenromane wäre zu untersuchen, ob sie Alternativen zu den ritualisierten Formen des Gedenkens entwickeln können, ob sie eine Art Gegenmodell darstellen.

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Etwas dünn ist die Diskussion des Familiengedächtnisses, da die Verfasserin sich ausschließlich auf die vielfach zitierte Studie Harald Welzers – Opa war kein Nazi – bezieht. 7 Welzer zeigt auf der Grundlage von 40 Interviews, dass in der Enkelgeneration der Kriegsteilnehmer Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus und die Familiengeschichten ohne Widerspruch nebeneinander stehen können und dass tendenziell ein Harmoniebedürfnis besteht: die Großeltern sollen gut sein. Dass dieses Harmoniebedürfnis auch der Interviewsituation geschuldet sein könnte, reflektiert weder Welzer noch Eigler. Zudem hätte man sich hier gewünscht, vor allem da Eigler sonst sehr abwägend und vielseitig die einzelnen Aspekte betrachtet, dass andere Studien wie beispielsweise die von Angela Keppler herangezogen worden wären. 8

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Generationenromane
vor 1989 und danach

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Eigler hat ihren Untersuchungsgegenstand geschickt begrenzt – metahistorische Generationenromane sind es, die sie analysieren will. Mit dieser Begrifflichkeit folgt sie Ansgar Nünning, der den ›revisionistischen‹ und ›metahistorischen‹ Roman von der ›historiographischen Metafiktion‹ unterscheidet (S. 61). 9 Metahistorisch sind die analysierten Romane, da die sprachliche Imagination von Geschichte mit reflektiert wird. Historische Ereignisse werden aus der gegenwärtigen Perspektive erfasst und konzipiert. So stellt Eigler die von ihr untersuchten Romane in die Folge von Grass, Weiss, Wolf und Johnson. Auf die sonst übliche Traditionslinie – Väterliteratur versus Familienroman – setzt Eigler nicht; sie erwähnt sie nur am Rande mit den bekannten Versatzstücken: die Väterliteratur der siebziger Jahre sei immer bipolar und eindimensional, werde von Aggression und Auseinandersetzung bestimmt und so weiter. Dass dies festgeschriebene Topoi sind – man nehme nur einmal Peter Henischs Die kleine Figur meines Vaters zum Vergleich, wo bis zu vier Generationen in die Erzählung Eingang finden und Aggressionen gegen den Vater sich in Verständnis wandeln –, reflektiert Eigler nicht.

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Der neue Nachwende-Generationenroman frage, so Eigler, weniger nach Schuld und Verantwortung der Vätergeneration, wolle nicht die Familiengeheimnisse erforschen, sondern wolle wissen, mit welchen Folgen Familiengeschichte verformt, verdrängt oder vergessen wurde. Was die vier Texte anbelangt, so kann man Eigler zustimmen. Wenn wir den Blick aber weiten, so wird sichtbar, dass weiterhin nach den Geheimnissen gesucht wird. Sei es bei Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters, bei Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, Dagmar Leupolds Nach den Kriegen oder Wibke Bruhns’ Meines Vaters Lan – Geheimnissen spüren die Erzähler überall nach. Nur wird – selbst in literarisch einfacheren Texten wie Gisela Heidenreichs Das endlose Jahr oder Monika Jetters Mein Kriegsvater – die Recherchebewegung kommentiert. Hier zeigt sich vielleicht ein minimaler Mangel der Untersuchung: das Textcorpus ist mit vier Texten relativ klein. Vergleiche über diese vier hinaus wären sicher für manche Aspekte hilfreich gewesen.

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Ein Unterschied liege, so Eigler, auch darin, dass die Autoren sich nicht mehr an Ideologien orientieren, die in direkter Verbindung zum Nationalsozialismus stehen. Daher, so vermutet sie, hätten die Autoren einen geschärften Blick für die Verblendungen des 20. Jahrhunderts und dessen Verirrungen und Verwirrungen. Sicher sind Romane abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen wie auch von der Generationenzugehörigkeit ihrer Autoren – ein Angehöriger der dritten Generation hat faktisch keine Möglichkeit, sich an die Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern, er muss entsprechende Schreibverfahren finden, um diese Erinnerungen zu ersetzen. 10 Doch müssen die Autoren sich ebenso, wenn sie schreiben, gewissen Gesetzmäßigkeiten unterwerfen, die das Genre mit seinen Erzählverfahren fordert.

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Weitere Merkmale des Generationenromans nach 1989, so Eigler, sind, dass er sich zwischen Distanz und Reflexion, Empathie und affektiver Annäherung an die Vorfahren bewege. Medialität statt Authentizität, Diachronie statt Synchronie. Brüche, Widersprüche, Diskontinuitäten würden erfragt, wobei zugleich neue Zusammenhänge und Verbindungen durch die erweiterte historische Perspektive gestiftet würden. Dass es dadurch auch zu sehr kuriosen Identifikationen mit den Kriegsteilnehmern bis hin zu Verschmelzungen kommt, zeigt Eigler am Beispiel von Wackwitz (S. 212 ff.). Diesem sitzt sie aber gewissermaßen auf, wenn sie die Identifikation des Enkels mit dem Großvater mit den Worten der Erzählerfigur erklärt. Die Konstruktion solcher Identifikation, aber auch der Aberglaube und die Gefahr, die darinnen stecken, bleiben von ihr unbeachtet. Gerade hier wäre es entscheidend zu fragen, was diese, nicht nur bei Wackwitz, sondern auch bei Medicus, Timm, Bruhns oder Jetter vorkommende Verlängerung des Ichs auf die Vorvätergeneration für die Autoren, aber auch für das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik bedeutet.

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Möglichkeiten und Grenzen
von Gedächtniskonzepten

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Mit ihrer kritischen, konstruktiven und kontrastiven Reflexion auf drei Gedächtniskonzepte 11 sucht Eigler den theoretischen und methodologischen Rahmen für ihre Textanalysen abzustecken. Dabei referiert sie nicht nur, sondern stellt diese immer auch in einen größeren Kontext; sei es, dass sie Pierre Nora heranzieht, Homi Bhaba oder Satya Mohanty, sei es, dass sie auf bestimmte politische Ereignisse und Zusammenhänge verweist.

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Informativ und übersichtlich arbeitet sie die zwar allseits bekannten, aber meist ungenau verwendeten Assmannschen Gedächtnisbegriffe – wie kommunikatives, kulturelles, kollektives Gedächtnis, Speichergedächtnis, Funktionsgedächtnis – heraus. So ist der Blick auf diese durchaus produktiv, zumal Eigler eine kritische Position gegenüber der gesellschaftlichen Verbindlichkeit und Ausschließlichkeit des von Assmann postulierten kulturellen Gedächtnisses einnimmt. Eiglers Kritik betrifft vor allem drei Punkte. Zum einen kritisiert sie bei Assmann die unausgesprochene Annahme einer homogenen Gesellschaft, die auf ein gemeinsames Bildungsgut rekurriere und einen einheitlichen Verstehenshorizont besitze (S. 46 f.). Die Gesellschaft der BRD sei aber offensichtlich nicht homogen, sondern sehr heterogen, multikulturell. Mit dem Bildungsbegriff verbunden ist zweitens der Machtanspruch. Wissen und Bildung würden im Gedächtnisbegriff von Assmann unbemerkt eine unheilige Allianz eingehen und ganze Schichten der Gesellschaft damit ausschließen. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass auch das kulturelle Gedächtnis instrumentalisiere und verzerre, gerade wenn es andere Kulturen marginalisiere (S. 47). Diese Kritik an Assmann ist vielleicht etwas zugespitzt – zumal am Familientisch, in der Schule oder auf der Straße durchaus existenziell spürbar sein kann, was es bedeutet, wenn ein kulturelles Gedächtnis nicht mehr allgemein verbindlich ist, wenn Normen und Werte aufgehoben werden zugunsten einer scheinbar demokratischen Vielstimmigkeit –, aber sie regt an, mit diesen Diskrepanzen umzugehen.

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Eigler plädiert für eine Öffnung des national orientierten Gedächtnisbegriffs, um die ethnisch und kulturell heterogene Realität in der neuen Bundesrepublik auch im Gedächtnis zu verankern. Das erläutert sie an dem umfassenden Projekt Deutsche Erinnerungsorte von Francois und Schulze, 12 in dem das »Neuentstehende« (meint: Deutsch-Türken, Spätaussiedler, Kriegsflüchtlinge und Asylanten) von den Herausgebern bewusst ausgelassen werde.

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Diese Auslassung kritisiert Eigler und fordert einen neuen Begriff von Kultur und kulturellem Gedächtnis aufgrund der verstärkten Migration und der Globalisierung der Wirtschaft. (S. 50 ff.).

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Mit Vittoria Borsò wiederum versucht sie, die konstitutive Kraft der Medien für das Gedächtnis zu fassen. 13 Schrift, Orte, Bilder, Körper sind demnach nicht nur Träger von Inhalten, sondern produzieren diese. Dieser »bedeutungskonstituierende Aspekt« der Medien spielt bei der Assmannschen Gedächtnistheorie kaum eine Rolle. »In der Logik von identitäts-konstituierenden Gedächtnisdiskursen [liegt es], dass das (sprachliche) Medium übersprungen bzw. auf eine repräsentierende Funktion reduziert wird.« (S. 55) Da also in literarischen Medien Schreiben als Prozess inszeniert anstatt als Resultat präsentiert werden kann, besteht die Möglichkeit, dass das Erzählte nicht einer Identitätslogik und Sachzwängen unterliegt (S. 56). »In Brüchen und Leerstellen von Narrativen«, so Eigler, »können so Erfahrungen von Diskontinuität und die Spuren traumatischer Ereignisse artikuliert werden« (S. 57).

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Etwas unklar bleibt in der konstruktiven, nachdenklichen und auch aspektreichen Untersuchung des Verhältnisses von Gedächtnistheorien und literarischen Erinnerungsdiskursen, wie die Gegenlektüre stattfinden soll, wie der Subtext entschlüsselt werden könnte, wie narrative Verfahren – außer durch Leerstellen – Gegensinn oder Nicht-Sinn erzeugen können. Hier wären Ergebnisse aus der Narratologie von Nutzen gewesen, wie sie zum Beispiel Wolf Schmid zuletzt in seinem Buch Elemente der Narratologie vorgelegt hat. 14 Wird beispielsweise mit narrativen oder thematischen Äquivalenzen gearbeitet und so ein Gegentext zur erzählten Geschichte erzeugt, oder werden Figuren intern fokalisiert, schließt der Erzähler einen Pakt mit ihnen, kann so Positionen verstärken oder vermindern und so weiter.

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Multi-Ethnisches Gedächtnis

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Besonders aufschlussreich ist Eiglers Analyse zu Zafer Senocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft, dem dritten Teil einer Tetralogie, auf die ich genauer eingehen möchte. 15 Denn mit dieser Analyse wird vielleicht am deutlichsten, was Literatur leisten kann, was sie vielleicht für die Gesellschaft und ihr – notwendigerweise – festgelegtes kulturelles Gedächtnis an Varianten und Spielräumen bietet. 16

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Der Roman verknüpft sehr unterschiedliche Gedächtnisdiskurse, indem er die türkische und armenische Geschichte wie die jüdische und deutsche übereinander legt und in seinen Figuren überblendet.

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Zafer Senocak hat eine westdeutsche bildungsbürgerliche Sozialisation durchlaufen (S. 228), kann aber durch seine türkische Herkunft eine kritische Position gegenüber der deutschen Erinnerungspolitik einnehmen. So liest Eigler Gefährliche Verwandtschaft als einen Roman, der das offizielle kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik und ethnisch homogene Vorstellungen von Identität durch eine türkisch-deutsch-jüdische Familiengeschichte unterläuft. Unter Stichpunkten wie »Ent/Tabuisierung von Familiengeschichte«, »Historiographie und literarische Fiktion«, »Hybridität und Interkulturalität« analysiert Eigler den Roman. Dabei stellt sie konkurrierende Leseweisen nebeneinander und versucht nicht, diese aufzulösen oder gegeneinander auszuspielen. Das drückt sich auch im sorgfältigen Umgang mit der Sekundärliteratur aus, die sie ausführlich, manchmal auch zu ausführlich, mit einarbeitet.

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Der Roman ist von zwei gegenläufigen Tendenzen gekennzeichnet: erstens versucht der Erzähler, Sascha, eine stabile Identität zu gewinnen, indem er seine Familiengeschichte erforscht – »Ich musste sein Geheimnis lüften, um zu mir selbst zu kommen« (S. 78) –, zweitens parodiert der Erzähler gerade die gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen und Identitäten (S. 64). Denn Sascha, blond und blauäugig, ist Sohn einer deutschen Jüdin, die den Holocaust in Israel überlebte. Aber dieses jüdische Erbe interessiert ihn – unerwartet und gegenläufig zur allgemeinen Fixierung auf die Opfer – nicht. Saschas Vater ist Türke. Doch der Sohn spricht kein türkisch, kann mit dem Vater nicht kommunizieren. Kommunikationslosigkeit ist vorprogrammiert. Der Erzähler ist auf Dokumente, Archive und Erfindungen angewiesen. Zudem sterben die Eltern einen plötzlichen Unfalltod. Diese Konfiguration ist klassisch für den zeitgenössischen Familienroman – wir kennen sie aus den Texten von Dagmar Leupold, Uwe Timm, Wibke Bruhns, Thomas Medicus oder Monica Jetter. Kinder oder Enkel, die die Geschichte der Eltern oder Großeltern erforschen wollen, können dies nicht mehr über direkte Befragung ihrer Angehörigen. An die Stelle des lebendigen Gedächtnisses rücken die Erbschaften. Über familiäre oder kulturelle Archive muss die private Geschichte erforscht und durch Erfindungen angereichert werden. Diese Generation ist auf Rekonstruktion und Recherche angewiesen. Eigler weist dieses Phänomen bei den von ihr untersuchten Romanen nach und betont auch, dass es weniger auf die Verbrechen selbst als auf den Umgang des Enkels mit der Schuld des Großvaters ankomme, zeigt aber nicht das Problematische an der Verschiebung. Wird der intergenerationelle Dialog in die Imagination verlegt und dadurch medialisiert, so kann er zwar offen legen, was im direkten Gespräch nicht möglich ist, kann eventuell auch den von Welzer aufgezeigten Harmonisierungstendenzen entgehen, ist aber zugleich auch beliebig aufladbar und instrumentalisierbar für die Belange des Erzählers.

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Saschas Erbschaft nun ist ein Tagebuch des türkischen Großvaters. Dieser Großvater, Anhänger Mustafa Kemals, war an der Deportation der Armenier beteiligt. Das heißt die Figuration des Romans macht deutlich, wie in Sascha mehrere Zugehörigkeiten oder Rollen sich überlagern oder ineinander geblendet werden – eindeutige Zuordnungen sind nicht möglich (S. 93). Damit ist der Roman zugleich eine Kritik an den öffentlichen Erinnerungsdiskursen, die fein säuberlich bis hin zur Absurdität die unterschiedlichen Ereignisse zu trennen suchen.

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Eigler zeigt, wie Senocak in Hinblick auf das kulturelle Gedächtnis ein widersprüchliches Bild entwirft: Einerseits bricht der Roman mit der offiziellen Leugnung des Genozids an den Armeniern, andererseits relativiert und verharmlost er die historische Schuld. Für Eigler liegt dann die Relevanz gerade im Schwanken zwischen Enttabuisierung und Tabuisierung, in der Bezugnahme auf die Opfer (Armenier) und die Täter (Türken). So präge der Roman ein anderes kulturelles Gedächtnis, ein Gedächtnis, dass nicht Identität stifte, sondern Identitätsentwürfe durch die verdrängte, vergessene und verformte Geschichte in Frage stelle (S. 85). Aber nicht nur das: es entstehen auch »transnationale Konstellationen, die Einblicke in Verwerfungen, Tabuisierungen und Entstellungen zulassen – Mechanismen, die den öffentlichen Erinnerungsdiskurs bestimmen«, aber ausgeblendet werden, da sie einer homogenen nationalen Identität zuwiderlaufen (S. 98).

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Eiglers Studie ist nicht nur interessant und aufschlussreich, was die Interferenz zwischen Literatur und Gesellschaft anbelangt, sondern reich auch an Forschung aus Historiographie, Soziologie und Kulturwissenschaften in Bezug auf Formen und Korrekturen des kulturellen Gedächtnisses im Generationenroman um die Jahrtausendwende. Sekundärliteratur wird durchgehend kritisch und konstruktiv verwandt, so dass die Auseinandersetzung mit ihr informativ und anregend zugleich ist. Warum Eigler sich allerdings gerade auf diese vier Familienromane bezieht, ist nicht weiter begründet. Blicke in andere Texte hinein hätten manches Gefundene schärfer konturiert. Auch hätte eine genaue Analyse der Erzähltechniken – die den Zuschnitt, die interne Struktur der jeweiligen Geschichte prägen und so Bedeutung generieren – die Möglichkeiten der partiellen Gegenläufigkeit und Korrektur von literarischen Texten gegenüber dem kulturellen, öffentlichen Gedächtnis deutlicher gemacht.



Anmerkungen

So gibt es beispielsweise derzeit an der Universität Konstanz ein interdisziplinäres Forschungsprojekt von Soziologen und Literaturwissenschaftlern zum Thema »Grenzen des Verstehens. Generationsidentitäten nach 1945« von Aleida Assmann und Bernd Giesen. Im Zusammenhang mit einem Projekt am Hamburger Institut für Sozialforschung erschien von Ulrike Jureit und Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg: Hamburger Edition 2006.   zurück
Vgl. nur die Neuerscheinungen: Harald Welzer / Hans J. Markowitsch: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005. Erscheinen soll im August diesen Jahres von den gleichen Autoren: Warum Menschen sich erinnern können. Weiter sei noch hingewiesen auf: Astrid Erll: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter 2005; Jean-Claude Kaufmann: »Die Erfindung des Ich«. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK 2005 und Werner Siefer / Christiane Weber: »Ich«. Wie wir uns selbst erfinden. Frankfurt/M., New York: Campus Verlag 2006.   zurück
Vgl. vor allem: Konrad Jarausch / Michael Geyer: Shattered Past: Reconstructing German Histories. Princeton, NJ: University of Princeton Press 2003; Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit. München: Hanser 1995.   zurück
Hier zitiert Eigler Guido Knopps Sendungen im ZDF.   zurück
Daniel Levy / Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.   zurück
Andreas Huyssen: Present Past: Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Standford, CA: Standford UP 2003.   zurück
Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M.: Fischer 2002.   zurück
Angela Keppler: Tischgespräche: über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994.   zurück
Ansgar Nünning: Beyond the Great Story: Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistorischer Reflexion. Anglia 117.1 (1999), S. 15–48, hier S. 28.   zurück
10 
Eigler trägt dem auch Rechnung, indem sie die Generationenzugehörigkeit als vorläufige sozialgeschichtliche Verortung versteht und nicht den Text mit dieser eins zu eins verrechnet.   zurück
11 
Sie bezieht sich vornehmlich auf das von Aleida und Jan Assmann entwickelte Gedächtniskonzept und hier im besonderen Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999; aber auch: Etienne Francois / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München: Beck 2001; Vittoria Borsò / Gerd Krumreich / Bernd Witte (Hg. ): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001.   zurück
12 
Die drei Bände umfassen mehr als 2000 Seiten und 110 Einzelbeiträge. Konzipiert sind sie nach dem Projekt von Pierre Nora: Les lieux de mémoire. 3 Bde. Paris: Gallimard 1984.   zurück
13 
Borsò wiederum rekurriert vor allem auf Roland Barthes Begriffe von écriture und scripta.   zurück
14 
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin: de Gruyter 2005.   zurück
15 
Der Mann im Unterhemd, 1995; Die Prärie, 1997; Der Erottomane. Ein Findelbuch, 1999.   zurück
16 
Ich bin insgesamt skeptischer gegenüber dem Verzicht auf Homogenität, was das kulturelle Gedächtnis anbelangt, da Verbindlichkeit im weitesten Sinne gerade Grundlage desselben ist. Anderes, Fremdes kann nur anerkannt und aufgenommen werden, wenn eine gewisse Sicherheit innerhalb der eigenen Identität vorhanden ist. Unterschiede müssen anerkannt werden, Grenzen auch und nicht verwischt aus lauter Liebe zu einer Multikulturalität.   zurück