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Über Gott und die Welt

Zur neuen Ausgabe, Übersetzung und Kommentierung des ‚Millstätter Physiologus’

  • Christian Schröder (Hg.): Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar. (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 24) Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 388 S. Broschiert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-8260-2736-1.
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Als einen der »erfolgreichsten Texte der Weltliteratur« preist der Klappentext von Christian Schröders Neuausgabe und Kommentierung des Millstätter Physiologus seinen Inhalt an. Wenngleich diese Formulierung allzu plakativ ist und sicherlich kaum auf die Millstätter Fassung angewendet werden kann, ist dem Phänomen ›Physiologus‹ doch seine Wirkmächtigkeit nicht abzusprechen: Über 400 erhaltene Handschriften zeugen von seiner Verbreitung quer durch Europa. 1

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Zu einer der deutschsprachigen Fassungen, dem ›Millstätter Physiologus‹ (MPhys) liegt seit 2005 eine neue Textausgabe von Christian Schröder vor, der sich schon im Verfasserlexikon den Physiologus-Traditionen gewidmet hatte. 2 Diese neue Ausgabe bietet außer dem Text eine Übersetzung und Kommentierung der Millstätter Fassung und könnte gerade dadurch die bisher maßgeblichen Editionen durch Friedrich Maurer 3 sinnvoll ergänzen.

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Zu Datierungs- und Rezipientenfragen:
Perspektiven differenzieren

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In seiner ausführlichen Einleitung (S. 11–59) behandelt Christian Schröder Fragen zu Entstehung wie Datierung der Millstätter Fassung, beschreibt deren Modernisierungstendenzen (vor allem bei der Reimbildung), die Zusätze im Vergleich zur Wiener wie auch zur lateinischen Dicta-Version und widmet sich in einem breit angelegten Abschnitt der Auslegungsmethodik im Physiologus. Dieses letzte Kapitel zur christlichen Exegese der antiken Tierlehre ist eine gelungene kompakte Einführung in die Methodik der allegorischen Deutung: Es zeigt die mittelalterlichen Zusammenhänge von naturkundlichem Wissen und dessen heilsgeschichtlicher Bedeutung beispielhaft anhand zweier Abschnitte des Millstätter Physiologus, die in einer Art »Allegoresereflexion« (S. 47) gerade auch Probleme der Auslegung widerspiegeln (etwa wie die ›unreinen‹ / schlechten Eigenschaften von manchen Tieren bei ihrer Auslegung auf das Göttliche hin umgedeutet werden). Abgerundet wird das Allegoresekapitel durch einen grundlegenden Forschungsüberblick (S. 40–43).

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Aus den restlichen Kapiteln der Einleitung sollen hier nur zwei Problembereiche herausgegriffen werden: die von Schröder postulierte Spätdatierung des Millstätter Physiologus und seine Annahmen über das intendierte Publikum.

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»Der MPhys ist ein literarisches Werk aus der Zeit um 1200« (S. 39). Mit dieser späten Datierung der Millstätter Fassung grenzt sich Schröder deutlich von der bisher vermuteten Entstehung in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts 4 ab und lässt die Bezeichnung ›frühmittelhochdeutscher Physiologus‹ nur mehr »der Deutlichkeit halber« (S. 15, Anm. 1) bestehen. Als Begründung dient ihm die heute allgemein geltende Datierung der den MPhys unikal überliefernden Handschrift M auf ca. 1200 zusammen mit der Annahme, der Bearbeiter der Millstätter Version habe als direkte Quelle den Wiener Prosa-Physiologus, also die Handschrift W, benutzt, 5 deren Text modernisiert und in Reime gesetzt. Seine These untermauert Schröder durch Beobachtungen zur Reimbildung, Negation, Vokalabschwächung und schließlich zur Bewertung der Frau, die für eine Nähe des Millstätter Physiologus zur deutschsprachigen Literatur um / nach 1200 sprächen.

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Es ist durchaus zu bezweifeln, ob Schröders Argumentation für diese von dem bisherigen Forschungskonsens abweichende Spätdatierung einer kritischen Überprüfung standhalten kann.

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Christian Schröder glaubt mit seiner Datierung den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und nimmt dafür einige Pauschalisierungen in Kauf. Mögliche Kritikpunkte an seiner Methodik wären:

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1) Die Gleichsetzung der Entstehungszeit der Handschrift mit der des Textes ist in der Regel selten (nämlich bei autographen Hss.) aufrecht zu erhalten. Diesbezüglich wäre innerhalb der Millstätter Sammelhandschrift der Physiologus-Teil (fol. 84v–101r) dann auch die Ausnahme, denn alle anderen sieben Texte der Sammlung werden in der Forschung eindeutig früher datiert (zwischen 1060 und 1150). 6 Da der Physiologus auch in der Wiener Handschrift ein Überlieferungskonglomerat mit der Genesis und der Exodus bildet, scheint es wenig überzeugend, ihn für die Millstätter Hs. unabhängig von diesen zu datieren.

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2) Generell muss dem Charakter von M als Sammelhandschrift wesentlich mehr Rechnung getragen werden, gerade auch was die Bestimmung der Handschriftenverhältnisse betrifft. Hier nimmt der Autor eine direkte Abhängigkeit des Millstätter vom Wiener Physiologus an und schließt die bisher postulierte gemeinsame Vorlage *WM 7 weitgehend aus, »aus dem methodischen Grund, die einfachste Erklärung zu bevorzugen« (S. 37). Nicht immer ist die einfachste Erklärung aber auch die beste, und so bleiben einige Aspekte der Textentstehung und -überlieferung von M ungeklärt:

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• Da Schröder davon ausgeht, dass der Schreiber von M nicht mit dem Bearbeiter des MPhys identisch ist, 8 müsste er eigentlich eine (eventuell nicht handschriftliche) Zwischenstufe (auf Wachstafeln o.ä.) zwischen dem Wiener und dem Millstätter Physiologus annehmen. Dazu gibt es keine näheren Erläuterungen.

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• Von einer direkten Abhängigkeit des Millstätter vom Wiener Physiologus auszugehen, bringt das Problem mit sich, dass zumindest für die Millstätter Exodus dann eine andere Vorlage angenommen werden muss als für den Physiologus, auch wenn diese in W wie in M eine Überlieferungsgruppe bilden: Die Millstätter Exodus ist nämlich vollständig, während die Wiener Version nach 1480 Versen abbricht. Hier wäre die ›einfachste Erklärung‹ wohl doch weiterhin die Annahme einer gemeinsamen, von W nur unvollständig ausgeschöpften Vorlage von W und M, was auch die gleich angelegten Bildräume des Wiener wie des Millstätter Physiologus erklären würde, die nur in Handschrift M vollständig illustriert wurden. 9

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Ähnlich wie bei den Datierungsfragen greifen auch Schröders Überlegungen zur Leser- / Hörerschaft des Millstätter Physiologus teilweise zu kurz. Im Unterkapitel »Zur Bewertung der Frau« (S. 23–25) stellt er fest, dass zu den Modernisierungstendenzen des MPhys auch eine Umbewertung der »Einstellung gegenüber der Frau« (S. 23) gehört. Dies soll anhand mehrerer Textstellen deutlich werden:

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Im Vipernkapitel wurde durch Rasur das weibliche und männliche Personal- wie Possessivpronomen vertauscht, so dass die negative Rolle (es geht immerhin um das Abbeißen des Kopfes) nun dem Vipernmännchen und nicht mehr dem Weibchen zugeschoben wird. Dabei handelt es sich natürlich um eine interessante Modifikation des Textes; ob man daraus aber schon auf seine »pädagogische[...] ›Reinigung‹« (S. 24) zugunsten einer (wohl sozialhistorisch verstandenen) Umbewertung der Frauenrolle schließen darf, ist fraglich. Zumindest müsste man, da die Textänderungen Rasureinträge sind, berücksichtigen, dass es sich dabei anstelle einer Neubewertung seitens des Bearbeiters auch um Gebrauchsspuren späterer BenutzerInnen handeln könnte.

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Zur zweiten Textstelle: Während der Wiener Physiologus seine Rezipienten vor dem Genuss von wine unt von wibe (WPhys 9,7) warnt, glaubt Schröder in der Millstätter Umarbeitung zu

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Der wise man enthalt die sinne sinevon ubirigem wine (MPhys 72,1)
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eine deutliche Aufhebung der negativen Bewertung der Frau zu finden. Abgesehen davon, dass diese Änderung wohl schlicht durch die Umarbeitung in Reime zu erklären ist (sinewine), widerlegt der Text selbst die These nur zwei Verse später:

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[...] durch wip unde winvliuset man den lip gereite.
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Die Schlüsse, die aufgrund dieser doch recht punktuellen Textanalysen für den Rezeptionskontext gezogen werden, bleiben zu stark an der Oberfläche und auf den »mittelalterlichen Menschen« (S. 59) im Allgemeinen bezogen. Hier hätte es sich gelohnt, diese Überlegungen institutionengeschichtlich zu unterfüttern und zu untersuchen, inwieweit sich Anhaltspunkte für die Rezeption des Millstätter Physiologus zum Beispiel in einem Frauenkonvent finden ließen.

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Zur Textwiedergabe und Übersetzung:
Rekonstruktionen legitimieren

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Bei Schröders Textabdruck handelt es sich eigentlich nur um eine Wiedergabe des Physiologus-Textes, wie er schon von Friedrich Maurer 1967 herausgegeben worden war.

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Maurer hatte die Texte diplomatisch abgedruckt und ihnen für die Millstätter Fassung synoptisch eine rekonstruierte Strophenfassung gegenübergestellt.

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Diese strophische Fassung legt Schröder seiner Ausgabe zugrunde 10 und übernimmt damit auch Maurers Eingriffe in und Verbesserungen des handschriftlichen ›Originals‹. Dies wäre durchaus vertretbar – Krachers Faksimile der Handschrift 11 ermöglicht ja eine Beschäftigung mit dem exakten Handschriftentext –, allerdings versäumt es Schröder im Gegensatz zu Maurer, die handschriftlichen Lesarten im Apparat zu vermerken. Die Legitimation einer Textrekonstruktion gerade durch die Möglichkeit eines Vergleichs mit der genauen Handschriftenüberlieferung ist somit nicht gegeben. Man muss zusätzlich auf Maurer zurückgreifen.

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Kritisierbar ist weiter auch Schröders Entscheidung, Bibelzitate (abweichend von Maurer) durch Anführungsstriche vom restlichen Text abzusetzen. Diese Hervorhebung sollte, wenn überhaupt, nur der direkten Rede vorbehalten sein; Bibelzitate wären stattdessen zum Beispiel durch Kursivierung passender markiert gewesen.

[25] 

Im Textapparat verzeichnet Schröder Unterschiede zwischen dem Wiener und dem Millstätter Physiologus. Dabei gibt er stets lemmatisierte Varianten an (also z.B. »W sun M sune, S. 62, Apparat zu 3,1). Da in den meisten Fällen evident ist, auf welches Lemma in M sich die Variante aus W bezieht, ist dieses Verfahren redundant.

[26] 

Die Übersetzung des Millstätter Textes, deren Konzeption Schröder im Abschnitt zu »Text und Übersetzung des Millstätter Physiologus« (S. 56) leider völlig unerläutert lässt, ist durchwegs zuverlässig und gelungen. Gerade für die Beschäftigung mit dem Physiologus in der universitären Lehre stellt das einen Gewinn dar.

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Äußerst schade ist es, dass Schröders Ausgabe die Physiologus-Illustrationen der Millstätter Handschrift komplett außen vor lässt. Immerhin handelt es sich dabei um »die früheste deutschsprachige Hs., die in erheblichem Umfang mit Illustrationen versehen ist«. 12 Schwarz-weiß Reproduktionen der Bilder nach dem Faksimile der Millstätter Handschrift, 13 wie sie heute ohne erhebliche Mehrkosten realisierbar gewesen wären, oder auch die Wiedergabe der Umrisszeichnungen nach Karajans Textabdruck 14 hätten als Grundlage für die aktuelle Forschungsdiskussion um Text-Bild-Relationen schon ausgereicht. Die Umschlagsabbildung aus einem Bestiarium des 13. Jahrhunderts steht mit dem Physiologus im Allgemeinen und der Millstätter Version im Besonderen in keinerlei Beziehung und ist diesem Zwecke somit jedenfalls nicht dienlich.

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Kommentar:
Wissen ordnen

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Neben der Wiedergabe und der Übersetzung des Textes bildet dessen Kommentierung in einem »eigenen, ausführlichen Abschnitt« (S. 57) den zweiten großen Teil des Bandes. Dies ist prinzipiell sehr sinnvoll und macht den Wert der neuen Ausgabe aus: Das der Physiologus-Konzeption zugrunde liegende Naturverständnis unterscheidet sich selbstredend deutlich von dem eines heutigen Rezipienten, der folglich einige Zusatzinformationen benötigt, um die Koppelung von Natur- und Heilsgeschichte und deren Autoritätsstiftung im mittelalterlichen Weltverständnis nachvollziehen zu können. Genau hier muss deshalb die Kommentierung ansetzen und die bisherigen Arbeiten zum Physiologus um eine kompakte Kombination von Text und Erläuterung erweitern. Wie der hier vorliegende Kommentar diesen Anspruch zu erfüllen versucht, soll an einem knappen Abriss des Kommentarteils zum Einhornkapitel (S. 174–180) erläutert werden.

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Wie jeder Kommentarabschnitt, beginnt auch dieser mit einem kurzen Überblick über die Tradition des Einhornkapitels und seiner Auslegung in der Textgeschichte des Physiologus. Darauf folgen, untergliedert nach Strophen und innerhalb dieser wiederum nach Versen, Erläuterungen zu Reimbildungen (z.B. S. 174), zum Wortmaterial (ebd.), zur »Rezeption« (S. 174) und Beschreibungen zu den Bilddarstellungen (ebd.). Des Weiteren finden sich Bibelstellenangaben samt Zitaten (z.B. S. 177) neben Erklärungen zur Interpunktion in der Textausgabe, Belegangaben des verwendeten Wortschatzes in anderen mhd. Texten (S. 175), gefolgt von Textvergleichen samt Textabdrucken und sprachgeschichtlichen Analysen (ebd.).

[31] 

Dialektbestimmungen (z.B. S. 178) wechseln sich ab mit lexikalischen Angaben (S. 179) und schließlich mit Erläuterungen zur Auslegungstradition einzelner Tiereigenschaften oder zu theologischen Wissenstraditionen, die mit reichlich Literaturangaben unterlegt sind.

[32] 

Schröder selbst hatte die Aufgabe seines Kommentars darin gesehen, dass dieser »sprachliche Erscheinungen, Dinge, Namen und gedankliche Zusammenhänge erläutern [will]« (S. 57). Gerade in dieser Formulierung ist das eigentliche Problem seiner Kommentierungsmethode verborgen: Sprachliche Eigenschaften sind nicht identisch mit Dingen, Namen können nicht kommentiert werden wie gedankliche Zusammenhänge.

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Während an der Qualität der im Kommentar angegebenen Informationen nicht gezweifelt werden kann – sie bieten eine Fülle detaillierten Wissens und zeugen von einer tiefgehenden Beschäftigung mit den verschiedensten Physiologus-Texten –, muss deren unsystematische Aufbereitung sich Kritik gefallen lassen. Die Gliederung rein »über Strophen, Verse und Wendungen hin zum einzelnen Wort« (S. 57) hat zur Folge, dass in den Absätzen teils stark divergente Aspekte kommentiert werden (also z.B. Belegstellen eines Wortes bei Notker neben textgeschichtlichen Anmerkungen und Erläuterungen zur allegorischen Deutung, S. 175). Der Leser muss sich nun auf die Suche nach der für ihn ausschlaggebenden Information machen und sich entweder an der dargebotenen Menge an zusätzlichem Wissen erfreuen – oder auch an ihr scheitern. Im Kommentar ist also deutlich ein Bedarf an 1) Entlastung und 2) Systematisierung vorhanden.

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Zu 1): Die Übersetzung des Textes macht lexikalische Erläuterungen im Kommentar überflüssig. Ausnahmen wären lediglich die wenigen Fälle, in denen die Übersetzung begründet und legitimiert werden muss. Unnötig sind außerdem Bestimmungen der Dialektmerkmale im Kommentar, sinnvoller wäre ein Kapitel zur dialektalen Einordnung des MPhys innerhalb der Einleitung gewesen. Angaben zur Interpunktionssetzung im Textabdruck sollten nur im Apparat, nicht auch im Kommentar stehen. Zu überlegen wäre auch, ob für Bibelzitate nicht eine reine, im Textapparat unterzubringende Fundstellenangabe ohne das komplette Textzitat ausreichend wäre.

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Zu 2): Eine Gliederungsmethodik für die verbleibenden grundlegenden Kommentierungen könnte dann über folgende Ebenen aufgebaut werden:

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Auf einer ersten lexikalischen Ebene werden sprachhistorische Analysen vorgenommen und Wortbelege wie auch Reimparallelen in weiteren mhd. Texten gesammelt.

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Auf einer textgeschichtlichen Kommentarebene werden Abweichungen der Millstätter Fassung von anderen Physiologus-Versionen, beispielsweise Änderungen des Strophenbestandes oder der Ausdeutungsmethodik, anhand von Textabdrucken nachvollziehbar gemacht. Diese Kommentarebene ›textgeschichtlich‹ zu nennen, beugt auch der Verwirrung vor, die durch die unsystematische Bezeichnung »Rezeption« sowohl für die (Weiter-)Verarbeitung einzelner Themenkomplexe innerhalb der Physiologus-Tradition (in dieser Verwendung S. 163, 165, 174, 180 u.ö.) wie auch außerhalb dieser für deren Übernahme in andere Textsorten (S. 158, 168) entsteht.

[38] 

Eine dritte Kommentarebene sollte naturkundliche wie auslegungsgeschichtliche Aspekte behandeln. Hierher würden Ausführungen zu den zoologischen Wissensständen und zu deren allegorischer Deutungstradition gehören, die der Millstätter Physiologus reflektiert.

[39] 

Eine letzte Ebene könnte eine solche der Rezeptionsgeschichte sein, in der Schröder die reiche Bandbreite der mittelalterlichen Rezeption von Wissenstraditionen des Physiologus in vielfältigen Textbelegen eindrucksvoll zu demonstrieren weiß (vgl. dazu nur die umfangreiche Liste der verwendeten lat. und mhd. Werke, S. 351–359).

[40] 

Eine derart systematisierte Kommentierung für jeden Tierabschnitt beziehungsweise für jede Strophe, die innerhalb der einzelnen Ebenen nach Versen untergliedert ist, hätte nicht nur den Vorteil, dass sie die gewünschten Informationen leicht zugänglich machen würde, sondern auch, dass sie bei einem Vergleich der Kommentierung verschiedener Abschnitte auf einen Blick zu erkennen gäbe, auf jeweils welcher Ebene wie viel Kommentarbedarf besteht, etwa welches Kapitel eine außergewöhnlich breite Rezeption in anderen Texten aufzuweisen hat, oder zu welchem Abschnitt eine vermehrte textgeschichtliche Umarbeitung stattgefunden hat.

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Einige Formalia zum Schluss: Man hätte dem Band durchaus eine gründlichere Endredaktion gewünscht. Da diese scheinbar unterblieben ist, sind etliche Mängel (falsche Autorennamen, Tippfehler im Literaturverzeichnis, Wiederholungen beinahe identischer Sätze, aber auch unvollständige Sätze) festzustellen. Leserfreundlicher wäre es schließlich gewesen, zitierte Autoren mit Vor- und Nachnamen oder aber mit kursiv oder in Kapitälchen gesetzten Nachnamen anzuführen. Dass dies nicht geschehen ist, führt zum Beispiel im Kommentarteil zum Einhornkapitel zu Irritationen. Hier beschreibt Schröder die Bilddarstellung des Tieres Einhorn und zitiert im Anschluss daran einige textgeschichtliche Überlegungen des Autors (Jürgen W.) Einhorn: »Einhorn vermutet den Einfluss des dormiens aus BPhys [...]« (S. 176). Es bedarf schon einiger (auslegender) Deutung seitens des Lesers, um hier kommentiertes Tier und zitierten Autor zu unterscheiden.



Anmerkungen

Allgemein zur Verbreitung der einzelnen Physiologus-Fassungen vgl. Christian Schröder: ›Physiologus‹. In: Verfasserlexikon Bd. VII, Sp. 620–634.   zurück
Christian Schröder (Anm. 1). Zu den mittelalterlichen Physiologus-Versionen vgl. v.a. Nikolaus Henkel: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976.   zurück
Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hg. von Friedrich Maurer. Bd. I. Tübingen 1964, S. 169–245; Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus). Hg. von Friedrich Maurer (ATB 67) Tübingen 1967, S. 2–73.   zurück
So z.B. Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050 / 1060–1160 / 1170). [Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. I,2] Königsstein / Ts. 1986, S. 78.   zurück
»Der MPhys ist also direkt abhängig von WPhys [...]«, S. 38.   zurück
›Millstätter Genesis‹: 1060–1080, vgl. Ursula Hennig: ›Altdeutsche Genesis‹, in: VL Bd. I, Sp. 281; ›Altdeutsche Exodus‹: in den ersten Jahrzehnten des 12. Jh.s, vgl. Ursula Hennig: ›Altdeutsche Exodus‹, in: VL Bd. I, Sp. 276; ›Vom Rechte‹: um 1150, vgl. Peter Ganz: ›Vom Rechte‹, in: VL Bd. VII, Sp. 1054; ›Die Hochzeit‹: um 1160, vgl. Peter Ganz: ›Die Hochzeit‹, in: VL Bd. IV, Sp. 77; ›Millstätter Sündeklage‹: 1100–1130, vgl. Edgar Papp: ›Millstätter Sündenklage‹, in: VL Bd. VI, Sp. 539; ›Paternoster‹: 1140–1150, vgl. Edgar Papp: ›Auslegungen des Vaterunsers‹, in: VL Bd. I, Sp. 555; ›Himmlisches Jerusalem‹: um 1140, vgl. Christel Meier: ›Das himmlische Jerusalem‹, in: VL Bd. IV, Sp. 40.   zurück
So z.B. Fidel Rädle: ›Millstätter Handschrift‹, in: VL Bd. VI, Sp. 531–534, hier Sp. 533, Nikolaus Henkel (Anm. 2), S. 80–82 und im Verfasserlexikon übrigens auch noch Christian Schröder (Anm. 1) selbst, Sp. 630.   zurück
»[...] der Bearbeiter, der wohl vom Schreiber zu trennen ist [...]«, S. 38.   zurück
Dazu v.a. Hella Voss: Studien zur illustrierten Millstätter Genesis. München 1962, S. 45.   zurück
10 
Vgl. S. 56: »Text und Übersetzung des Millstätter Physiologus«.   zurück
11 
Alfred Kracher: Millstätter Genesis und Physiologus Handschrift. Vollständige Faksimileausgabe der Sammelhandschrift 6/19 des Geschichtsvereins für Kärnten im Kärntner Landesarchiv. Bd. I: Kodikologische Beschreibung. Bd. II: Faksimileausgabe. Klagenfurt, Graz 1967.   zurück
12 
Fidel Rädle (Anm. 7), hier Sp. 531.   zurück
13 
Vgl. Alfred Kracher (Anm. 11).   zurück
14 
Theodor G. Karajan: Millstätter Physiologus. In: Deutsche Sprachdenkmale des 12. Jahrhunderts. Wien 1846, S. 73–106.   zurück