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Ich bin viele

Ulrike Bethlehem setzt Artus' Königin Guinevere als dreidimensionales Puzzle neu zusammen - und stellt fest, dass die Königin eine literarische Figur sei,
die es nie gab

  • Ulrike Bethlehem: Guinevere - A Medieval Puzzle. Images of Arthur's Queen in the Medieval Literature of England and France. (Anglistische Forschungen 345) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2005. X, 441 S. 25 Tab., 14 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 3-8253-5012-6.
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Wer ist Königin Guinevere, fragt Ulrike Bethlehem am Ende ihres Buches. Denn abgesehen von ihrer Verbindung zu König Artus zeichne sich Guinevere durch ihre Eigenschaftslosigkeit aus. Äußerlich sei sie ein unbeschriebenes Blatt – nur eine Quelle überliefert ihr blondes Haar. Und wäre da nicht die Krone, ginge sie glatt als Hofdame unter vielen durch. Guinevere, sagt Bethlehem, ist eine literarische Figur, die niemals existierte. Sie sei viele und zugleich niemand. Denn über die einzelnen Entwürfe ihrer literarischen Schöpfer hinaus sei aus ihr nie richtig was geworden.

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Und doch lohnt sich ein genauer Blick auf die Königin. Ulrike Bethlehem geht der Darstellung der Königin in französischen und englischen Quellen nach. Sie sucht nach der Funktion der literarischen Figur in Texten und in der Tradition, die mit Geoffreys von Monmouth Historia Regum Britanniae (zirka 1136) beginnt und für sie mit Sir Thomas Malorys Le Morte Dathur (1470) endet.

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Ein unvoreingenommener Blick
auf die Quellen

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Bethlehem will nicht Guineveres Ehre retten, kommt nicht mit kulturtheoretischen Ansätzen daher und sucht auch keine Wiedergutmachung aus feministischer Sicht. Daran hatten bereits amerikanische Akademikerinnen in den neunziger Jahren großes Interesse, wie Bethlehem in ihrer Forschungsübersicht zeigt. Was sie macht, ist eine genaue Quellenanalyse mit einem Blick auf intertextuelle Verweise. Sie sucht Hinweise auf die Existenz Guineveres, auf ihr Aussehen und ihren Charakter, wie die Königin innerhalb von Personenverbänden handelt und spricht und wie sie sich in höfischen Zeremonien bewegt. Dabei geht sie auch auf Rhetorik, Stil und Erzähltechniken der sehr unterschiedlichen Quellen ein.

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Das ist, wie sie sagt, ein unvoreingenommener Blick auf die Königin, der sich von früheren Untersuchungen unterscheidet. Sie kritisiert auch, dass sich diese Studien auf immergleiche Quellen und auf die Dreiecksbeziehung Artus-Guinevere-Mordred oder Artus-Guinevere-Lancelot beziehen. Einseitigkeit und Generalisierungen, die Konzentration auf das Ehebruchmotiv und die Entführung Guineveres führten so zu einem verzerrten Bild der Königin – als notorische Ehebrecherin und als Entführungsopfer. Sie sei, zitiert Bethlehem hier, bekannt als »lady very much subject to the misfortune of being run away with« (S. 9). All das habe bisher nicht dazu beigetragen, die Eigenschaften der Figur zu erfassen. Oder versuchte man der Königin gerade mit Stereotypen eine Gestalt zu geben? Wie schwer das ist, sagt schon ihr walisischer Name, der so viel heißen mag wie »Weißes Phantom«.

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Jedem Dichter
seine Königin

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Wer also ist Guinevere? Bethlehems wohl wichtigstes Ergebnis ist, dass die Königin keine gleich bleibende Figur in der arthurischen Tradition ist. Sie lässt sich nicht fassen, nicht einmal in ein und demselben Werk, und lässt sich nicht auf Stereotypen wie »wicked queen« oder »tragic lover« reduzieren. Die Dichter des Mittelalters nutzten sie für ihre Zwecke, ohne eine wirkliche Tradition schaffen zu können, die über ihr Werk hinaus wirkte. Bethlehem schreibt: »The impression that both the French and the English medieval Arthuriana seem to culminate in summary cycles is deceiving, for none of the cycles represents a characterization that is valid for more than its limited time, space, or the taste of its author.« (S. 411)

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Und doch gibt es Eigenschaften, die der Königin auf ihrem langen Weg durch die Literaturgeschichte zugeschrieben wurden. Ein Weg, der aus einer passiven Königin eine zentrale Figur der arthurischen Welt werden ließ. Guinevere, sagt Bethlehem, ist immer dann am stärksten, wenn ihre privaten Verbindungen, also ihre Liebe zu Lancelot, zurücktreten. Dann ist sie die ideale, mächtige und aktive Königin am Artushof. Die französischen Romane zeigen sie meist als vorbildliche Herrscherin in einer höfischen Welt. Später, wenn der Gral interessant wird, versehen die Dichter sie mit religiösen Attributen. Die englischen Autoren, die die Tradition aus Frankreich wieder übernehmen, sehen Guinevere entweder als gute oder böse Königin. Sie lehnen sie ab oder feiern sie als königliches Vorbild. Das geht einher mit einem wachsenden Interesse am Individuum. So wird Guinevere zur Ikone, zur privaten und nationalen Identifikationsfigur.

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Über sechzig Quellen wertet Bethlehem aus – lateinische und volkssprachige Chroniken sowie höfische Romane aus Frankreich und England – von Geoffreys Historia bis John Hardyngs Chronicle from the firste begynnyng of Englande, von Robert Bikets Lai du Cor über die Romane Chrétiens de Troyes und die Vulgataversion bis zu Gérard d’Amiens Escanor, vom anonymen Of Arthour and of Merlin über Sir Gawain and the Green Knight bis zu Malorys Morte. Zahlreiche Abbildungen ergänzen diese Quellen und werden in die Analyse mit einbezogen.

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Ein Spiegel
zeitgenössischer Werte

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Bethlehem schreibt sehr analytisch. Sie setzt den Inhalt der Werke größtenteils voraus und verliert sich nicht in Nacherzählungen. In ihrem positivistischen Ansatz wertet sie Fundstellen aus, handelt sie kompakt ab und ordnet die Züge der Figur in ein Gesamtbild ein – soweit dies überhaupt möglich ist. Häufig stellt sie ihre Ergebnisse in Schaubildern dar, die im Stoff- und Motivdickicht eine wirkliche Hilfe sind. Manchmal allerdings siegt hier der Stolz der Sammlerin über die Aussagekraft der Schaubilder, besonders in Übersichten zur Forschungsliteratur zur arthurischen Stoff- und Motivgeschichte.

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Das Ergebnis: Guinevere ist eine literarische Figur ohne Biografie. Gerade deshalb konnte sie den Dichtern als Spiegel zeitgenössischer Werte dienen. Sie bot eine immer neue Fläche für Erwartungen und Erfindungen, für positive oder negative Eigenschaften. Im Schlusswort fasst Bethlehem die wenigen biografischen Stationen Guineveres zusammen und entwirft das Bild einer Kristallkugel, die Geoffrey von Monmouth ins literarische Feld gerollt hat. Eine Kristallkugel, die die Königin in den Farben und Formen zeigt, die der Betrachter sehen möchte. Und sieht Guinevere einmal selbst hinein, wird sie feststellen: »Ich bin viele.«