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Queere Polemik:

Lee Edelman wider den 'Reproduktiven Futurismus'

  • Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive. Durham, NC / London: Duke University Press 2004. 208 S. 61 Abb. Paperback. USD 21,95.
    ISBN: 0-8223-3369-4.
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Reproduktiver Futurismus

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Wenn Lee Edelman sein Auftakt-Kapitel mit »The Future is Kid Stuff« überschreibt, ist das eine in ihrer scheinbaren Verharmlosung irreführende Formulierung. Denn nichts an ihr bereitet auf die Radikalität der polemischen Thesen vor, die hier aufgefahren werden. Um es gleich vorweg zu nehmen: In der Ideologie der heteronormativen Gesellschaft ist das KIND der Signifikant einer für das Subjekt immer schon verlorenen Erfahrung der Ganzheit, die als gesellschaftliches Phantasma in die Zukunft projiziert bzw. als Zukunft entworfen wird. Was der Entwurf verdeckt, ist, daß diese Zukunft niemals eintritt.

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Edelman schreibt »Child« in seinem Text meist groß und markiert damit, daß nicht primär von ›echten‹ Kindern, sondern vom Kind als einem ideologisch aufgeladenen Zeichen für die Zukunft von Gesellschaft die Rede ist. 1 Der soziale Verbund, der ›erfüllt sein‹ nicht im Präsens, sondern nur im Futur zu konjugieren erlaubt und damit eine ewige Verschiebung vorprogrammiert, benutzt das KIND als Requisit, als fetischisierte Figuration einer säkularen Theologie, die einerseits kollektiven Sinn stiftet und gleichzeitig mit formt, was überhaupt unter ›Sinn‹ verstanden wird. Sich diesem durch sexuelle Reproduktion perpetuierten Futurismus zu verweigern, ist, laut Edelman, Aufgabe all derjenigen, die sich selbst – schwul oder nicht, lesbisch oder nicht – als queer bezeichnen. Sein Appell: »insist that the future stop here« (S. 31).

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Edelmans Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß eine Position, die sich explizit gegen das KIND richtet, eine politisch unmögliche ist. Als Beispiel wird mit »We’re fighting for the children. Whose side are you on?« (S. 2) der Slogan einer Anti-Abtreibungskampagne zitiert, dessen Rhetorik nur die Positionierung auf einer Seite, nämlich der für ›die Kinder‹ / für ›die Zukunft‹ / für ›das Leben‹ zuläßt. Ein Argument von No Future ist, daß »children« durch eben solche ideologischen Möbiusschleifen für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Dadurch werde unsichtbar gemacht, daß es eigentlich nicht um Kinder als Individuen gehe, die eventuell zu schwulen, lesbischen, queeren Erwachsenen werden. Vielmehr gehe es um KINDER – als Signifikanten –, um die Mogelpackung der ›Einheit des Subjekts mit sich selbst‹ – als Signifikat – und um den reproduktiven Futurismus – als Narrativ der Bedeutungsstiftung, durch die der Riß im Subjekt angeblich ›vernäht‹ 2 werden soll.

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Nimmt man nun die von Edelman vorgeschlagene Position ein, so steht man gegen ›die KINDER‹ und die niemals eintretende Zukunft, die sie repräsentieren, und für eine in der Gegenwart eingelöste, die gesellschaftliche Ordnung potentiell in ihren Grundfesten bedrohende, weil von jeder Reproduktionsabsicht abgetrennte Lust: »the fatal lure of sterile, narcissistic enjoyments understood as inherently destructive of meaning and therefore as responsible for the undoing of social organization, collective reality, and, inevitably, life itself« (S. 13).

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Verstörend queer

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Queer 3 ist, auch für Edelman, nicht als Basis einer ›authentischen‹ oder irgendwie essentiell gedachten Identität zu verstehen. Statt dessen bezeichnet es die rein strukturelle Funktion des Durchquerens, Kreuzens, Durchstreichens und / oder der Störung im allgemeinen und der heteronormativen Ordnung bzw. der durch sie produzierten Identitäten im besonderen.

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Verstörend wirkt dieser Appell gleich in drei Richtungen. Zum einen tritt Edelman all jenen Gay / Lesbian-Rights-Aktivisten empfindlich auf die Zehen, die seit Jahrzehnten dafür kämpfen, Kinder adoptieren, bekommen und erziehen zu dürfen. Denn dieser Gruppe unterstellt No Future schlicht Kollaboration mit dem feindlichen System.

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Zum anderen irritieren Edelmans Thesen in ihrem Verhältnis zum Gedankengut der politischen Rechten in den USA. Denn die Strategie von No Future ist es, Angstphantasien der Konservativen aufzugreifen und emphatisch dazu aufzufordern, sie als Handlungsanweisungen zu lesen. So läßt Edelman auf ein Zitat des homophoben rechten Politikers Donald Wildmon die Aufforderung folgen, gerade dessen apokalyptisch-paranoide Vorhersagen wahr werden zu lassen. Wildmon: »Acceptance or indifference to the homosexual movement will result in society’s destruction by allowing civil order to be redefined and by plummeting ourselves, our children and grandchildren into an age of godlessness« (S. 16). Edelman: »[D]are we pause for a moment to acknowledge that Mr. Wildmon might be right – or, more importantly, that he ought to be right: that queerness should and must redefine such notions as ›civil order‹ through a rupturing of our foundational faith in the reproduction of futurity« (S. 16 f.).

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Mit diesem Manöver stößt No Future, drittens, Leser vor den Kopf, die sich der politischen Linken nahe sehen und dadurch verstört werden, wenn liberale Rhetorik der Toleranz als »Beruhigungsmittel des liberalen Pluralismus« 4 denunziert und zurückgewiesen wird. Übrig bleibt für Edelman eine Position der radikalen queerness als antisozialer Kraft, die für schwule, lesbische und zumindest theoretisch auch für heterosexuelle Lust geöffnet ist, solange diese sich der Reproduktion verweigert.

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Sinthomosexuality: Sinnlichkeit statt Sinn

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Für Edelman ist es speziell dieser im Register des Symbolischen operierende reproduktive Futurismus, den es dringend zu queeren gilt. Dies soll mit Hilfe der jouissance geschehen, einem dem Register des Realen angehörenden kompromißlosen Mehr-Genießen, das möglicherweise über Lust wie Schmerz hinausgeht, auf jeden Fall aber tatsächlich und in der Gegenwart eingelöst wird. Edelman arbeitet nicht nur mit dem Vokabular der Lacanschen Psychoanalyse, sondern operiert inspiriert mit Konzepten, die er von dort importiert. Am deutlichsten wird dies im zweiten Kapitel, wo zur Bildung des programmatisch als ›zukunftslos‹ eingeführten Neologismus »sinthomosexuality« (S. 34) vor allem im Seminar 23 Anleihen gemacht werden. ›Sinthomosexualität‹ leitet Edelman von Lacans Begriff ›Sinthome‹ ab, der wiederum von dem des ›Symptoms‹ abgegrenzt wird.

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Ein ›Symptom‹ ist für Lacan Chiffre eines dem Bewußten nicht zugänglichen Begehrens bzw. ein Zeichen, das auf dieses verdrängte Begehren verweist, wie etwa das KIND in No Future. Im Unterschied dazu verweigert sich das Sinthome der Logik der symbolischen Repräsentation und damit der Bedeutung an sich. Sinthome sind Zeichen, die ›für nichts‹ stehen und dabei zu anderen Sinthomen »Verbindungen herstellen, die ihre Grundlage nicht in den narrativen Symbolstrukturen haben« 5 . Als ›reines‹ materielles Zeichen, das nicht aufhört, sich selbst zu schreiben, ist das Sinthome durch eine radikale Singularität charakterisiert, die die symbolische Ordnung selbst in Frage stellt. Trotzdem bildet – für Lacan wie für Edelman – gerade das Sinthome jenen (selbst bedeutungslosen) Knoten, der das Subjekt zusammenhält, indem er es an die ›libidinöse Karriere‹ bindet, die es als Subjekt ausmacht: »the sinthome as site of a jouissance around and against which the subject takes shape and in which it finds its consistency« (S. 39).

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Diese beiden letzten Eigenschaften – die Opposition zur symbolischen Ordnung bzw. zu den Phantasien, die sie produziert, und die Verbindung zur »senseless jouissance« – sind es, die das Sinthome für eine queere Position à la Edelman besonders brauchbar machen. Das Kompositum ›sinthomosexuality‹ wird als Platzhalter gewählt für die Position, die den Glauben an Signifikation aufgibt und sich statt dessen mit dem Sinthome identifiziert. Statt zu hoffen, daß irgendein ›final signifier‹ in der Zukunft Sinn stiften wird, setzt Sinthomosexualität auf die Reduktion jedes Signifikanten auf den Buchstaben. Statt auf Zugang zur Bedeutung, zur Erfüllung des sich ewig verschiebenden Begehrens zu warten, insistiert Sinthomosexualität auf Zugang zum Genießen, zu einer »unthinkable jouissance that would put an end to fantasy – and, with it, to futurity – by reducing the assurance of meaning in fantasy’s promise of continuity to the meaningless circulation and repetitions of the drive« (S. 39). Während und indem es der Interpretation widersteht bzw. sich ihr entzieht, stellt das Sinthome, dieser unsymbolisierbare Rest des Realen, dieser Pfad des Subjekts zu seiner jouissance, auch die Verbindung zum Todestrieb her.

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Mustermisanthropen: Lektüren ...

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No Future läßt sich wunderbar als Komplement zu Albrecht Koschorkes Studie Die Heilige Familie und ihre Folgen 6 lesen, die vorführt, wie die abendländische Gesellschaft und ihre Codes durch die Struktur der ›Heiligen Familie‹ geprägt sind. Edelman formuliert eine fundamentale Kritik, indem er literarische Figuren untersucht, die eine Rolle in jener ›Familie‹ verweigern, die sich um das ›Heilige KIND‹, den Erlöser, den Messias, den Garanten einer phantasmatischen Zukunft formiert. »[T]he queer comes to figure the bar to every realization of futurity, the resistance, internal to the social, to every social structure or form.« (S. 4) Anhand einiger Beispiele aus Literatur und Film illustriert Edelman seine These, daß ebendiese Sakralisierung des KINDER nach der Opferung desjenigen verlangt, der queer ist.

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Ebenezer Scrooge aus Dickens’ A Christmas Carol, Silas Marner aus George Eliots gleichnamigem Roman und Leonard, der Unter-Schurke aus Hitchcocks North by Northwest erfahren in No Future eine Re-Lektüre, die ihr sinthomosexuelles Potential zum Vorschein kommen läßt. Es geht dabei weniger um ein outing dieser Figuren als darum, die Effekte jener kulturellen Phantasie nachzuzeichnen, die etwa die Vernichtung von Scrooge als Scrooge an das Überleben von Tiny Tim binden. Diese ersten beiden dieser drei Lektüren sind knapp gehalten – keine nimmt mehr als ein paar Seiten ein. Edelman setzt einen klaren Akzent auf die theoretische Argumentation, die literarische Verfaßtheit der Beispieltexte spielt eine untergeordnete Rolle. An Scrooge wie an Marner wird exemplifiziert, wie ein auf den Tod hin ausgerichteter Narzißmus, unter Opferung der sinthomosexuellen Figur, zum Glauben an die Zukunft bekehrt wird.

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Der Re-Interpretation von Hitchcocks Leonard räumt Edelman mehr Platz ein. Das gesamte dritte Kapitel unternimmt eine Lektüre von North By Northwest, wobei die Mount Rushmore-Episode zur Schlüsselszene wird. Zur Erinnerung: Die abgestürzte Eve hängt an der rechten Hand von Roger Thornhill, während dieser sich mit der linken an einen Felsvorsprung klammert. Er bittet Leonard, der Eve in den Abgrund gestürzt hatte, um Hilfe, der aber tritt ihm auf die Finger, bis er von einem Agenten erschossen wird und nun selbst abstürzt. Thornhill, eben noch am Berg hängend, zieht – Schnitt – Eve zu sich auf ein Schlafwagenabteilbett – Schnitt – Zug von außen, der das Paar in die Flitterwochen bringt. Statt des KINDES geht es Edelman hier um die KIND-Produktions-Maschine, das heterosexuelle Paar bzw. um die versuchte Verhinderung der Paarbildung durch die sinthomosexuelle Figur. Im Vergleich zu den Re-Lektüren von Scrooge und Marner verschiebt sich die Argumentation hier darauf, daß Leonard – als imaginärer Anderer des Paares – im Sturz der zukünftigen Mutter Eve dem Helden anbietet, was ihn von seiner Phantasie und damit von der ewigen Verschiebung seines Begehrens befreien würde: den Tod.

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Mehr Hitchcock – brillant

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Daß Edelman schreiben kann, ist seit Homographesis kein Geheimnis mehr. Das Kapitel zu The Birds offeriert nicht nur die am breitesten angelegte Lektüre dieses Buchs, sondern ist außerdem ein stilistischer Hochgenuß. Edelman läßt seine rhetorisch geschliffenen Satzjuwelen funkeln, daß es einen John Roby in den Fingern jucken könnte:

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Whatever we may learn by going to school at Hitchcock’s school-house, then, we must surely be struck by the structure of this brilliantly realized scene of instruction – struck, that is, by the strictness with which, in a masterstroke, he constructs it by restricting the play of his camera to patterns of formal repetition. (S. 140)
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Dieses Schlußkapitel ist aber nicht nur am beeindruckendsten formuliert, sondern – neben dem unverschämt provokanten Anfangsteil – auch vom Argument her die lohnendste Lektüre. Diesmal sind es die notorisch enigmatischen Hitchcockschen Vögel, die als Sinthome bzw. als Inkarnationen einer un-natürlichen, anti-sozialen, auf den Tod ausgerichteten Kraft im Zeichen der Zukunftsverneinung, eben als sinthomosexuell, gedeutet werden. Der Aspekt des Inhumanen wird hier aber nicht durch Menschenfeindlichkeit ausgedrückt, sondern die radikale Andersheit der sinthomosexuellen Position wird nun durch das tatsächlich Un-Menschliche, das Animalische repräsentiert. Die in den vorangegangenen Abschnitten gesponnenen Fäden werden virtuos wieder aufgegriffen und zu einem Schlung geknotet, der die innovative Lesart von The Birds trägt.

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Die Ränder der Sinthomosexualität

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Der Aspekt, daß auch heterosexuelle Lust, solange sie sich als Selbstzweck der Reproduktion verweigert, queer sein kann, wird von Edelman zwar theoretisch mitentworfen, in No Future aber nicht ausbuchstabiert. Tatsächlich konzentriert sich das Buch auf männliche sinthomosexuelle Figuren. Die Konsequenz daraus ist, daß Leser mit einer ganzen Reihe von Fragen zum Spektrum des neu eingeführten Konzepts allein gelassen werden. Ist eine Frau, die sich jeden Tag wieder entscheidet, die Pille zu nehmen, ›sinthomosexuell auf Zeit‹? Oder kann diese Position nur ganz und endgültig eingenommen werden und nur, wenn noch nicht einmal die Möglichkeit einer Zeugung gegeben ist? Ist die immer wieder neu gefällte Entscheidung gegen Reproduktion aber nicht eigentlich in dem Moment radikaler, wo sie möglich wäre? Was ist mit Frauen, die durch eine Sterilisation, durch eine Entfernung der Gebärmutter oder der Ovarien die Möglichkeit der Fortpflanzung irreversibel ausschließen, aber weiterhin Geschlechtsverkehr haben? Was ist mit Frauen, die zu alt sind, um noch gebären zu können, aber nicht zu alt, um sexuell aktiv zu sein? Sind sie potentiell sinthomosexuell? Ist ›sinthomosexuell‹ wie Eve Kosofsky Sedgwicks ›queer‹ ein Attribut, das nur in der ersten Person Singular sinnvoll eingesetzt werden, das man sich also nur selbst, nicht aber einem anderen zuschreiben kann? Edelman hilft hier nicht weiter.

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Gut, No Future ist eben nicht nur ein polemisches, sondern auch ein politisches Buch. Für Heteropaare interessiert Edelman sich nicht vorrangig, nicht einmal für die, die in seinem Sinne deutlich queer sind. Aber: was ist mit lesbischen Paaren? Viele der Formulierungen im eröffnenden Theoriekapitel legen nahe, daß zumindest sie auf jeden Fall mitgemeint sind, aber keines der später angeführten Beispiele führt dies aus. Daß in einer umfangreichen Fußnote (Nr. 10 im dritten Kapitel, S. 165 f.) die Frage, ob das Konzept der Sinthomosexualität als rein männliches zu verstehen sei, angerissen und verneint wird, bietet für diese Lücke nur schwache Kompensation. Es gewährleistet lediglich, daß das Konzept für eine Ausarbeitung in dieser Richtung offen gehalten wird.



Anmerkungen

Um den Marker trotz regelhafter Großschreibung von Substantiven im Deutschen zu erhalten, wird KIND in Folge in Großbuchstaben gesetzt.   zurück
Eine luzide Erklärung des Begriffs der lacanschen Vernähung (suture) findet sich in Kaja Silverman: The Subject of Semiotics. New York: Oxford UP 1983, Kapitel 5.   zurück
Die halbkursivierte Schreibweise, die das englische Verb to queer ins Deutsche importiert, übernehme ich von Andreas Kraß, der sie als Herausgeber des Bandes Queer Denken. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 eingeführt hat.   zurück
Diese Zitate sind von mir übersetzt und finden sich bei Edelman auf S. 16.   zurück
Slavoj Žižek: Lacan in Hollywood. Wien: Turia + Kant 2000, S. 20.   zurück
Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt/M.: Fischer 2000.    zurück