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Die Entdeckung des Menschlichen

Judith Butlers Revision von Gender Trouble

  • Judith Butler: Undoing Gender. New York, London: Routledge 2004. 288 S. Paperback. GBP 19,99.
    ISBN: 0-415-96923-9.
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Doing and Undoing Gender

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In ihrer Essaysammlung Undoing Gender kehrt Judith Butler zu den Fragestellungen zurück, die sie in Gender Trouble bereits anstieß und in Bodies that Matter weiter ausführte. Auch hier geht sie von der Überlegung aus, »what it might mean to undo restrictive normative conceptions of sexual and gendered life« (S. 1). Doch während in den vorherigen Büchern noch die Frage nach dem ›wie‹ von Gender-Konzeptionen und das Öffnen der Gender-Binarität durch Resignifikation im Mittelpunkt stehen, so beschäftigen sich die elf Essays des Bandes Undoing Gender mit den Auswirkungen, die ›Gender Trouble‹ für das individuelle Leben bedeutet.

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Was häufig als Manko an Bodies that Matter kritisiert wurde, wird nun zentraler Gegenstand eines eigenen Bandes: Die Anerkennung des Anderen als lebenswerte Person. Wird die ermordete Transsexuelle Venus Extravaganza im Kapitel »Gender is Burning« in Bodies that Matter noch unter dem Aspekt der Subvertierung von Genderkategorien und des Feierns dieses Prozesses verhandelt, steht nun das Problem der Gewalt im Vordergrund. In Undoing Gender spielt Butler die ethischen und politischen Auswirkungen von Gender-Konstruktionen durch, die nicht einer naturalisierten, heterosexuellen Norm entsprechen.

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Die Kategorie des Menschlichen

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Ausgehend von der Frage »who qualifies as the recognizably human and who does not« (S. 2), baut Judith Butler auf ihren vorherigen Thesen zur Konstruktion von Gender auf. Gender ist auch hier wieder – im Gegensatz zum essentiellen Sein – als Prozess gedacht, als Handeln. Erneut geht es um Intelligibilität durch Entsprechung, aber auch um das Verschieben von Normen, das den Einzelnen individuelle Freiräume eröffnet. Doch hier nimmt Butler einen fast unmerklichen Perspektivenwechsel vor, indem sie vom ›Menschlichen‹ spricht, von der Kategorie des ›human‹.

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Innerhalb der sexuellen Matrix werden also nicht nur Varianten von Gender produziert, sondern immer zugleich Menschen. All jene, die sich klaren Zuordnungen entziehen, laufen dabei Gefahr, als negative Grenzposten zu fungieren und dabei selbst aus dem Bereich des Menschlichen heraus zu fallen. In Abgrenzung zu ihnen wird der Begriff des Menschlichen verhandelt. Diesen Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmechanismus stellt Butler in Bezug zu Luce Irigarays Analyse von Weiblichkeit. Bekanntermaßen zeigt Irigaray in Das Geschlecht das nicht eins ist auf, dass die kulturelle Beschreibung von Weiblichkeit als negativer Pol zum Männlichen gesetzt wird, wobei das Männliche immer auch als das Menschliche fungiert. Butler übersetzt dieses System in die heterosexuelle Matrix, wodurch jegliches nicht-heterosexuelle Begehren das Menschliche umgrenzt und so aus der positiven Definition heraus fällt.

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Im Vergleich zu Irigaray, die aus ihrer Analyse schließt, dass Frauen sich ihre Alterität in positiver Resignifikation gegen die männlich / menschliche Definitionsmacht erschließen sollen, schlägt Butler einen anderen Weg ein. Es ist nicht ihr Anliegen, eine Gegenposition aufzubauen, sondern die Grenzen des Menschlichen so zu verschieben, dass nicht nur binäre Gender-Zuschreibungen den Status des Realen, des Menschlichen erhalten. Der Begriff des Menschlichen als Universalie darf nicht verworfen werden (ein Generalverdacht, unter den Butler jede nachmoderne Theorierichtung stellt), sondern muss, wie sie schreibt, radikal demokratisiert werden.

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Diese Demokratisierung erfolgt jedoch nicht unter der Maßgabe einer neuen Universalie, die die bisherige Definition des Menschlichen schlicht ablöst. Butler wendet sich explizit gegen den Vorwurf des Humanismus und dessen Universalanspruch der Welterklärung. Wie viele Kritiker des Humanismus verweist auch sie auf den unterliegenden Kolonialcharakter, der das westliche Weltverständnis absolut setzt. In ihren Essays führt sie daher vor, dass die Beschreibung den konkreten Körper benötigt, der reale Möglichkeiten eröffnet und die Grenze von definierenden Normen durchbricht. Wie in Gender Trouble geht es also um eine doppelte Bewegung: Normen werden angeeignet und im Zitat modifiziert; sie sollen dem Individuum einen Platz in der Gesellschaft sichern, werden allerdings in ihrer Verkörperung überschritten.

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Transsexualität und Familie

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Als Beispiele für derartige Überschreitungen und für die Notwendigkeit, Resignifikation innerhalb des Bereiches des Menschlichen zu verhandeln, dient im ersten Teil der Sammlung ein Bericht über eine unerwünschte Geschlechtsumwandlung. Hier kritisiert Butler die Sprache der Analyse und ihre Zuschreibungsmacht. Weitere Beispiele sind die Pathologisierung von Trans- und Homosexualität, wobei Butler erstaunlicherweise ein ungebrochen modernes Konzept des freien Willens voraussetzt, und Butlers Kritik an der ödipalen Untermauerung des rassistisch nationalistischen Verwandtschaftsmodells des Westens. Dabei lenkt Butlers Hervorhebung europäischer Phänomene von der generellen Missachtung und Unterbindung alternativer Familienmodelle ab. Allen Beispielen ist zueigen, dass sie Ausgrenzung als konkrete Bedrohung für das Leben des Einzelnen darstellen und die Wichtigkeit von gesellschaftlicher Einbindung für die Einforderung von Menschenrechten unterstreichen.

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Die ethische Notwendigkeit
von Anerkennung

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Die Notwendigkeit, für eine Gesellschaft intelligibel, entsprechend der phänomenologischen Lehre vom Vorverständnis verstehbar und somit erkennbar zu werden, beherrscht schon Bodies that Matter. In Undoing Gender steht nun neben der Erkennbarkeit zusätzlich die Anerkennung; und Anerkennung bekommen konkrete Einzelne erst, wenn sie als Teil der Menschheit erkannt werden und so innerhalb der Gesellschaft Anspruch auf Einhaltung der Menschenrechte erheben können. Erst dann wird das individuelle Leben im Rahmen der Gesellschaft als lebenswert angesehen, und erst dann ist Überleben möglich.

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Wenn Judith Butler von ›Überleben‹ oder ›lebenswertem Leben‹ spricht, geht es ihr nicht um Wertung. Sie wendet sich gegen jeglichen missionarischen Eifer, der das Leben eines Anderen im Sinne des Eigenen verändern will. Ihre unterschiedlichen Beispiele zeigen allerdings auch, dass nicht die Suche nach einer neuen Norm im Vordergrund steht. Vielmehr möchte sie die Grundvoraussetzung dafür schaffen, dass jeder Lebensentwurf gleichwertig – auch vor dem Gesetz – in den Bereich des Menschlichen einbezogen wird. Geschieht dies nicht, ist laut Butler ein doppelter Ansatzpunkt für Gewalt gegeben: Gewalt gegen sich selbst und von Seiten Anderer.

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So beschreibt sie beispielsweise die Schwierigkeit, sich selbst und die eigene Beziehung wert zu schätzen, wenn diese Beziehung nur in einem Raum außerhalb von Gesellschaft bestehen kann. Dass die Ausgrenzungsmechanismen der sozialen Umgebung nicht als irrelevant abgetan werden können, zeigt allein schon die Tatsache, dass gesellschaftliche Repressionen bis zum Mord führen können. Der Verlust von Menschlichkeit schränkt also in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zugleich das Recht zu leben ein. Sollen Menschenrechte greifen, muss die Anerkennung des individuellen Lebens als lebenswert unabhängig von der normativen Anpassung des Einzelnen an Gender-Kategorien gegeben sein.

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Die Unhintergehbarkeit
des Anderen

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Ein genaueres Verständnis von Anerkennung erarbeitet Butler in Auseinandersetzung mit Jessica Benjamin in ihrem Essay »Longing for Recognition«. In Benjamins Arbeit findet sie eine Verbindung von psychoanalytischer Theorie mit Philosophie, die, wie sie auch in einem nachfolgenden Text anmerkt, dem Lacanschen Strukturalismus eine weniger heterosexistische Trias des Begehrens entgegenstellt, die das Denken von Homosexualität, Bisexualität oder Transsexualität zulässt. Benjamins Überlegungen zu Anerkennung gehen von der Figur des Anderen aus. Der Andere wird in seiner Alterität anerkannt. Obwohl diese Alterität als Trennlinie verstanden wird, wird das Andere dennoch in einer Struktur wahrgenommen, die vom Eigenen, also vom Ich, ausgeht. Dieser Struktur spürt Butler weiter nach.

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Entsprechend ihren philosophischen Interessen findet Butler eine Antwort nicht bei Lévinas, den sie als nicht weitgreifend genug empfindet, sondern bei Hegel. Hegels Herr / Knecht-Struktur zeigt auf, dass jeder Mensch grundlegend von einer Struktur der Alterität beherrscht ist; das Andere ist immer schon durch Perspektivierung des Eigenen in eben diesem Eigenen angelegt und verhandelt. Daraus entsteht eine Unhintergehbarkeit des Anderen im eigenen Ich, die der Einzelne notwendig anerkennen muss. Dies ist die Struktur, die den Anderen auch in einer Gesellschaft in Alterität bestehen lässt, solange er als menschlich erkannt wird.

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In einer Relektüre ihrer früheren Thesen aus Gender Trouble führt Butler schließlich in ihrem vorletzten Essay »The Question of Social Transformation« philosophische Erkenntnisse zum Anderen mit politischen Ansprüchen zusammen. So soll ein Weg gefunden werden, der das Eigene nicht durch Ausschluss des Anderen definiert, sondern anerkennt, dass das Eigene nur in engem Austausch mit dem Anderen Raum gewinnt. Butlers Schlussutopie lautet:

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Perhaps this other way to live requires a world in which means are found to protect bodily vulnerability without precisely eradicating it. Surely, some norms will be useful for the building of such a world, but they will be the norms that no one will own, norms that will have to work not through normalization or racial and ethnic assimilation, but through the collective sites of continuous political labor. (S. 231)
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Doing Utopia

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Utopien bieten naturgemäß eine große Angriffsfläche. Sie dienen nicht zur Linderung von individuellem Leid oder konkreten Missständen. Im Gegensatz dazu können Hilfeleistungen, die in einem größeren theoretischen Rahmen nicht akzeptabel scheinen, genau die Anerkennung gewähren, die das individuelle Leben lebenswert gestaltet. In den zitierten Erfahrungsberichten gesteht Butler diese Möglichkeit durchaus zu, wenn sie anerkennt, dass einem finanziell mittellosen Transsexuellen die klinische Pathologisierung weniger wichtig ist als die Aussicht auf eine Operation, die durch die Pathologisierung in greifbare Nähe rückt. Butlers Kritik an der pragmatischen Sichtweise könnte hier eine erneute Ausgrenzung schaffen, da so die Sichtbarkeit neuer Gender-Kategorien und eine performative Wandlung von Gesellschaften erschwert würden.

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Aus diesem Grund ist Butlers Plädoyer für eine kritische Analyse innerhalb der politischen Praxis von großer Relevanz. Nur so werden, wie sie schreibt, wohlgenährte Vorurteile und lieb gewonnene Routinen in Frage gestellt, und der Blick für neue Möglichkeiten geschärft. Nur so wird die Theorie, die jeder Praxis notwendig unterliegt, aus dem Verborgenen geholt und kann an konkreten Fällen überprüft werden. Von besonderem Interesse ist dabei der Essay, der die Sammlung beschließt und thematisch aus dem Rahmen zu fallen scheint: »Can the ›Other‹ of Philosophy Speak?« Geschrieben im Stil feministischer Erfahrungsberichte zeichnet er den Weg der jungen Judith auf dem Weg in die institutionalisierte Philosophie nach, nur um nachzuweisen, dass das Hegelsche Prinzip der Alterität innerhalb des eigenen Ichs auch auf kulturelle Phänomene wie die Ausgrenzung feministischer Theorie in Philosophieseminaren zu übertragen ist.

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Doch hier werden sich die Leser fragen: Was bedeutet es, wenn Judith Butler – die Vordenkerin performativer Identitätsbildung – ›Ich‹ sagt? Wer spricht hier: Judith Butler oder ›Judith Butler‹, ein Konglomerat unterschiedlicher Normen? Ist ein Rekurrieren auf das Genre des Erfahrungsberichts vor dem Hintergrund von Judith Butlers Identitätstheorie sinnvoll beziehungsweise überhaupt noch möglich?

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Undoing the Reader

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Generell bleibt festzuhalten, dass Judith Butler mit Undoing Gender eine spannende Essaysammlung vorgelegt hat. Sie verbindet in eindrücklicher Weise Theorie und Praxis. Den theoretischen Rahmen, den sie in Gender Trouble und Bodies that Matter angelegt und in Excitable Speech und The Psychic Life of Power an detaillierteren Fragestellungen ausgearbeitet hatte, übersetzt sie nun in den juristischen Rahmen der Menschenrechte. Problematisch ist jedoch, dass Butlers Beispiele im Stil von Erfahrungsberichten zuweilen einer Betroffenheitsrhetorik folgen, die ihre Leser stärker als nötig lenkt. Dennoch: durch Butlers Wahl der Form der Essaysammlung für ihr neues Buch Undoing Gender werden ihre Leser in performativer Weise immer wieder neu mit der Alterität des Eigenen konfrontiert, sei es, indem sie Vielfalt erfahren, sei es, indem sie Positionen vermissen, die Butlers Lesweise entgehen, und die so erneut in den eigenen Blick geraten, sei es, indem sie lieb gewonnene Überzeugungen nochmals überdenken.