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Weltgeschichte, Überlieferungsgeschichte, Literaturgeschichte

  • Ralf Plate: Die Überlieferung der »Christherre-Chronik«. (Wissensliteratur im Mittelalter 28) Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert 2005. 380 S. 42 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 59,00.
    ISBN: 978-3-89500-030-0.
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Der vorliegende Band ist die überarbeitete Fassung einer Trierer Dissertation von 1996, deren Vorstudien bis ins Jahr 1988 zurückreichen. Plates Thema ist die Überlieferung einer weit verbreiteten und nach ihren Eingangsworten »Crist herre keiser uber alle craft« als Christherre-Chronik (im Folgenden: CC) bezeichneten, anonymen Reimchronik aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, die in Südwestdeutschland oder – wahrscheinlicher – in Thüringen entstanden sein dürfte. Der umfangreiche, aber dennoch Fragment gebliebene Text umfasst ca. 25.000 Verse, die lediglich den alttestamentlichen Zeitraum von den Anfängen bis zum Beginn der Richterzeit abdecken. Die CC ist bisher unediert, die Erstausgabe wird seit langem von einer ehemals Trierer Arbeitsgruppe unter Leitung von Kurt Gärtner vorbereitet (vgl. S. 12–14). Die Mitglieder der Arbeitsgruppe haben bereits zahlreiche miteinander verknüpfte Einzelstudien zur Überlieferung der CC und zu den komplexen stemmatologischen und editorischen Problemen vorgelegt. Auch Plates Dissertation versteht sich – in übertriebener Bescheidenheit – als Vorarbeit für die zu erwartende Edition. Sie ist aber, dies vorab, mehr als nur ein Baustein dieser dringend erwünschten Ausgabe.

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Ausgangslage

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In der Einleitung (S. 1–19) schildert Plate zunächst Inhalt und Quellen der CC, befasst sich mit dem ungelösten Problem des (möglichen) Auftraggebers und erörtert mit überzeugendem Ergebnis die umstrittene Frage ihrer Datierung. Ein Charakteristikum der CC sind die Inserate zur außerbiblischen Geschichte, die sogenannten Inzidenzien. Auch zeichnet sie sich, darin dem Vorbild der Weltchronik des Rudolf von Ems folgend, durch geistlich-gelehrte Kommentarpartien aus.

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Wichtig für das Verständnis des Folgenden ist zunächst der einführende wissenschaftsgeschichtliche Abriss (S. 4–12), der verdeutlicht, wie sich die Forschung zu allen Zeiten von der komplizierten Überlieferung hat verwirren lassen. Erst seit Mitte der 1980er Jahre gelangte sie zu einer Neuausrichtung, blieb aber auch jetzt von Irrwegen und Missverständnissen nicht verschont (dazu S. 14–17). Die anhaltende Verwirrung entstand vor allem durch die reichhaltige, immens komplizierte und kontaminierte Überlieferung von Chronikkompilationen verschiedener Art, an der neben der CC unter anderem das bereits genannte Werk Rudolfs von Ems sowie die Weltchronik des Jans Enikel (um 1270/80) beteiligt waren. Kein Forscher konnte diese Überlieferung bisher in all ihren Verästelungen überblicken, so dass Plate nun auf der Basis der kollektiven Vorarbeiten der Trierer Arbeitsgruppe eine geradezu historisch etablierte Konfusion zu entwirren hatte.

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Methodisch lässt er sich dabei von einer zentralen und später detailliert begründeten Erkenntnis leiten, welche die bisherigen Grundannahmen zur Weltchroniküberlieferung des 13. und 14. Jahrhunderts konterkariert: »Die Kompilationsüberlieferung war nicht der Normalfall einer von Beginn an auf Vermischung angelegten Gattung, sondern eine späte, [...] lokal und zeitlich begrenzte Erscheinung« (S. 17). Konsequent wendet er sich somit der als ursprünglich erkannten »unvermischten« Überlieferung der CC zu, um diese als einen der Ausgangspunkte der mittelalterlichen deutschen Reimpaar-Weltchronistik insgesamt zu erweisen. Die erstmalige exakte Analyse der Überlieferung und ihrer formalen wie prozessualen Schichtung dient somit dazu, eine überkommene, aber niemals richtig belegte literarhistorische Betrachtungsweise grundsätzlich zu revidieren und stattdessen eine neue Sicht der Dinge zu etablieren.

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Komplexität

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Der erste Hauptteil (S. 23–128) muss sich aber zunächst doch der gesamten Überlieferung der CC widmen, um die inhaltlichen und methodischen Prämissen für die späteren Ausführungen herauszuarbeiten. So enthält dieser Teil zunächst ein alphabetisch nach Standorten gegliedertes Verzeichnis aller bekannten CC-Handschriften, gleich welcher kompilatorischen und textkritischen Affiliation. Es handelt sich um 95 vollständige oder fragmentarische Textzeugen (die Fragmente sind zum Teil als Discissi über mehrere Besitzerinstitutionen verstreut). Um die Vielfalt und Komplexität des überlieferungsgeschichtlich Realisierten zu belegen, genügen einige zufällig gewählte Beispiele. Im Gesamtverzeichnis aufgeführte Handschriften enthalten unter anderem folgende Textformen: den ›Enikel-Christherre-Mischtext‹; ein unbearbeitetes Exzerpt aus der CC von etwa 1000 Versen in einer Sammelhandschrift aus dem Deutschen Orden; eine Geschichtsbibel-Kompilation aus Rudolf von Ems, der CC und einer Versfassung des Buchs der Könige; einen Rudolf-Text mit v. 1–2600 aus der CC; die CC mit Heinrichs von Kröllwitz Vaterunser und Rudolfs Barlaam und Josaphat; die CC mit abweichendem ›Leipziger Schluss‹; eine so genannte ›erweiterte CC‹; die CC in der umfangreichsten deutschsprachigen Geschichtskompilation des Mittelalters, dem so genannten Heinrich von München; und vieles andere. Fassungsvielfalt und Varianz prägen den ganzen Katalog.

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Wie kompliziert sich die Erfassung und korrekte Beschreibung dieser Überlieferungssituation gestaltet hat, zeigen nicht nur die oben erwähnten Irrwege der Forschung. Auch die lange Projektlaufzeit von den Vorarbeiten bis hin zum vorliegenden Buch verdeutlicht, welch schwieriger und entsagungsvoller Aufgabe sich Plate gestellt hat. Umso mehr muss man die Präzision hervorheben, mit welcher er die Überlieferung auf jeder philologischen Ebene zu beschreiben versteht: Wenn man wissen will, wie man mit wenigen Worten einen schwierigen Befund nachvollziehbar charakterisiert, dann greife man zu diesem Werk. Diese Qualität bewährt sich vor allem bei der folgenden Auswertung (»Genealogische Darstellung der Gesamtüberlieferung«, S. 48–109). Der Abschnitt ist zwar etwas umständlich in der Handhabung, weil man die erst im zweiten Hauptteil näher besprochenen Codices bereits hier mit in den Blick nehmen muss, und die Darlegungen sind keineswegs einfach zu verstehen, da immer die komplizierten stemmatischen Verhältnisse und die vielen verwendeten Siglen präsent zu halten sind (es hilft, das Stemma S. 109 zu kopieren und bei der Lektüre zur Hand zu haben). Die Darstellung ist aber vollkommen stringent, bis ins Detail nachvollziehbar, gut formuliert und präsentiert »das vielstufige Kontinuum der Textgeschichte« (S. 84) in einer Verbindung von Textkritik und formaler wie inhaltlicher Analyse, die man nur als nachahmenswert bezeichnen kann. Obwohl dieses Kapitel zunächst den Weg zum Hauptthema der Arbeit, zur Darstellung der unvermischten CC-Überlieferung, weisen soll, werden hier bereits wichtige Ergebnisse für die CC insgesamt wie für die anderen beteiligten Texte (Rudolf von Ems, Enikel, Heinrich von München) erzielt.

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Die »Typologische Übersicht über die Gesamtüberlieferung«, die diesen ersten Hauptteil abschließt (S. 110–128), bietet eine Zusammenfassung, die zukünftig als grundlegende Handreichung für die weitere philologische Arbeit an hoch- und spätmittelalterlichen deutschen Reimchroniken dienen kann. Auf S. 124–128 erläutert Plate nochmals das bereits angesprochene wichtigste Ergebnis seiner Untersuchungen: Überlieferungsgeschichte ist nicht gleichbedeutend mit Gattungsgeschichte. »Die eigentliche Kompilationsüberlieferung ist [...] ein ausgesprochenes Spätphänomen« (S. 124), das zudem zeitlich und regional beschränkt bleibt. Der eigenständige Werkcharakter der CC und damit ihr literar- und gattungsgeschichtlicher Stellenwert zeigen sich vielmehr in der unvermischten Überlieferung, die Gegenstand des zweiten Hauptteils ist.

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Reduktion

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Der zweite Hauptteil (S. 131–305) wendet sich dem als Ausgangspunkt der gesamten CC-Verbreitung erkannten Überlieferungszweig zu, der als unvermischter Text bezeichnet wird. Die acht vollständigen Handschriften dieses Zweigs, die im ersten Teil nur aufgelistet und mit Verweisen versehen worden waren, werden hier zunächst genau beschrieben. 1 Sie sind chronologisch nach ihrer Entstehungszeit behandelt. Die Beschreibungen sind, soweit mir darüber ohne Autopsie der Codices ein Urteil möglich ist, kodikologisch und paläographisch präzise und ohne erkennbare Fehler. Auch hier begegnen stellenweise scharfsichtige Analysen, die aus sorgfältiger kodikologischer Beobachtung gewonnen sind, etwa S. 139 zur Vorlage des Cgm 16 der Bayerischen Staatsbibliothek München – ohnehin ein bemerkenswerter Codex, denn obwohl er die CC gar nicht (mehr) enthält, so ist er doch »einer der aufschlußreichsten Zeugen ihrer frühen Überlieferungsgeschichte« (S. 133). Immer wieder gelingen auch literarhistorische Beobachtungen, die weit über den Einzelbefund hinaus bedeutsam sind, etwa S. 146 zu den Korrekturen der Handschrift P, welche in beachtlicher Intensität »die besonderen Überlieferungsbedingungen einer Übergangszeit« belegen (gemeint ist die Zeit um 1300).

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Über Kleinigkeiten kann man streiten. Die Ausführungen zur Schreibsprache der Handschrift L wären meines Erachtens genauer zu diskutieren (Plates Angaben dazu: ostmitteldeutsch mit niederdeutschem Einschlag, S. 149; Spannungsverhältnis zwischen hochdeutscher [?] und niederdeutscher Tendenz, S. 150; an den niederdeutschen Sprachraum angrenzendes mitteldeutsches Gebiet, S. 163). Bei Handschrift G (S. 163) hätte man eine Erläuterung zur Herkunft des kurfürstlich bayerischen Exlibris erwartet, 2 wie überhaupt bei dieser »zentralen Referenzhandschrift« der CC-Überlieferung (S. 166) und auch bei anderen Textzeugen ausführlichere Informationen zur Herkunfts- und Besitzgeschichte wünschenswert gewesen wären (zusammenfassend dazu S. 298–300). Insgesamt aber ist festzuhalten, dass die kodikologischen Teile davon zeugen, dass der Autor auch dieses grundlegende Instrumentarium philologischer Arbeit sicher beherrscht, was bedauerlicherweise auch für Altgermanisten keineswegs mehr selbstverständlich ist.

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Als überaus wichtigen Bestandteil der Gesamtüberlieferung präsentiert und analysiert Plate abschließend die umfangreiche Fragment-Überlieferung. 31 Handschriften des unvermischten CC-Textes sind allein durch Reste bezeugt, davon zehn als Discissi mit mehreren Einzelfragmenten. Diese sonst oft vernachlässigten Textzeugen im Detail zu beschreiben, sieht Plate zu Recht als zentrale Aufgabe seiner Arbeit an. Denn allein die Berücksichtigung dieses Löwenanteils der gesamten erhaltenen Überlieferung stellt sicher, dass die an den vollständigen Textzeugen gewonnenen Ergebnisse in philologischer, historischer und editorischer Hinsicht wirklich repräsentativ und aussagefähig sind. Es überrascht nach dem bisher Gesagten nicht mehr, dass auch in diesem umfangreichen Abschnitt (S. 209–286) genauestens beobachtet und mit sicheren Kontextualisierungen argumentiert wird, so dass das Ziel, die Fragmente als unverzichtbaren Bestandteil dieser (und einer jeden) Überlieferungsgeschichte zu erweisen, voll und ganz erreicht ist. 3

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Fazit

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Der letzte Abschnitt bündelt die »Grundlinien und Hauptaspekte der Geschichte der unvermischten Überlieferung« der CC (S. 291–305). Besprochen und zusammengefasst werden: die Bedeutung der unvermischten Überlieferung als überlieferungsgeschichtliche Konstante; die Hauptzäsur des Tradierungsprozesses in der Mitte des 14. Jahrhunderts (davor: unvermischte Überlieferung ohne Fortsetzung als Regelfall; danach: Überlieferung der CC mit Fortsetzungen oder in Kompilationen); die räumliche Verbreitung (bemerkenswert hier ein früher Schwerpunkt im ostmitteldeutschen Raum); die Illustrationen (im Gegensatz zu Annahmen auch noch der jüngeren Forschung keineswegs konstitutiv, im Gegenteil: ein Charakteristikum der unvermischten CC-Überlieferung ist ihre »Bilderlosigkeit« [S. 296]); die Textgeschichte; Besitzer, Schreiber, Leser; die Mitüberlieferung; und schließlich die Textgliederung. Auch dieser Schlussabschnitt betont nochmals nachdrücklich die Bedeutung der Fragmentüberlieferung. Literaturverzeichnis und Abbildungsteil beschließen den Band; leider sind keine Register vorhanden.

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Den respektgebietenden Arbeitsaufwand, den die Analyse dieses weit verbreiteten, umfangreichen und schwierig überlieferten Textes bereitet hat, darf man hier keinesfalls unerwähnt lassen. Plates ausdauernde Mühen um die CC haben sich jedenfalls ausgezahlt. Seine Grundlagenforschung liefert neben einer neuen Sicht auf den Gesamtbefund und vielen detaillierten Beobachtungen zu Einzelproblemen eine große Zahl weiterführender und über den Gegenstand weit hinausweisender Erkenntnisse. Das Ganze ist stilsicher, zum Teil exzellent formuliert und in einer unaufgeregten Diktion vorgetragen, die das Lesen trotz einer gewissen unvermeidbaren Trockenheit der Materie zur dankbaren Aufgabe macht.

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Plates Werk dürfte der Forschung zu den gereimten deutschen Weltchroniken des Mittelalters nachhaltige Denkanstöße geben, einige ihrer alten Thesen gründlich revidieren und der zukünftigen Arbeit an verwandten Texten in vielerlei Hinsicht methodische und perspektivische Fingerzeige geben. Darüber hinaus kann jeder überlieferungsgeschichtlich und editorisch Interessierte aus diesem Buch lernen. Nun muss – aber das liegt nicht mehr in Plates Hand – dringend die Ausgabe vorgelegt werden. 4 Danach dürften in Bezug auf die CC keine philologischen Wünsche mehr offen bleiben.

 
 

Anmerkungen

Man hätte sich dort übrigens statt der wiederkehrenden Formulierung »Vgl. die Beschreibung im zweiten Teil dieser Arbeit« Verweise auf Seitenzahlen gewünscht. Es ist dies ohnehin ein Werk, in dem man fortwährend blättert (das ist dem Gegenstand geschuldet, nicht dem Autor!), und jede zusätzliche Erleichterung in dieser Hinsicht wäre willkommen gewesen.   zurück
Der Codex wurde während des Dreißigjährigen Krieges von Herzog Wilhelm von Weimar aus der Münchener Hofbibliothek geraubt, als Kriegsbeute in die damalige Herzogliche Bibliothek Gotha verbracht und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts – wie andere Handschriften dieser Sammlung – vom Herzogshaus Sachsen-Coburg-Gotha aufgrund von Geldknappheit in den Handel abgegeben. Sie gelangte zunächst in die USA und wurde dann von der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen erworben.   zurück
Ganz wenige Ungenauigkeiten sind mir aufgefallen: Beim »Discissus Basel usw.« werden S. 27 neunzehn, S. 211 zwanzig Blätter als erhaltener Umfang angegeben. Den Begriff »Buchüberzug« (S. 214) würde ich nicht als »Spiegelblätter?«, sondern als Einbandüberzug deuten. »Rückendeckel« (S. 233) meint wohl hinterer Deckel (Rückdeckel). Statt »Quinternio« (S. 237) ist eher »Quinio« gebräuchlich. Bei dem »Nonnenkloster« Marienwerder (S. 257) handelte es sich um ein Augustiner-Chorfrauenstift. – Manches Detail verdient Eingang in jedes Handschriftenseminar: Das Fragment A des Innsbrucker Discissus wurde im 19. Jahrhundert von »Bibliothekar Dr. Gar aus Trient [...] dort in einem Käseladen erworben« (S. 261).   zurück
Die Transkription der Leithandschrift ist bereits im Internet zugänglich: URL http://dtm.bbaw.de/Christh.pdf (Zugriff 21. Februar 2007).   zurück