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Das neue Schiller-Handbuch

Anlass zum Nachdenken über Wiederverwertungsstrategien in der Literaturwissenschaft

  • Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2005. X, 651 S. Gebunden. EUR (D) 49,95.
    ISBN: 3-476-01950-0.
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Das Schiller - Jahr und der Publikationszwang

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Ein reiches Schiller-Jahr neigt sich dem Ende zu, in dem fast jeder Literaturwissenschaftler seinen kleinen oder großen Beitrag zu diesem Jubiläum leisten musste. Es gab unzählige Schiller-Seminare, Schiller-Ringvorlesungen, Schiller-Ausstellungen und Schiller-Tagungen. Die Schiller-Spezialisten waren dieses Jahr so gefragt, dass ihr Vortragskalender übervoll war; und keiner konnte alle Schiller-Tagungen wahrnehmen, da sich diese – wie das Symposium zu Schiller in Beijing und zum »ganzen Schiller« in Jena – teilweise sogar überschnitten. Der Buchmarkt forderte gleichermaßen seinen Tribut, denn es mussten mehrere Werkausgaben und noch mehr Bücher über Schiller rechtzeitig zum Jahr 2005 fertiggestellt werden. Angesichts dieser Anforderungen verwundert es kaum, dass nicht alle Vorträge und Publikationen neu und originell waren; es waren vielmehr diverse Arten und Formen von Wiederverwertung zu bemerken.

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Dieses Vorgehen ist nicht grundsätzlich zu verwerfen; richtige und wichtige Erkenntnisse der Forschung können und sollten vielleicht sogar mehrfach verbreitet werden. Die Rezensentin steht dem Verfahren der Wiederverwertung grundsätzlich aufgeschlossen bis positiv gegenüber, denn durch verschiedene Publikationsorte kann man unterschiedliche Lesergruppen erreichen. 1 Internetpublikationen ermöglichen zudem Volltextrecherchen, so dass die wissenschaftlichen Ergebnisse leichter recherchierbar werden und eine größere Verbreitung erhalten. Daher ist die parallele oder sukzessiv erfolgende Veröffentlichung in Buchform und in verschiedenen Internetforen m. E. sogar zu begrüßen, solange dies Verfahren deutlich offengelegt wird.

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Eine andere sinnvolle Art der ›Wiederverwertung‹ im Schiller-Jahr war z. B. auch der Austausch der Marbacher Ausstellung »Götterpläne & Mäusegeschäfte« mit der Weimarer Ausstellung »Die Wahrheit hält Gericht«, so dass beide Städte – inklusive ihrer vielen touristischen Besucher – in den Genuss zweier Ausstellungen kamen, obwohl sie nur eine vorbereiten und finanzieren mussten. Dieser Ausstellungstausch wurde klar und deutlich – u. a. sogar mit einem gemeinsamen Flyer – angekündigt, und beide Ausstellungen behielten ihre ursprünglichen Titel, damit ein jeder potentieller Besucher wusste, dass ihn nunmehr in Weimar die Marbacher Ausstellung »Götterpläne & Mäusegeschäfte« erwartete und vice versa. Hier wurde kein Etikettenschwindel betrieben, sondern sogar offensiv mit der ›Wiederverwertung‹ geworben.

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Auf dem Buchmarkt ist es oftmals schwieriger zu erkennen, ob Neuerscheinungen wirklich neue Texte bringen oder nur alte in neuem Gewand oder unter neuem Titel. Dementsprechende Hinweise findet man meist nur im Kleingedruckten, manchmal noch nicht einmal dort. Hier ist nicht der Ort, die gesamte Literatur des Jubiläumsjahres einer derartigen Revision zu unterziehen; es sei nur am Rande vermerkt, dass es zwar üblich und legitim ist, gesammelte Aufsätze wieder zu veröffentlichen, doch mag es sicherlich Käufer geben, die ein neugeschriebenes Werk erwarten und erst bei näherer Lektüre enttäuscht feststellen, dass es sich um (teilweise) bereits veröffentlichte Texte handelte. Im folgenden soll exemplarisch das neue Schiller-Handbuch, herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui, dahingehend betrachtet werden, inwieweit es den Erwartungen, die ein Handbuch weckt, gerecht wird und inwiefern es sich auch hier teilweise um ein Recyclingprodukt handelt.

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Das Schiller-Handbuch und seine Konkurrenten

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Das neue, im Metzler Verlag erschienene Schiller-Handbuch hat einige Konkurrenten auf dem Markt, gegen die es sich absetzen und behaupten muss. An erster Stelle ist hier das von Helmut Koopmann herausgegebene Schiller-Handbuch (Alfred Kröner Verlag, 1998) zu nennen, das immer noch im Buchhandel erhältlich ist. Daneben gibt es etliche Monographien, die Leben und Werk Schillers behandeln und damit ein ähnliches Spektrum wie das Handbuch abdecken. Hier seien nur die neuen Bücher von Michael Hofmann Schiller. Epoche – Werk – Wirkung (2003) und Matthias Luserke-Jaqui Friedrich Schiller (2005) erwähnt. Es ist erstaunlich, dass sich der Handbuch-Herausgeber Luserke-Jaqui hiermit selbst Konkurrenz macht und außerdem noch den Mitkonkurrenten Hofmann als Beiträger des Handbuches mit an Bord nimmt. Handelt es sich daher vielleicht weniger um Konkurrenz, sondern eher um eine geschickte Monopolsicherung in der Schillerdeutung? Denn es ist weiterhin auffällig, dass im Schiller-Handbuch in der Regel nach der im Deutschen Klassiker Verlag erschienenen, sogenannten Frankfurter Ausgabe 2 zitiert wird und dass viele Mitherausgeber dieser Ausgabe, bei der Luserke-Jaqui den Band Dramen IV edierte, auch an dem neuen Handbuch mitgearbeitet haben. Dies sichert dem Handbuch einerseits das fundierte Fachwissen bereits eingearbeiteter Spezialisten, andererseits wird gelegentlich auch das wiederholt, was bereits im Kommentar der Frankfurter Ausgabe zu lesen war.

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Aufbau

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Das Schiller-Handbuch ist nach Gattungen geordnet, innerhalb der Gattungen werden die Werke in chronologischer Reihenfolge behandelt. Es ergibt sich dabei folgende Gliederung: Dramen, Gedichte, Erzählungen, Historische Schriften, Theoretische Schriften, Kritiken und publizistische Schriften, Bearbeitungen und Übersetzungen, Ausgewählte Briefwechsel, Wirkung. Den Abschluss bildet eine Lebens- und Werkchronik. Das Handbuch folgt hiermit der üblichen Einteilung der Werkausgaben und kann in dieser Hinsicht als unterstützendes Parallelprojekt gesehen werden. Die einzelnen Kapitel können – dem Nachschlagecharakter eines Handbuchs entsprechend – unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden.

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Das Buch soll sich laut Vorwort an alle interessierten Leser wenden, doch werden darunter sicherlich die Studenten die größte Gruppe bilden. Für die Interpretation eines Werks findet man hier kompakte Informationen über Entstehung, Druck, Inhalt, Deutung und Wirkung. Das jedes Kapitel abschließende Verzeichnis der Forschungsliteratur macht eigenes Bibliographieren (scheinbar) unnötig und bietet Hilfestellung für weitergehende Forschungen.

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Solange man sich ausschließlich werkorientiert informieren will, bietet sich das Schiller-Handbuch somit als aktuelles und geeignetes Hilfsmittel zum Einstieg an.

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Bei übergreifenden Fragenstellungen stößt man hier allerdings sofort an Grenzen, wobei auch das Register keine Hilfe leisten kann, da es ein reines Personenregister ist. Hier erkennt man den auffälligsten Unterschied zum Schiller-Handbuch von Koopmann. Dieses bot neben der Werkanalyse noch 300 Seiten zu »Schiller in seiner Zeit«, »Schiller und die kulturelle Tradition« und »Ästhetik«. Hierunter konnte man einzelne Kapitel zu Themen wie »Schillers Leben und Persönlichkeit«, »Schillers politische Welt«, »Schiller und die Antike«, »Schiller und die Musik« und anderes mehr finden. Solche themenorientierten Kapitel bieten den Vorteil, dass man gewisse Konstanten oder Entwicklungslinien im Leben Schillers über verschiedene Schaffensperioden hinweg und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in diversen Werken nachvollziehen kann. Insofern bietet das alte Schiller-Handbuch mehr und komplexere Informationen als das neue, welches eine gattungs- und werktrennende Betrachtungsweise favorisiert.

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Im Übrigen weckt auch der Untertitel Leben – Werk – Wirkung falsche Erwartungen. Entgegen der Reihenfolge im Untertitel wird zu Schillers Leben am wenigsten gesagt. Das Handbuch beginnt medias in res mit dem Kapitel zu Schillers Räubern und der erste Satz lautet: »Die Entstehungsgeschichte der Räuber bis zur Veröffentlichung lässt sich nicht lückenlos rekonstruieren; [...].«(S. 1). Ein eigenes Kapitel zur Biographie fehlt, stattdessen ist die Lebens- und Werkchronik angefügt, die zwar eine sinnvolle Nachschlagehilfe bietet, aber keine kohärente, verbindende Gesamtdarstellung von Schillers Leben. Der Kauf einer Schiller-Biographie ist also trotz Schiller-Handbuch weiterhin notwendig.

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Ausgewählte Kapitel

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Historische Schriften

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Die »Historischen Schriften« werden von dem Historiker Otto Dann erläutert, der bereits die entsprechenden Bände der Frankfurter Ausgabe kommentiert hat und seine dortigen Ausführungen größtenteils wörtlich wiederholt. Zwar sind gelegentlich einzelne Sätze oder Wortfolgen abgewandelt, doch lassen sich beispielsweise die Ausführungen über die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung (S. 321–323) eindeutig mit den entsprechenden Seiten im 6. Band der Frankfurter Ausgabe (FA 6, S. 734–738) identifizieren. Ein beliebig herausgegriffenes Textbeispiel mag dies illustrieren:

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Man kann zugespitzt sagen, daß an diesem Abend der Historiker Schiller geboren wurde. Wieland, der einflußreiche Weimarer Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift Teutscher Merkur, auch für Schiller eine zentrale Autorität, war anwesend und habe – so Schiller an den Freund Huber – »behauptet, daß ich dazu geboren sei, Geschichte zu schreiben«. (FA 6, S. 734f.)
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Man kann sagen, dass an diesem Abend der Historiker Schiller geboren wurde. Wieland, der einflussreiche Weimarer Schriftsteller und Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Teutscher Merkur, auch für Schiller eine zentrale Autorität, war anwesend und habe – so Schiller an seinen Freund Ludwig Ferdinand Huber – »behauptet, daß ich dazu gebohren [sic!] sei, Geschichte zu schreiben«. (Schiller-Handbuch, S. 321)
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Diese Übereinstimmung wird dem Leser aber an keiner Stelle mitgeteilt. Zwar verweist Dann auf den Text der Frankfurter Ausgabe und gelegentlich in einer Klammer auch einmal auf eine Kommentarstelle der Ausgabe, dass es sich jedoch um einen fast wörtlichen Wiederabdruck jenes Kommentars handelt, kann der Leser nur selbst durch Gegenüberstellung der beiden Bücher feststellen.

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Bühnenbearbeitungen und Vergil-Übersetzungen

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Das Kapitel »Bühnenbearbeitungen und Vergil-Übersetzungen« wurde von dem Altphilologen Heinz Gerd Ingenkamp geschrieben, der in der Frankfurter Ausgabe den Band »Übersetzungen und Bearbeitungen« ediert hatte. Ebenso wie dort werden im Handbuch nur Schillers Bearbeitungen fremder Stücke, nicht aber der eigenen berücksichtigt, obwohl es sich doch zumindest in diesem Rahmen angeboten hätte, allgemeine Prinzipien der Bearbeitungspraxis Schillers sowohl bei eigenen als auch fremden Dramen herauszustellen. Angesichts der großen Bereitschaft Schillers, auf die Wünsche und Ansprüche zeitgenössischer Bühnen einzugehen, angesichts der vielfältigen Bearbeitungen seiner eigenen Werke (insbesondere des Don Karlos) und seiner theaterpraktischen Mitarbeit in Weimar greift m. E. die eingangs von Ingenkamp formulierte Einschätzung zu kurz:

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Schiller betrachtete seine Bühnenbearbeitungen als Nebenarbeiten. Die Art und Weise, wie er seine Aufgabe löst, ändert sich von Fall zu Fall; eine Entwicklung des Bühnenbearbeiters Schiller gibt es nicht. (S. 529)
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Entsprechend der Abqualifizierung als Nebenarbeiten werden den gesamten Bearbeitungen fremder Dramen auch nur sechs Seiten gewidmet, das Literaturverzeichnis ist mit sechs Titeln indiskutabel. Da den Bühnenbearbeitungen im Handbuch nur ein derart geringer Platz eingeräumt wird, finden sich zwar einzelne Gedanken aus Ingenkamps ausführlichem Kommentar in der Frankfurter Ausgabe wieder, doch entstand insgesamt gesehen ein neuer Text für das Schiller-Handbuch.

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Theoretische Schriften

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Dem Theoretiker Schiller wird im neuen Schiller-Handbuch mit über 150 Seiten viel Platz eingeräumt. Der längste Artikel behandelt Schillers Hauptwerk Über die ästhetische Erziehung des Menschen und wurde von Carsten Zelle verfasst, der die Mehrzahl der theoretischen Schriften gekonnt erläutert. Zelles Artikel bestechen durch Kenntnisreichtum und hohes Reflexionsniveau, allerdings gibt es hier auch eine Kleinigkeit zu kritisieren. Laut Vorwort des Herausgebers richtet sich das Handbuch an den »interessierten Leser« (S. VII), bei dem keine Kenntnisse vorausgesetzt werden. Während die meisten anderen Aufsätzen gut und leicht verständlich zu lesen sind, zeichnen sich Zelles Artikel mehrheitlich durch lange, komplizierte Satzstrukturen, die Verwendung verschiedener Fachbegriffe und die Entfaltung komplexer Beziehungsstrukturen zu den anthropologischen Diskursen der Zeit aus.

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Dies mag teilweise der Abstraktheit und Komplexität des Gegenstandes geschuldet, in gewissem Maße notwendig und für den Spezialisten vielleicht auch erfreulich sein, doch scheint Zelle damit keine Rücksicht auf unvorgebildete Leser nehmen zu wollen. Besonders schwer verständliche Passagen ergeben sich m. E. aber daraus, dass Zelle ein – wenn auch moderates – Teilrecycling durchführt. So findet man nämlich in Zelles Artikel einige wörtliche Passagen aus seinem Aufsatz Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat aus dem Jahr 1994 wieder. 3 Sprache und Niveau jenes Aufsatzes entsprachen sicherlich dem damaligen Veröffentlichungsort, in einem Handbuch für »interessierte Leser« sind unbearbeitete Teilübernahmen daraus jedoch manchmal problematisch. Zum einen sind in dem zweispaltig gedruckten Handbuch, das keine Fußnoten hat, sondern bibliographische Angaben in Klammern in den Haupttext setzt, Sätze ab einer gewissen Länge kaum noch zu verstehen: So findet man in Zelles Artikel beispielsweise einen 34 Zeilen langen Satz (S. 413f.), in dessen Mitte eine zehn Zeilen umfassende Literaturangabe steht. Zum anderen gehen gelegentlich gewisse Sinn- und Erläuterungszusammenhänge durch die Übernahme von Textbausteinen aus anderen Texten verloren. Eine Textstelle soll dabei auftretende Probleme verdeutlichen:

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Dabei ist es wohl weniger der politische Ekel vor dem Terror der jakobinischen »Schinderknechte« (an Körner, 8. Febr. 1793), der auch vor Königsthronen nicht halt macht, sondern vor allem das aus Über Anmut und Würde bekannte Ochlokratietrauma, wovon Schiller angesichts des Verlaufs der Pariser Staatsumwälzungen schon sehr früh befallen wird. Insbesondere die dionysische Entgrenzung der Volksmassen, und darunter namentlich diejenige der Frauen, hat Schiller schockiert. (Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat, S. 457)
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Hinter dem politischen Ekel vor dem Terror der jakobinischen »Schindersknechte« (an Körner, 8. Februar 1793; NA 26, S. 183), der auch vor Königsthronen keinen Halt macht, macht sich jedoch noch ein tieferliegendes Motiv geltend. Es ist das aus Über Anmut und Würde bekannte Ochlokratietrauma, von dem Schiller angesichts des Verlaufs der Pariser Staatsumwälzungen schon früh befallen wird. Insbesondere die dionysische Entgrenzung der Volksmassen – darunter namentlich diejenige der Frauen –, hat Schiller schockiert. (Schiller-Handbuch, S. 413)
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Die meisten Handbuch-Leser (mehrheitlich sicherlich Studenten) werden das Fremdwort Ochlokratie wohl nicht verstehen, noch viel weniger wird ihnen das hier als »bekannt« angesprochene »Ochlokratietrauma« aus Über Anmut und Würde wirklich bekannt sein. Da die einzelnen Kapitel laut Vorwort auch einzeln gelesen und verstanden werden können, kann man eigentlich weder eine Lektüre der Schrift Über Anmut und Würde noch des entsprechenden Handbuch-Kapitels beim Leser voraussetzen. Des weiteren würde eine Lektüre auch nicht viel Licht in das »Ochlokratietrauma« bringen, denn in dem von Diana Schilling geschriebenen Handbuch-Kapitel fällt der Begriff an keiner Stelle (nur in Klammern zitiert sie eine Textstelle mit dem Wort »Ochlokratie«, ohne dies weiter zu erläutern). Carsten Zelle hatte im Übrigen in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1994 bereits an vorhergehender Stelle das Wort »Ochlokratietrauma« benutzt und bei der ersten Verwendung auch erklärt. Da diese Passage aber nicht ins Handbuch übernommen wurde, ergibt sich die leicht paradoxe Situation, dass in dem wissenschaftlichen, für Fachspezialisten geschriebenen Aufsatz »Ochlokratietrauma« erläutert wird, in dem für interessierte Leser geschriebenen Handbuch-Artikel jedoch nicht.

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Schillers Dramen

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Die Kapitel zu Schillers Dramen nehmen selbstverständlich den größten Platz im Handbuch ein. Sie sind nicht einheitlich aufgebaut, mal wird der Entstehungsgeschichte, mal der Inhaltsangabe, mal der Deutung oder der Wirkungsgeschichte mehr Platz eingeräumt. Der Herausgeber hatte in seinem kurzen Vorwort angekündigt:

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Bei der Vielgestaltigkeit der Textsorten in Schillers Werk kann die Anordnung der einzelnen Artikel keiner verbindlicheren übergeordneten Systematik verpflichtet sein. (VII)
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Dies ist prinzipiell einzusehen, doch entdeckt man manchmal extreme Verschiebungen in der Systematik, die weniger dem spezifischen Werk geschuldet sein mögen als den Vorlieben der Autoren oder ihren bereits anderswo veröffentlichten Texten.

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Die Jungfrau von Orleans

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Die Gewichtung innerhalb des Kapitels zur Jungfrau von Orleans ist m. E. für den Leser nicht recht nachvollziehbar. Es gibt sieben Seiten zur Entstehung, fünf Seiten zu Handschriften und Druck und acht Seiten zur Aufführungsgeschichte, wobei hier ausführlich noch der kleinste Ort und der unbekannteste Theaterleiter erwähnt wird, der das Stück zu Schillers Lebzeiten aufführen ließ. Wenn der Leser nach diesen ausführlichen Kontextinformationen nun auf entsprechende Informationen zum Drama selbst und Interpretationshilfen hofft, wird er allerdings enttäuscht. Auf eine Nacherzählung des Inhalts folgt der Punkt »Wirkung«, unter dem vornehmlich andere literarische Verarbeitungen des Stoffes aufgelistet werden. Der vom Leser lang erwartete Höhepunkt »Deutung« umfasst eine einzige Seite. Die Autorin Ariane Martin schreibt zu Beginn dieses Abschnitts:

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Die zahlreichen und widersprüchlichen Deutungen der Jungfrau von Orleans sind von keiner kanonischen Interpretation getragen [...], weshalb die literaturwissenschaftliche Rezeption dieses Stücks als ein ›Ergebnis überspielter Ratlosigkeiten‹ (Oellers 1987, S. 299) bezeichnet worden ist. (S. 192)
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Ariane Martin verweist hier nicht nur auf die Ratlosigkeit anderer Forscher, sondern wohl auch auf ihre eigene, denn offensichtlich kann sie ebenfalls keine Deutung des Werks präsentieren.

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Don Karlos und Die Huldigung der Künste

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Diese Kapitel wurden vom Herausgeber Matthias Luserke-Jaqui geschrieben. Don Karlos hatte Luserke-Jaqui nicht in der Frankfurter Ausgabe kommentiert, jedoch findet sich selbstverständlich ein ausführliches Kapitel darüber in der von ihm geschriebenen Schiller-Monographie. 4 Beide Aufsätze stimmen über weite Passagen überein. Dies wird dem Leser nicht ausdrücklich mitgeteilt, aber Luserke-Jaqui führt sein Schillerbuch in der Literaturliste des Handbuchs mit auf. Bei der Huldigung der Künste gelingt es Luserke-Jaqui dann sogar seine Erkenntnisse zum dritten Mal zu publizieren. Diese Gelegenheitsdichtung Schillers hatte er bereits in der Frankfurter Ausgabe kommentiert, und er greift diese Ausführungen nun in den beiden Neuerscheinungen des Jahres 2005 wieder auf. Zumindest in seiner Schiller-Monographie findet man eingangs eine Fußnote, in der er mitteilt, dass den folgenden Ausführungen sein Artikel im Schiller-Handbuch zugrunde liegt; einen Verweis auf die Basis beider Texte, auf den Kommentar der Werkausgabe, findet man aber nicht. Die weitgehenden Übereinstimmungen aller drei Texte sollen an einem Beispiel gezeigt werden:

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Schillers Huldigung der Künste gehört nicht gerade zu jenen Stücken seines theatralischen Werks, die rege interpretatorische Aufmerksamkeit erfahren haben, unabhängig davon, ob dies nun am Gegenstand selbst oder am Interesse der Forschung liegen mag. (FA 5, S. 865)
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Die Huldigung der Künste gehört nicht gerade zu jenen Stücken des theatralischen Werks Schillers, die rege Aufmerksamkeit erfahren haben. Ob dies an der scheinbar mangelnden Qualität des Textes selbst liegt oder dem vorherrschenden Interesse an ›kanonisierten‹ Texten zuzuschreiben ist, sei dahingestellt. (Schiller-Handbuch, S. 237)
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Das Stück gehört nicht gerade zu jenen Texten von Schillers theatralischem Werk, die rege Aufmerksamkeit bei den Lesern erfahren haben. Ob dies an der scheinbar mangelnden ästhetischen Qualität selbst liegt oder ob es dem in der Rezeptionsgeschichte vorherrschenden Interesse an kanonisierten Texten zuzuschreiben ist, sei dahingestellt. (Luserke-Jaqui: Schiller, S. 368)
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Luserke-Jaqui übernimmt die meisten Passagen nicht wortwörtlich, doch trotz einer gewissen Variabilität in der Formulierung bleiben die Aussagen gleich. Diese spezielle Textstelle wurde aber in erster Linie auf Grund ihres Inhalts ausgewählt, denn – wie Luserke-Jaqui zu Recht bemerkt – ist Die Huldigung der Künste ein eher selten behandeltes Drama in der Schiller-Forschung. Deswegen erscheint es mir auch problematisch, wenn der interessierte Leser oder Forscher in drei neuen, viel verbreiteten Büchern dreimal auf dieselbe Interpretation desselben Wissenschaftlers tritt. Damit wird die Qualität der Aussagen Luserke-Jaquis keineswegs in Frage gestellt, sondern nur bedauert, dass er sich fast eine Art Deutungsmonopol in Bezug auf dieses Werk gesichert hat, wo eine größere Meinungs- und Erkenntnisvielfalt doch wünschenswert wäre.

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Die Räuber

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Abschließend sei noch kurz Gert Sautermeisters Artikel zu den Räubern als positives Gegenbeispiel erwähnt. Sautermeister hat sich bereits in mehreren Veröffentlichungen mit diesem Drama Schillers beschäftigt, doch ist dies – meinem Kenntnisstand nach – eine neue, eigenständige Veröffentlichung, die keine alten Texte wiederverwertet. Sautermeister schafft einen homogenen, stringenten Text, der gut zu lesen sowie leicht verständlich ist und trotzdem auf hohem Niveau das Drama erläutert. Ihm gelingt es damit, die verschiedenen Erwartungen, die von den unterschiedlichen Lesergruppen an ein Handbuch gestellt werden könnten, zu erfüllen.

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Kurzes Resümee

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Eine eingehende inhaltliche Analyse und Würdigung der verschiedenen Handbuch-Artikel kann und sollte an dieser Stelle nicht erfolgen, sie bleibt anderen Rezensionen vorbehalten. Ohne Zweifel bietet das Schiller-Handbuch ein wertvolles Hilfsmittel zur ersten wissenschaftlichen Beschäftigung mit einzelnen Werken Schillers, und es ist Studenten durchaus zu empfehlen, die gern Handbücher als erste – und oftmals auch letzte – Quelle für ihre Referate benutzen. Da diese sicherlich nicht wie die Rezensentin das gesamte Handbuch lesen werden, wird ihnen kaum auffallen, dass Aufbau und Gewichtung innerhalb der einzelnen Artikel sehr unterschiedlich ausfallen und nicht alle Beiträge des Handbuchs neu geschrieben sind. Doch für die kleine Gruppe der Fachkollegen wäre es sicherlich hilfreich und nützlich gewesen, die teilweise vorhandenen Übernahmen aus anderen Texten entsprechend zu markieren und offenzulegen.

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Das Schiller-Handbuch wurde als Exempel gewählt, die generell zunehmende Tendenz, Aufsätze oder Textpassagen mit oder ohne ausreichende Kennzeichnung wiederabzudrucken, zu thematisieren. Die Verführung ist im Computerzeitalter groß, durch Verschieben alter Textbausteine oder geringe Änderungen in der Wortstellung schnell einen scheinbar neuen Text zu schaffen. Insbesondere in Jubiläumsjahren, die ihren Tribut an Vorträgen, Aufsätzen und Büchern fordern, ist diese Tendenz verstärkt zu bemerken. Es soll hier nicht verurteilt werden, dass sich Spezialisten wiederholt zu denselben Themen äußern und dass wichtige Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschungen an anderer Stelle erneut publiziert werden; doch sollte dabei bedacht werden, ob bei einer teilweisen Wiederverwertung ein neuer einheitlicher, stringenter Text entsteht, der dem neuen Publikationsort und dem Zielpublikum angemessen ist, und insbesondere sollte – dem wissenschaftlichen Ethos der Disziplin entsprechend – dieses Verfahren offengelegt werden, damit genügend Transparenz gewährt bleibt.



Anmerkungen

Auch diese Rezension wurde bereits im »Goethezeitportal« (http://www.goethezeitportal.de/) veröffentlicht. Eine stark abgewandelte, der anderen Zielgruppe entsprechende Kritik wird im Jahr 2006 in der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte erscheinen, bei der die Absätze zu Konkurrenten auf dem Buchmarkt, zum Aufbau des Handbuchs und zur Jungfrau von Orleans übernommen werden.   zurück
Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf-Peter Janz, Gerhard Kluge, Herbert Kraft, Georg Kurscheidt, Matthias Luserke, Norbert Oellers, Mirjam Springer und Frithjof Stock. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1988–2004 (im folgenden: FA).   zurück
Carsten Zelle: Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Weimar 1994, S. 440–468.   zurück
Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller. Tübingen u.a.: Francke 2005 (im folgenden: Luserke-Jaqui: Schiller).   zurück