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Boccaccio ungenannt

  • Silke Schünemann: »Florio und Bianceffora« (1499). Studien zu einer literarischen Übersetzung. (Frühe Neuzeit 106) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VIII, 336 S. Leinen. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-484-36606-0.
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Boccaccios Filocolo
und seine deutsche Übersetzung

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Giovanni Boccaccio zählt zu den bekanntesten Autoren der Weltliteratur und gehört zu den im deutschen Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit vergleichsweise breit überlieferten und rezipierten Autoren des italienischen Frühhumanismus, freilich mit weitem Abstand hinter Petrarca. 1 Seinen Ruhm verdankt er in erster Linie dem Decameron, der Novellensammlung, die zum Inbegriff der Gattung wurde. Im deutschen Humanismus wurden aber auch seine lateinischen Werke überliefert und übersetzt: So übertrug Heinrich Steinhöwel 1472/73 De claris mulieribus, Hieronymus Ziegler 1545 De casibus virorum illustrium. Daneben ist die Bedeutung der Genealogia deorum gentilium als eines mythologischen Handbuchs in Spätmittelalter und Humanismus schwerlich zu überschätzen, jedoch noch wenig erforscht. Weniger verbreitet sind indes Boccaccios übrige volkssprachige Erzählungen, Novellen und Romane, die teils in Prosa, teils in Versen abgefaßt sind. Von ihnen ist der Filocolo, ein Prosaroman von beträchtlichem Umfang (mehr als 600 Seiten in der maßgeblichen kritischen Ausgabe, vgl. S. 23), spätestens 1499 ins Deutsche übertragen worden; in diesem Jahr wurde die Übersetzung unter dem Titel Ein gar schone new histori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio: vnnd seyner lieben Bianceffora [...] (vgl. S. 302) erstmals gedruckt. Diese Übertragung, in der Forschung kurz Florio und Bianceffora genannt, eine kürzende, im Kernbestand des Romans jedoch vollständige anonyme Übersetzung, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

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Da die deutsche Übertragung nicht nur den Namen des Übersetzers, sondern auch den des Verfassers der Vorlage nirgends nennt, 2 ist sie im Rahmen des durchaus beackerten Forschungsfeldes ›Boccaccio in Deutschland‹ selten erwähnt worden und wird in Schünemanns Monographie erstmals näher untersucht. Der jüngste Überblick zur frühen deutschen Boccaccio-Rezeption konnte die relative Unbekanntheit dieser Übersetzung in der deutschen Literaturgeschichte gar einen »Skandal« 3 nennen. Die geringe Bekanntheit gilt nicht nur für die anonyme Übersetzung des Filocolo von 1499. Über den Buchhandel ist gegenwärtig weder eine Ausgabe des Filocolo noch eine deutsche Übersetzung zu beziehen; nach dem letzten Druck der von Schünemann untersuchten Übersetzung (1587) scheint überhaupt keine deutsche Übersetzung mehr erschienen zu sein. 4 Florio und Bianceffora ist somit nicht nur die erste, sondern bis heute wohl auch die einzige vollständige Übertragung des Filocolo ins Deutsche.

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Boccaccios Filocolo erzählt den in den Literaturen des europäischen Mittelalters weit verbreiteten Stoff von Florio (in anderen Versionen Flore, Floire, Floris usf.), einem heidnischen Königssohn, und Biancifiora (auch Blanscheflur o. ä.), Tochter einer christlichen Gefangenen des heidnischen Königs. Die beiden wachsen gemeinsam auf, verlieben sich in frühester Kindheit ineinander und werden von Florios Eltern getrennt. Florio macht sich – bei Boccaccio unter dem Pseudonym Filocolo – auf die Suche nach der Geliebten und erreicht nach zahlreichen Fährnissen die glückliche Vereinigung mit Biancifiora. Boccaccio fügt dem narrativen Nukleus zwei Rahmenerzählungen, eine genealogische und eine biographisch verschlüsselnde über die Motivation zum Erzählen der Geschichte, sowie eine Vorgeschichte (über Florios Eltern) an, er inseriert zahlreiche Episoden und legt ein Netz mythologischer Verweise auf heidnische Götter über die Handlung. Vor allem aber macht er durch zahlreiche Erzählerreflexionen und die Einfügung eines veritablen galanten Gesprächsspiels, der »questioni d’amore« (vgl. S. 34–41), den Filocolo zu einem philosophischen Roman, der die Liebe nicht nur darstellt, sondern sein Thema in vielfältiger Weise erörtert.

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Aufbau der Arbeit

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Schünemanns Arbeit, eine 2003 abgeschlossenen Göttinger germanistische Dissertation, ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. Das erste spannt – gewaltsam – »Entstehungskontext«, gemeint ist derjenige der deutschen Übersetzung und ihres Erstdrucks, und die europäische Tradition des Florisstoffes zusammen, im zweiten werden Boccaccios Filocolo, seine Überlieferung und literarische Struktur vorgestellt und mögliche Vorlagen der deutschen Übersetzung diskutiert. Herzstück der Arbeit ist die in Kapitel 3 geleistete philologische Analyse der Übersetzung. Sie ist unglücklich »Übersetzungsvergleich« überschrieben, denn verglichen werden ja nicht verschiedene Übersetzungen, sondern die Übersetzung mit der Vorlage. Dieses Kernkapitel, das 140 von 336 Seiten des Buches einnimmt, ist in acht Unterkapitel gegliedert, die der Untersuchungsmethode, dem Textbestand der Übersetzung, ferner Wortschatz, Syntax, Paarformen und einer Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse gelten.

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Im vierten Kapitel wird Florio und Bianceffora im literaturgeschichtlichen Kontext des frühneuhochdeutschen Prosaromans (4.1.) verortet, und es werden unter dem Rubrum der »Rezeption [...] im 15./16. Jahrhundert« (S. 277) weitere buch- und literaturgeschichtliche Einordnungsversuche in heterogene Phänomene (zeitgenössische Buchproduktion, Boccaccio-Rezeption, »Prosa-Literatur« [S. 286], ermittelte Besitzer der Übersetzung) vorgenommen. Anhänge zum zweiten und dritten Kapitel bieten Beispiele des Untersuchungsmaterials in übersichtlichen Synopsen, ein Anhang zu Kapitel 4 bringt Beschreibungen der acht Drucke von Florio und Bianceffora (mit sämtlichen ermittelten Exemplaren) und einer exzerptförmigen Druckabschrift. Ein knappes »Gesamtresümee« (S. 314–318) faßt die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

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Das Literaturverzeichnis (Kapitel 6) ist in Abkürzungen, Textausgaben und Forschungsliteratur gegliedert. Da der jüngste verzeichnete Titel von 2002 datiert, scheint Literatur, die nach Abschluß der Dissertation erschienen ist, nicht mehr verarbeitet zu sein. Ein Personen- und Werkregister erhöht die Benutzbarkeit.

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Der Aufriß der Arbeit ist sachgemäß und plausibel. Allein die Ausführungen zu den ältesten Drucken von Florio und Bianceffora und ihrem Drucker Kaspar Hochfeder (Kapitel1.1.) stünden besser am Beginn des dritten oder des vierten Kapitels. Der folgende Überblick über die europaweite Verbreitung des Florisstoffes (Kapitel 1.2.) stellt die wichtigste Voraussetzung von Boccaccios Filocolo dar; dieser Darstellung kann die Diskussion des Umfelds von dessen Übersetzung sachlogisch nicht voraufgehen. Unglücklich ist auch die Entscheidung, die Diskussion der Übersetzung »im Kontext der zeitgenössischen Prosa-Literatur« (Kapitel 4.2.3.) zur »Rezeption von Florio und Bianceffora im 15./16. Jahrhundert« (Kapitel 4.2.) zu stellen, denn die dort erörterten Fragen, vor allem die Bedeutung des histori-Begriffs und die forschungsgeschichtlichen Folgen der Klassifizierung als ›Volksbuch‹, gehören sachlich ins Kapitel 4.1. (»Strukturelle und thematische Bezüge zum zeitgenössischen Prosaroman«).

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Genau betrachtet ist die Überschrift zu Kapitel 4.2. (»Rezeption von Florio und Bianceffora [...]«) im ganzen fragwürdig, denn allein die Darstellung ermittelter Besitzer von Exemplaren der Filocolo-Übersetzung gehört zweifelsfrei zur Rezeption dieses Werks; die anderen Aspekte, die »Buchproduktion zu Beginn der frühen Neuzeit« und die Einordnung dieser Übersetzung in den »Kontext der Boccaccio-Rezeption«, gehören eher zu den produktionsseitigen Voraussetzungen der Übersetzung. Man vermißt in diesem Kapitel die Darstellung der Veränderungen und Zusätze der fünf späteren, nicht mehr von Hochfeder hergestellten Drucke von Florio und Bianceffora im 16. Jahrhundert. Schünemann skizziert die Eigenheiten der späteren Drucke in drei Sätzen erst zu Beginn der als Anhang zu Kapitel 4 gegebenen Druck- und Exemplarbeschreibungen (S. 302). Antworten auf weitergehende Fragen muß der Leser aus den Druckbeschreibungen erschließen.

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Philologische Analyse
der Übersetzung

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Der eigentlichen Analyse der deutschen Übersetzung hat Schünemann dankenswerterweise ein Kapitel zu Boccaccios Filocolo vorangestellt, in dem »Struktur und Gehalt« (S. 22) sowie – fokussiert auf die gesuchte Vorlage der Übersetzung – die Überlieferung des Romans vorgestellt und diskutiert werden. In souveräner Diskussion der romanistischen Forschung und mit deutlichen eigenen Akzenten entwirft Schünemann hier eine Interpretation von Boccaccios Roman, die Voraussetzung ist für eine Interpretation der Übersetzung in Florio und Bianceffora. Hervorzuheben sind die gelungenen Übersetzungen aus dem Italienischen, die Schünemann allen Zitaten aus dem Filocolo beigibt; sie stehen selbst dort, wo der italienischen Vorlage die frühneuhochdeutsche Übersetzung gegenübergestellt ist, und sie ermöglichen einen lückenlosen Nachvollzug des Vergleichs und der darauf gestützten Argumentation.

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Unter den Handschriften und Inkunabeldrucken des Filocolo kann Schünemann zwar den der deutschen Übersetzung nächststehenden Überlieferungszweig isolieren, muß aber konstatieren, daß ein individueller erhaltener Textzeuge als Vorlage nicht erwiesen werden kann (S. 69 f.). Dieser auf Grundlage der Rezension der Vorlagenüberlieferung in einer kritischen Ausgabe gewonnene Befund wird durch zwei Synopsen nachvollziehbar. Schünemanns Zurückhaltung an dieser Stelle ist begrüßenswert, und es spricht für ihre Sorgfalt, daß sie die vom philologischen Befund gesetzten Grenzen des Ermittelbaren nicht überschreitet, auch wenn die anschließenden Beobachtungen durch dieses Ergebnis hypothetischer bleiben. Durch die generell geringe Varianz in der Überlieferung des Filocolo bleibt diese Hypothetizität methodisch beherrschbar.

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Das Kernkapitel zur Analyse der Übersetzungstechnik in Florio und Bianceffora ist nicht nur das wichtigste, sondern auch das gelungenste des Buches. Schünemann arbeitet das Verfahren des anonymen Übersetzers in der Anlage des Romans wie im Detail klar heraus. So kann sie darauf hinweisen, daß der Anonymus 41 Kapitel des Filocolo ganz fortläßt und ebensoviele stark kürzt (S. 81). Sie arbeitet heraus, daß der Übersetzer zugleich mit der Rahmenerzählung systematisch alle Bezüge des Filocolo auf seinen Autor Boccaccio streicht, folgerichtig auch alle auf die Biographie des Autors verweisenden Züge der Erzählerfigur (S. 91 f.). In Klartext überführt werden die von Boccaccio oft astrologisch verschlüsselt gegebenen Zeit- und Datumsangaben, gekürzt sind die zahlreichen Visionen der Figuren (S. 85), schließlich ist die Teilnahme der heidnischen Götterwelt an der Handlung in der deutschen Version gegenüber der italienischen Vorlage stark reduziert und dort, wo sie noch vorkommt, stärker negativ bewertet. Gestrichen oder stark gekürzt werden die Erzähler-Exkurse des Filocolo (S. 116–119), dagegen übernimmt die Übersetzung die zahlreichen Sprichwörter und Redensarten der Vorlage, fügt sogar neue hinzu. Generell kann Schünemann für Florio und Bianceffora eine Tendenz zur Reduktion von Offenheit in der Bewertung des Erzählten feststellen.

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Die Ergebnisse der Analyse der Erzähltechnik erreicht Schünemann ohne Rückgriff auf erzähltheoretische Ansätze. Durch den damit gegebenen Verzicht auf strukturalistisches Vokabular liest sich ihre Analyse angenehm unprätentiös; andererseits hat man nie den Eindruck, als würde die Beschreibung im Vokabular der vorstrukturalistischen Literaturwissenschaft der Komplexität der beschriebenen Phänomene nicht gerecht. Im Gegenteil gelingt es Schünemann, den Vergleich der beiden umfangreichen Erzähltexte stringent und unter Beschränkung auf die wichtigsten Bearbeitungstendenzen, die mit wenigen instruktiven Beispielen illustriert werden, auf knappem Raum durchzuführen.

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Ähnliches gilt für die sich anschließenden vergleichenden Studien zur Lexik, zur Syntax und zu den sogenannten Paarformen als einer charakteristischen syntaktischen Erscheinung. Hier kann Schünemann durch Detailanalysen zu bestimmten Wortbereichen (Kommunikation, Affekte, Wahrnehmung, Mythologie u. a.), zu Fremd- beziehungsweise Lehnwörtern und zu verschiedenen syntaktischen Figuren (Verb-Endstellung, Syndese / Asyndese, Ellipsen, Nominalstil, Para- beziehungsweise Hypotaxe) Tendenzen der Übersetzung, etwa die geringfügige Vereinfachung der Syntax der Vorlage, herausarbeiten, die sie als »charakteristisch für die zeitgenössische Übersetzungsliteratur« (S. 152) bezeichnet. Exemplarisch vertieft sind die Untersuchungen zu den Paarformen (mehrgliedrigen Ausdrücken), die Schünemann in kritischer Auseinandersetzung mit der sprachgeschichtlichen Forschung und unter Zugrundelegung einer eigenen Klassifizierung verschiedener Formen (S. 195–198) durchführt. Sie kann zeigen, daß die Paarformen in Florio und Bianceffora je nach Typus unterschiedliche Funktion erfüllen, die regelmäßig »stilistische und semantische Funktionen miteinander« (S. 222) verknüpfen.

[17] 

Schünemanns Analyse der Übersetzungstechnik bringt gegenüber den wenigen, von ihr gewürdigten Vorarbeiten entscheidenden Erkenntnisgewinn und gibt erstmals ein klares Bild von den Eigenheiten von Florio und Bianceffora als einer bearbeitenden Übersetzung des Filocolo.

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Berücksichtigung
buchwissenschaftlicher Aspekte

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Wie es die Überlieferung von Florio und Bianceffora fast ausschließlich im Frühdruck nahelegt, hat Schünemann buchwissenschaftliche Aspekte in ihre Untersuchung einbezogen. Dabei ist sie allerdings nicht bis zu einem vertieften Kenntnisstand der Inkunabel- und Frühdruckforschung vorgedrungen und erreicht bei weitem nicht die Qualität der für die Humanismusforschung maßstabsetzenden Studien. 5 Das vierte Kapitel, das Ergebnisse zu buchwissenschaftlichen Aspekten des Gegenstands bündelt, fällt in Ertrag und Zuverlässigkeit gegenüber den Kernkapiteln stark ab. So verrät die Verwendung des Ausdrucks »Einzeldrucke« (S. 290) an Stellen, an denen die Gesamtzahl der Exemplare aller Drucke von Florio und Bianceffora gemeint ist, terminologische Unsicherheit. Die fundamentale Unterscheidung von Druck und Exemplar ist generell nicht durchgehalten (vgl. S. 290 f.); auch werden Sammelbände irreführend als »Druckverbände« (S. 317) bezeichnet.

[20] 

Die an zwei Orten anzutreffende Beschreibung des Erstdrucks weist beim ersten Mal (S. 5) Fehler in der Transkription der Titelseite auf, die in den »Druckbeschreibungen« im Anhang (S. 302) korrigiert sind.

[21] 

Allzu knapp werden im Kontext der Diskussion der Vorlage der Übersetzung die Inkunabeldrucke des italienischen Filocolo verzeichnet (S. 51 f.). Freilich konnte Schünemann, deren Gegenstand die deutsche Bearbeitung von 1499 ist, hier leicht auf detaillierte Druckbeschreibungen verzichten, zumal die Drucke im Gesamtverzeichnis der Wiegendrucke (kurz: GW, Nr. 4462–4469) verzeichnet sind. Doch hätte die Nummer dieser maßgeblichen Inkunabelbibliographie jeweils hinter der Kurzbeschreibung vermerkt werden müssen, denn Schünemann bemerkt zu einer von ihr nach älteren Bibliographien angeführten zweifelhaften Ausgabe, diese sei »[w]ahrscheinlich identisch mit [scil. GW-]Nr. 4467 oder 4468« (S. 52). Diese Information ist nur nach Konsultation des GW aufzulösen, denn Schünemann nennt die acht Einträge im GW nur summarisch zu Beginn der Liste (S. 51 Anm. 80), die (wegen der Aufnahme der zweifelhaften Ausgabe) überdies neun Positionen enthält.

[22] 

Obwohl augenscheinlich am Maßstab moderner Frühdruckkatalogisierung orientiert, ist der als Anhang zu Kapitel 4 gebrachte Katalog der sieben Drucke mit sämtlichen Exemplaren im Detail von unzureichender Sachkenntnis und Sorgfalt geprägt. Gegenüber den in der maßgeblichen Bibliographie zum deutschen Prosaroman 6 verzeichneten Drucken und Exemplaren sind ein Exemplar des Erstdrucks und eine Druckabschrift hinzugekommen. Die Siglen der besitzenden Bibliotheken hat Schünemann offenbar aus anderen Katalogen übernommen; sie sind im Abkürzungsverzeichnis nicht aufgelöst, sie sind fehlerhaft (S. 308: »HSB« für die Herzog August Bibliothek) und (offenbar je nach bibliographischer Vorlage) uneinheitlich, und bald (S. 310: »Rudolstadt«, ergänze: Historische Bibliothek; ähnlich S. 308 f.) fehlt die Bibliotheksbezeichnung ganz, bald auch die Signatur (S. 311).

[23] 

In den meisten Fällen wird es dem kundigen Benutzer möglich sein, die Siglen aufzulösen beziehungsweise zu ergänzen. 7 Doch werden auch Fachkollegen herumraten müssen, um darauf zu kommen, daß sich hinter der Sigle »Moskau, LB« (S. 312) die ehemalige Lenin-Bibliothek, Staatsbibliothek der UdSSR, verbirgt, die heute den Namen ›Staatliche Russische Bibliothek Moskau‹ trägt. Zu Zeiten von Schünemanns Gewährsstudie (1991) hieß sie noch Lenin-Bibliothek.

[24] 

Namentlich ermittelte Vorbesitzer der verzeichneten Exemplare werden mit unterschiedlicher Intensität erläutert. Zumeist gibt Schünemann Lebensdaten und kurze Biogramme, die sie gängigen Nachschlagewerken entnimmt. Zuweilen (S. 303) aber gibt sie auch bekannten Persönlichkeiten der Gelehrtengeschichte, etwa Gottfried Thomasius (1660–1746), nicht einmal ihren Vornamen, obwohl in der zitierten oder verwendeten Literatur (vgl. S. 303 Anm. 203, S. 326) Angaben über den Nürnberger Polyhistor und Büchersammler zu finden sind. Andererseits werden auch besitzgeschichtlich unerhebliche Angaben, wie die handschriftliche Zuweisung des zweiten Drucks Hochfeders von 1500 an einen Basler Drucker in einem der Exemplare, fraglos durch die Hand eines Bibliothekars, durch eigene Anmerkungen erläutert (S. 305 Anm. 204), so als handle es sich um einen Vorbesitzer. Hieronymus Holzschuher, der sich als Käufer und Besitzer in das Göttinger Exemplar des Erstdrucks eintrug, wird von Schünemann mithilfe von Zedlers Universal-Lexikon von 1735 als »Mitglied einer angesehenen Nürnberger Patrizierfamilie, Schwiegersohn von Hieronymus Münzer und Erbe von dessen [...] Bibliothek« (S. 303 Anm. 202) identifiziert. Die Angaben sind zutreffend, doch hätte die Konsultation neuerer Literatur 8 die exakten Lebensdaten (1468–1529) und weiteres über den Paduaner Kommilitonen Willibald Pirckheimers 9 und engen Freund Albrecht Dürers, dessen Porträt von 1526 in der Gemäldegalerie Berlin erhalten ist, 10 erbringen können.

[25] 

Die in Sammelbänden beigebundenen Drucke verzeichnet Schünemann mit Kurztiteln ohne jedes erkennbare System: Mal nennt sie Druckort, Drucker und Jahr (S. 308), mal nur zwei, mal nur eine (S. 309) und zuweilen sogar keine der drei (S. 310) konstitutiven Größen. Die Kurztitel sind zuweilen ungrammatisch (S. 310: Genetiv ohne Nominativ) und in keinem Fall wurden die verwendeten Bibliographien benutzt, um die Drucke zu identifizieren und gegebenenfalls fehlende Größen zu erschließen.

[26] 

Ein echtes Ärgernis aber ist die Verzeichnung von Exzerpten aus Florio und Bianceffora in einer Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (Cgm 1137). Hier (S. 313) hat Schünemann nahezu alle Angaben wörtlich aus Karin Schneiders Katalog übernommen, 11 ohne die Zitate als solche zu kennzeichnen. Da Schünemann zudem nicht angibt, ob sie die Handschrift eingesehen hat, und sie den irritierenden Überlieferungsbefund – die Exzerpte befinden sich in alter Überlieferungsgemeinschaft unter anderem mit einem Autograph Heinrich Steinhöwels – nicht fehlerlos referiert, ist unklar, auf welchem Weg sie zu dem Ergebnis gekommen ist, es handele sich um eine »Druckabschrift des 16. Jahrhunderts« (ebd.).

[27] 

Die Berücksichtigung der Druck- und Besitzgeschichte hinterläßt einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Die Autorin ist hier mit geringerer Sorgfalt und Sachkenntnis vorgegangen als in den im engeren Sinne literaturwissenschaftlichen Kapiteln des Buches. Auch die buchwissenschaftlichen Aspekte der Philologie aber lassen sich nur mit Sorgfalt betreiben.

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Schönheitsfehler

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Kleinere Mängel haften auch anderen Teilen der Arbeit an. Bereits das Inhaltsverzeichnis bildet den Text der Kapitelüberschriften nicht spiegelbildlich ab (vgl. S. VII mit S. 71); die Anhänge zu einzelnen Unterkapiteln sind nur wahlweise aufgenommen. In der Untergliederung des Kapitels 3.7.3., das den »eigene[n] Ansatz« und vor allem die Analyse der Paarformen im Roman bietet, ist eine von der Dezimalgliederung abweichende Unterteilung eingeführt worden, deren Aufriß (S. 197 f.) nicht zur Gänze mit der Durchführung übereinstimmt und die nicht im Inhaltsverzeichnis aufscheint.

[30] 

Tippfehler oder Fehlschreibungen sind selten (S. [VI], 22), aber auch Grammatikfehler finden sich (z. B. S. 208, 276); Redundanzen im Ausdruck (S. 137, 147) hätte ein Lektorat ausgemerzt. Ähnlich wie der anonyme Übersetzer, der Namen antiker Personen oder Figuren in aller Regel in der italienischen Form der Vorlage, wie eine Synopse ausgewählter Personennamen verdeutlicht (S. 71–76), zuweilen aber auch deutsch (S. 135: »niße« für »Niso« der Vorlage) gibt, entscheidet sich Schünemann nicht konsequent für die italienische oder lateinische beziehungsweise deutsche Namensform antiker Figuren; so steht ein deutscher »Achill« neben einem italienischen »Niso« (S. 135).

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Die frühneuhochdeutschen Zitate aus dem Erstdruck von 1499 gibt Schünemann, die ihre Vorlage nennt (S. 3 Anm. 6), nicht aber die Zitationsweise erläutert, weitestgehend diplomatisch, das heißt unter Nachbildung der in der Quelle verwendeten Kürzungszeichen, besonders des Nasalstrichs und übergeschriebener Buchstaben, wieder. Das Ergebnis dieses mühevollen Verfahrens ist gelungen und gut lesbar. Allein die Transkription eines v mit übergeschriebenem Häkchen (ähnlich einer hochgestellten Neun) 12 durch v mit übergeschriebenem e (S. 82 Anm. 18, 100, 101, 105, 134, 167 u. ö.) ist irrig. Die Abbreviatur steht in deutschen Texten fast stets für das Präfix »ver-«; im Erstdruck steht dasselbe Kürzungszeichen häufig hinter d für »der«. Die zitierten Wörter sind »v[er]nomen«, »v[er]giffte« usw. zu lesen.

[32] 

Trotz der im ganzen sorgfältigen Zitierweise ist einmal ein ganz sinnloser Satz in einem Blockzitat stehengeblieben (S. 125), in den instruktiven Synopsen von Vorlage und Übersetzung (S. 59–64) ist in der linken Spalte, die den italienischen Text bietet, mancher Trennfehler zu finden, und ein Absatz aus Florio und Bianceffora (S. 62 oben) steht an der falschen Stelle.

[33] 

Schünemann irritiert die Leser dadurch, daß sie an Begriffen festhält, deren Problematik ihr bewußt ist. So spricht sie (auch in Kapitelüberschriften) stets nur von »Fremdwörter[n]« (S. 146, 153 und passim), obwohl sie einräumt, daß die von ihr herangezogenen Beispiele besser »als Lehnwörter bzw. hybride Formen zu bezeichnen« seien (S. 146 Anm. 136). Im Kapitel zu den Paarformen hält sie an der Bezeichnung »›zweisprachige‹ Paarformen« (S. 192, 204–209) für Paarformen aus einem Lehn- und einem Stammwort fest, obwohl ihr die Problematik des Adjektivs ›zweisprachig‹ für Ausdrücke des Typs »buß vnd penitentz« (S. 192 Anm. 250), deren Lehnwort-Bestandteil morphologisch der deutschen Sprache angepaßt ist, bewußt ist. Umso unverständlicher ist es, daß sie nach der Einführung des Begriffs auf die Verwendung der Anführungszeichen verzichtet und einfachhin von der »zweisprachigen Paarform« (S. 205 u. ö.) spricht. Man gewinnt den Eindruck, die Autorin habe hier kritische Hinweise von Lesern der Dissertation durch die Einfügung von Anmerkungen in die Druckfassung aufnehmen wollen, anstatt – wie erforderlich – ihre Terminologie zu korrigieren.

[34] 

Systematisch irreführend ist der Gebrauch von Kurztiteln bei zitierten Ausgaben. Bei der immer wieder zitierten Filocolo-Ausgabe mag der Kurztitel »Quaglio (1998)« (S. 22 Anm. 2–3 und passim) noch unproblematisch sein, auch wenn im Verzeichnis der verwendeten Textausgaben (S. 322 f.) diese alphabetisch nach den Verfassern beziehungsweise (bei Anonyma) nach dem Werktitel und nicht nach den Namen der Herausgeber geordnet sind. Wenn aber ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem edierten Werk mit »Sommer (1846)« (S. 46 Anm. 66) auf Emil Sommers Ausgabe von Konrad Flecks Flore und Blanscheflur, 13 die unter den Ausgaben verzeichnet ist (S. 322), verwiesen wird, wird der Leser zunächst erfolglos im Verzeichnis der Forschungsliteratur suchen, bevor er zu den Textausgaben blättert und auch hier nur fündig wird, nachdem er sämtliche verzeichneten Ausgaben auf einen Herausgeber Sommer durchforstet hat. Derart grundlegende redaktionelle Probleme sollten die Reihenherausgeber ein für allemal verbindlich für die gesamte Reihe lösen. Entweder ordnet man das Verzeichnis der Ausgaben nach Herausgebern, dann ist es angängig, Kurztitel nur mit dem Namen des Herausgebers zu bilden, oder der Kurztitel muß nach dem Muster »Fleck ed. Sommer (1846)« gebildet werden.

[35] 

Wenn Schünemann ohne Beleg behauptet, daß Joachim Theisens 14 Versuch, für Arigos Decameron-Übersetzung den sogenannten ›Deo-Gratias-Druck‹ des italienischen Originaltexts »als sichere Vorlage [...] zu identifizieren«, »[a]ls gescheitert gelten« muß (S. 50 Anm. 77), wird sie sich schwerlich auf eigene Untersuchungen, sondern vermutlich auf eine Rezension des genannten Buchs 15 stützen, eine Arbeit, die indes erst in anderem Zusammenhang (S. 79 Anm. 11) zitiert wird.

[36] 

Manche Information – vor allem im überblicksartigen vierten Kapitel – hat Schünemann ungeprüft aus zweiter Hand übernommen. So referiert sie zeitgenössische Urteile über die frühneuhochdeutschen Prosaromane anscheinend nach einer Dissertation von 1961 und übernimmt von dort einen ins Deutsche übersetzten Titel einer lateinischen Schrift Agrippas von Nettesheim 16 und den in einer deutschen Übersetzung des 16. Jahrhunderts eingedeutschten Namen des Gabriel Dupuyherbault (du Puy-Herbault, Putherbeus) aus Tours, 17 der so (auch im Register) zu einem »Gabriel Putherbeien aus Thuron« (S. 296, vgl. S. 335) wird.

[37] 

Im Literaturverzeichnis (S. 329) wird der Artikel zu Florio und Bianceffora im Verfasserlexikon Walter Röll zugeschrieben, der nur den Abschnitt zu den jiddischen Bearbeitungen verfaßte; Autor des einschlägigen Abschnitts zur frühneuhochdeutschen Übersetzung von 1499 ist Hartmut Beckers. 18 Eine Monographie zu Ulrichs von Hutten deutschen Schriften mit einem zweideutigen Titel 19 ist versehentlich unter die Ausgaben geraten (S. 323), und die klassische Untersuchung Saturn und Melancholie wird ohne ihren dritten Verfasser, Fritz Saxl, zitiert (S. 256, 326), zudem differiert das angegebene Erscheinungsjahr zwischen Anmerkung im Text und Literaturverzeichnis, und dort werden die Verfasser zu Herausgebern.

[38] 

Im Register wird Hermann Bote, der Braunschweiger Zollschreiber, der nur niederdeutsch schrieb, wieder zum Verfasser des oberdeutschen ›Ulenspiegel‹ erhoben (S. [333]), obwohl Schünemann dies im Text (S. 288 Anm. 151, S. 294) nicht behauptet. Hier sollten die Reihenherausgeber der Fortschreibung einer inzwischen zumindest umstrittenen, wenn nicht überholten Forschungsposition 20 im Register wehren.

[39] 

Ergänzende Hinweise

[40] 

Einer Arbeit, die einen großen Stoffkomplex so klug zusammenfaßt, Lücken in der Verarbeitung der Forschungsliteratur zu angrenzenden Gegenständen vorzuwerfen, wäre unbillig. Zum Überblick über die Literatur zu (früh)humanistischen Übersetzungen, die solche aus dem Lateinischen ausdrücklich miteinbezieht (vgl. S. 77–81), sei daher ergänzend auf Simone Drückes 2001 erschienene Dissertation zum »Übersetzungswerk« Johann Gottfrieds verwiesen, 21 einer Studie, der Erich Kleinschmidt die »Qualität einer Leitstudie« 22 zuerkennt.

[41] 

Im Literaturverzeichnis hätte Michael Dallapiazzas Katalog der deutschen Boccaccio-Handschriften 23 wohl auch dann genannt werden sollen, wenn alle den Filocolo betreffenden Informationen in den flankierenden und auswertenden Beiträgen des Autors – diese zitiert Schünemann (S. 324 f.) – enthalten sein mögen. Auch ein wichtiger Beitrag zur frühen deutschen Decameron-Rezeption, der zentrale Aspekte der Rezeption im 16. Jahrhundert aufarbeitet, bleibt ungenannt; 24 ein anderer erschien vielleicht zu spät, 25 um noch verarbeitet zu werden. Notwendigerweise ist Schünemanns Auseinandersetzung mit der romanistischen Forschung selektiv; doch sei ergänzend auf zwei zentrale Arbeiten zu Boccaccios Umgang mit der heidnischen Götterwelt 26 verwiesen.

[42] 

Grenzen des Ansatzes

[43] 

Schünemann verzichtet gänzlich auf eine sprachgeographische Analyse des erstmals im lothringischen Metz, einer mehrheitlich französischsprachigen freien Reichsstadt des Heiligen Römischen Reichs, erschienenen Prosaromans. Das ist angesichts der Überlieferung von Florio und Bianceffora nur im Druck verständlich, da die geographische Einordnung von Druckersprachen der Forschung schwerer fällt als diejenige von Schreibsprachen in Handschriften. Unmöglich ist sie freilich nicht, wie etwa die systematische Analyse des Lautstands des vieldiskutierten Erstdrucks von Arigos Decameron-Übersetzung (um 1476) durch Christa Bertelsmeier-Kierst zeigt. 27 Eine sprachgeographische Untersuchung bleibt für Florio und Bianceffora daher ein Desiderat. Hingewiesen sei zumindest darauf, daß einige von Schünemann zitierte Formen, entweder lexikalisch, wie »zacherten«, (S. 162, für ›weinten‹) oder phonetisch, wie »blan« (S. 166, statt ›plan‹ für ›Ebene‹, ›freie Fläche‹), 28 ins Nord- oder Ostoberdeutsche zu weisen scheinen. Da Kaspar Hochfeder, Drucker des Erstdrucks von Florio und Bianceffora und einzige im Druck genannte historische Person, 1486 das Nürnberger Bürgerrecht erwarb und 1491 bis 1498 in Nürnberg datiert druckte (vgl. S. 9 f.), könnte eine Bevorzugung solcher Formen darauf deuten, daß der Übersetzer wie der Erstdrucker aus dem nordbairischen Raum stammt. Da der Erstdruck mit 100 Holzschnitten, die eigens für diesen Druck angefertigt wurden und die von der kunstgeschichtlichen Forschung nach Nürnberg verwiesen werden (vgl. S. 7 f.), ausgestattet ist, besitzt die Vorstellung einer in Nürnberg oder Umgebung ausgeführten Übersetzung, die von Hochfeder, der erst 1498 oder 1499 nach Metz ging, an der neuen Wirkungsstätte ausgeführt wurde, einige Anziehungskraft.

[44] 

Auch auf eine Untersuchung zum Zusammenhang der Übersetzung mit den (für diese Publikation angefertigten) Illustrationen verzichtet Schünemann zur Gänze, ein Verzicht, der durch eine neuere kunstgeschichtliche Studie zur Illustrationstradition des Florisstoffs 29 – auf sie verweist Schünemann (S. 7 f.) für die Beschreibungen der Holzschnitte – weniger ins Gewicht fällt. Dennoch ist die Einbeziehung der Holzschnittillustration, die in Form von Wiederverwendung der originalen Holzstöcke oder von Neuschnitten auch sämtlichen späteren Drucken eignet, für künftige Untersuchungen zu Florio und Bianceffora ein Desiderat, da das Text-Bild-Verhältnis bisher weder von germanistischer noch von kunsthistorischer Seite gewürdigt wurde.

[45] 

Obwohl die Untersuchung der Übersetzungstechnik im Mittelpunkt der Untersuchung steht, ist doch eine Einordnung von Florio und Bianceffora in eine Geschichte der Prosaübersetzungen in der deutschen Literatur des späten Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit nur kursorisch vorgenommen (S. 76 Anm. 1, 92–94 u. ö.); auch die Zuordnung der Übersetzung zur literarischen Bewegung des Humanismus kommt über gelegentliche treffende Beobachtungen nicht hinaus, krankt vor allem daran, daß als Vergleichsgrößen die etwa eine Generation zurückliegenden Übersetzungen der Frühhumanisten Niklas von Wyle, Steinhöwel und Arigo herangezogen werden, nicht dagegen zeitlich näher stehende Bemühungen wie Sebastian Brants Übersetzungen didaktischer Schultexte 30 und Johann Sieders große Prosaübertragungen (Apuleius, Lukian) 31 .

[46] 

Hilfreich könnte für künftige Studien zum Thema der Anschluß an Franz Josef Worstbrocks Unterscheidung zwischen Wiedererzählen und Übersetzen sein, eine Unterscheidung, an die die so einfache wie frappierende (und vielleicht allzu zugespitzte) These geknüpft ist, daß Übersetzungen im modernen Sinn erst mit einem im Humanismus entwickelten Textbegriff möglich wurden. 32

[47] 

Verdienst

[48] 

Schünemann hat mit ihrer Monographie zu Florio und Bianceffora eine Forschungslücke zum frühneuhochdeutschen Prosaroman und zur deutschen Boccaccio-Rezeption ausgefüllt. An ihrer Studie wird keiner, der sich künftig mit der deutschen Übersetzung des Filocolo beschäftigen wird, vorbeigehen. Für Übersetzungen ähnlich umfänglicher Texte wird man Schünemanns klug auswählender und raffender Untersuchung Modellcharakter zusprechen dürfen. Auch Untersuchungen zur Stilistik des Frühneuhochdeutschen, besonders zu den Paarformen, werden auf Schünemanns durchdachte und klug systematisierende Analyse zurückgreifen können.

[49] 

Der reiche Ertrag der Studie für die Literaturwissenschaft wird durch die bemängelten Schönheitsfehler nur unwesentlich beeinträchtigt. Dieses positive Urteil muß allerdings für die buchwissenschaftlichen Aspekte der Studie eingeschränkt werden. Ihre Ausführungen im vierten Kapitel und im Katalog der Drucküberlieferung hat Schünemann nicht sorgfältig genug recherchiert und lieblos zusammengestellt. Ein Ertrag der Studie für die Frühdruckforschung ist daher nicht festzustellen.

[50] 

Ferner hat Schünemann umfangreiche Teilaspekte der Romanübersetzung aus ihrer Untersuchung ausgeschlossen. Künftige Forschung wird mit der sprachgeographischen Analyse von Florio und Bianceffora und einer genauen Untersuchung des Textbestands der Drucke des späteren 16. Jahrhunderts noch philologische Grundlagenarbeit zu leisten haben.

[51] 

Darüber hinaus bietet ihre Studie eine Anregung dafür, sich neu mit der Frage zu beschäftigen, wie die Texte der frühen italienischen Humanisten in Deutschland rezipiert werden. Die anonyme Übersetzung von Boccaccios Filocolo in der anonymisierenden deutschen Version von Florio und Bianceffora könnte dabei unter Rückgriff auf die Ergebnisse von Schünemanns Untersuchung als eine in ihrem texttreuen und dem Wortlaut verpflichteten Umgang mit der Vorlage ›moderne‹, das heißt frühneuzeitliche Übersetzung eingeordnet werden, die trotz aller Kürzungen keineswegs dem Typus einer freien, ›wiedererzählenden‹ Bearbeitung zuzurechnen ist. Der humanistischen Übersetzungsliteratur hingegen kann sie nicht zugerechnet werden. Dies bedingt die sorgfältige Tilgung (vgl. S. 92) aller Spuren des Autors Boccaccio und der (mit autorbiographischen Reminiszenzen spielenden) Erzählerfigur im Text, der Verzicht auf den Haupttitel der Vorlage wie die Rücknahme verschiedener Merkmale des Filocolo wie der Einbeziehung der antiken Götterwelt in die Handlung. Man wird für Florio und Bianceffora sogar von einer uneigentlichen Boccaccio-Rezeption sprechen müssen (ähnlich S. 300), da die Tilgung aller Spuren des Autors auf der Titelseite wie im Text in krassem Widerspruch steht zum Verfahren Steinhöwels und Arigos, die den Namen des »hoch gelerte[n] poete[n] Iohannes Boccacio«, 33 ähnlich wie die meisten italienischen Inkunabeldrucke des Filocolo denjenigen des »clarissimo poeta« 34 Boccaccio, bereits auf der Titelseite ihrer Übersetzungen plazieren.



Anmerkungen

So erhielt Boccaccio, anders als Petrarca, im Verfasserlexikon keinen eigenen sogenannten ›Rezeptions-Artikel‹, lediglich der Nachtragsband bietet einen Verweis auf relevante Lemmata; vgl. Kurt Ruh u.a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 11 Bde. Berlin, New York: de Gruyter 1978–2004, hier Bd. 11, 2004, Sp. 266.   zurück
Auf diesen Umstand, auf den der in der Forschung eingebürgerte Werktitel wie der Titel der vorliegenden Arbeit verweisen, macht Schünemann im Verlauf ihrer Untersuchung erst spät (S. 70, 81) aufmerksam, diskutiert dann aber mögliche Ursachen und Funktionen der Anonymisierung (bes. S. 91–93).   zurück
Christa Bertelsmeier-Kierst: Wer rezipiert Boccaccio? Zur Adaption von Boccaccios Werken in der deutschen Literatur des 15. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 127 (1998) S. 410–426, hier S. 426. Schünemann zitiert die Passage in der Einleitung (S. 2).   zurück
Vgl. Frank-Rutger Hausmann / Volker Kapp (Hg.): Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1/1–2/2. Tübingen: Niemeyer 1992–2004. Bd. 1/1, 1992, verzeichnet unter Nr. 0152 fünf Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts; Bd. 2/1, 2004, Nr. 1845, führt einzig den Faksimiledruck (1975) der Editio princeps (s. u. Anm. 12) an.   zurück
Vgl. Gerd Dicke: Heinrich Steinhöwels ›Esopus‹ und seine Fortsetzer. Untersuchungen zu einem Bucherfolg der Frühdruckzeit (Münchener Texte und Untersuchungen 103) Tübingen: Niemeyer 1994. – Jürgen Geiß: Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der Drucküberlieferung. Wiesbaden: Reichert 2002.   zurück
Bodo Gotzkowsky: »Volksbücher«. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. 2 Bde (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 125, 142) Baden-Baden: Koerner 1991–1994, hier Bd. 1, S. 49–53.   zurück
Die meisten Abkürzungen sind bei Bodo Gotzkowsky (Anm. 6), S. 14, aufzulösen.   zurück
Vgl. Michael Diefenbach / Rudolf Endres (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg. 2. Aufl. Nürnberg: Tümmels 2000, S. 458.   zurück
Vgl. Willibald Pirckheimers Briefwechsel. Hg. von Emil Reicke u. a. Bisher 6 Bde. München: Beck 1940–2004. Bd. 2. Hg. von Emil Reicke. 1956, S. 32–34 (Exkurs), Bd. 3. Hg. von Dieter Wuttke. 1989, S. 481, Bd. 4. Hg. von Helga Scheible. 1997, S. 543 (jeweils Register).   zurück
10 
Vgl. Rainald Grosshans. In: Gemäldegalerie Berlin (Prestel Museumsführer). München: Prestel 1998, Nr. 23.   zurück
11 
Die ad verbum übernommenen Passagen bei Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 888–4000 (Catalogus codicum manu scriptorum bibliothecae Monacensis. Editio altera 5/2) Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 152 und 153. Nur der erste Vorname des Andreas Felix Oefele ist bei Schünemann ausgefallen.   zurück
12 
Verglichen anhand des Faksimiles: Florio und Biancefora [!]. [...]. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A 3) Hildesheim: Olms 1975, Bl. [55]r.   zurück
13 
Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung. Hg. von Emil Sommer (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neueste Zeit 12) Quedlinburg: Basse 1846. Online zugänglich unter URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/Sommer1846 Datum des Zugriffs: 10.04.06.   zurück
14 
Joachim Theisen: Arigos Decameron. Übersetzungsstrategie und poetologisches Konzept (Bibliotheca Germanica 37) Tübingen, Basel: Schwabe 1996.   zurück
15 
Christa Bertelsmeier-Kierst: Rez. zu Theisen (Anm. 14). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 126 (1997), S. 476–488. Vgl. auch Ch. B.-K. (Anm. 3), S. 422 Anm. 46.   zurück
16 
Vgl. S. 296: »Agrippa von Nettesheim in seiner Schrift Eitelkeit und Unsicherheit aller Künste und Wissenschaften«. Gemeint ist die Schrift De incertitudine et vanitate scientiarum et artium (Erstdruck 1530), deren erste vollständige deutsche Übersetzung 1713 erschien; vgl. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Lfg. 1, Berlin , New York: de Gruyter 2005, Sp. 33–35.   zurück
17 
Die ungenannte Quelle ist der TRACTAT Herrn Gabriel Putherbeien von Thuron/ [...] Von Verbot und Auffhebung deren Bücher unnd Schrifften/ so in gemain one nachtheil vnnd verletzung des gewissens [...] nit mögen gelesen oder behalten werden [...], übersetzt von Johann Baptist Fickler, München: Adam Berg 1581. Vgl. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts – VD 16 –. 25 Bde. Stuttgart: Hiersemann 1983–2000, Abt. I, Bd. 5, 1985, Nr. D 2996; dort ist die korrekte Namensform zu finden (vgl. die Online-Datenbank: URL: http://www.vd16.de/, Datum des Zugriffs: 12.04.06).   zurück
18 
Vgl. Hartmut Beckers / Walter Röll: ›Florio und Bianceffora‹. In: Kurt Ruh u. a. (Hg.) (Anm. 1), Bd. 2, 1981, Sp. 759 f.   zurück
19 
Siegfried Szamatólski: Ulrichs von Hutten deutsche Schriften. Untersuchungen nebst einer Nachlese (Quellen und Forschungen zur Sprach und Culturgeschichte der germanischen Völker 67) Straßburg: Trübner 1891.   zurück
20 
Vgl. Jürgen Schulz-Grobert: Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung (Hermaea N. F. 83) Tübingen: Niemeyer 1999.   zurück
21 
Simone Drücke: Humanistische Laienbildung um 1500. Untersuchungen zum Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried (Palaestra 212) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001.   zurück
22 
Rez. zu Simone Drücke (Anm. 21). In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 277–279 hier S. 279.   zurück
23 
M. D.: Die Boccaccio-Handschriften in den deutschsprachigen Ländern. Eine Bibliographie (Gratia 17) Bamberg: Wendel 1988, zu Filocolo-Handschriften Nr. 28, 55.   zurück
24 
Claudia Bolsinger: Das Decameron in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Peter Lang 1997.   zurück
25 
Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im 15. und 16. Jahrhundert (Chloe 38) Amsterdam, New York 2005.   zurück
26 
James H. McGregor: The Shades of Aeneas: the Imitation of Vergil and the History of Paganism in Boccaccio's Filostrato, Filocolo, and Teseida. Athens: University of Georgia Press 1991. – J. H. McG.: The Image of Antiquity in Boccaccio's Filocolo, Filostrato, and Teseida (Studies in Italian Culture 1) New York: Peter Lang 1991.   zurück
27 
Christa Bertelsmeier-Kierst: Griseldis in Deutschland. Studien zu Steinhöwel und Arigo (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 8) Heidelberg: Carl Winter 1988, S. 241–352.   zurück
28 
Vergleichbare Formen (b für p) finden sich überhaupt häufig im Erstdruck von Florio und Bianceffora, vgl. etwa Faksimile (Anm. 12), Bl. [35]r: »ballast« für ›Palast‹.   zurück
29 
Vgl. Verena Schäfer: Flore und Blancheflur. Epos und Volksbuch. Textversionen und die verschiedenen Illustrationen bis ins 19. Jahrhundert. München: tuduv 1984, bes. S. 85–97, 242–282 (Katalog mit Bildbeschreibungen und Abdruck der Bildunterschriften dreier Drucke).   zurück
30 
Vgl. zuletzt Joachim Knape: Brant, Sebastian. In: Franz Josef Worstbrock (Hg.) (Anm. 16), Sp. 247–283, hier Sp. 268–271.   zurück
31 
Vgl. dazu Birgit Plank: Johann Sieders Übersetzung des ›Goldenen Esels‹ und die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen‹-Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman (Frühe Neuzeit 92) Tübingen: Max Niemeyer 2004. – Franziska Küenzlen: Verwandlungen eines Esels: Apuleius' ›Metamorphoses‹ im frühen 16. Jahrhundert. [...] (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 25) Heidelberg: Winter 2005.   zurück
32 
Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hg.): Zwischen Mittelalter und früher Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1999, S. 128–142. Wieder in: F. J. W.: Ausgewählte Schriften. Hg. von Susanne Köbele / Andreas Kraß. Stuttgart: Hirzel 2004–2005, Bd. 1, 2005, S. 183–196. Im programmatischen Anschluß dazu die Einleitung von Annelie Kreft und die Beiträge der Sektion ›Wiedererzählen‹ im Tagungsband: Britta Bußmann u. a. (Hg.): Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology 5) Berlin: de Gruyter 2005, S. 158–162 bzw. S. 163–251.   zurück
33 
So Arigo im Erstdruck der Übersetzung des Decameron, Ulm: Johann Zainer, [1476]; zitiert von Schünemann, S. 282 Anm. 131.   zurück
34 
Titelseite des Drucks Venedig: Gabriel und Filippo di Pietri, 1472, zitiert nach dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Leipzig: Hiersemann 1925 ff., hier Bd. 4, 1930, Nr. 4463. Ähnlich die Titelseiten der ebd., Nr. 4464–4469, verzeichneten Drucke.   zurück