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Methoden zur (Ver-)Führung des Publikums

Der Einsatz von Bildern in Dichtung und Malerei des Mittelalters

  • Horst Wenzel / C. Stephen Jaeger (Hg.): Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. (Philologische Studien und Quellen 195) Berlin: Erich Schmidt 2005. 282 S. 47, meist farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-503-07961-0.
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Die Aufsatzsammlung wurde von Horst Wenzel und Stephen Jaeger im Anschluss an die 7. Arbeitstagung amerikanischer und deutscher Germanisten herausgegeben, die 2003 an der University of Illinois unter dem Titel »Visualisierungsstrategien in Text und Bild« stattgefunden hat. Sie umfasst elf Studien, in denen erprobt wird, wie der Untersuchungsgegenstand ›Visualisierungsstrategie‹ für die Erforschung deutschsprachiger mittelalterlicher Texte und ihrer Illustrationen nutzbar gemacht werden kann.

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Bei den Autoren handelt es sich mit einer Ausnahme um Germanisten (kurze biographische Angaben auf S. 279–282 des Bandes), so dass trotz des Titels, der einen interdisziplinären Anspruch erhebt, eine Annäherung an das Thema von philologischer Seite erfolgt. Tatsächlich ist es so, dass in der kunsthistorischen Forschung der Begriff ›Visualisierungsstrategie‹ nicht geläufig ist. Vielleicht, weil er zunächst zu allgemein erscheint: Bildende Kunst ist immer Visualisierung, und die Frage nach der Strategie des Künstlers, die das Wissen um seine Ziele oder seinen Auftrag voraussetzt, erfordert die Beschäftigung mit Intentionen, Gebrauch, Rezeption, ikonographischen Vorgaben, Sehgewohnheiten, technischen Möglichkeiten, Stil, Medien usw., und mobilisiert mehr oder weniger sämtliche Forschungsrichtungen des Faches. Visuelle Möglichkeiten, den Betrachter zu lenken, bestimmte Reaktionen herauszufordern, Räumlichkeit oder Bewegung zu evozieren u. ä., wurden immer wieder untersucht – und einiges davon wird von den Autoren der Beiträge des Sammelbandes auch zitiert – aber systematische Untersuchungen zu den Strategien der mittelalterlichen Künstler gibt es nicht. Der Begriff ›Visualisierungsstrategie‹ und die Phänomene, auf die er die Aufmerksamkeit lenkt, eröffnen nicht nur ein fruchtbares Untersuchungsfeld für Philologen, sondern auch für Kunsthistoriker.

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In den meisten Beiträgen der vorliegenden Aufsatzsammlung wurden illustrierte Texte als Untersuchungsobjekt gewählt, so dass die parallele Betrachtung der Visualisierungsstrategien in Wort und Bild möglich war. Diesen Aufsätzen sind zwar kleine, aber überwiegend farbige und ausreichend gute Abbildungen beigegeben, damit der Leser die aufgestellten Thesen und Ergebnisse nachvollziehen kann.

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Als Ziele der Visualisierungversuche werden solche angenommen, die man aus der Wirkung von Bildern in Texten ableitet. Dazu gehören die Vergegenwärtigung der Handlung oder die Schaffung von Präsenz, die Steuerung der Rezeption, die Anpassung des Stoffes an sich verändernde Rezipientenerwartungen und die Steigerung der Intensität dessen, was Leser oder Betrachter wahrnehmen. Diese Punkte werden von den einzelnen Autoren je nach untersuchtem Stoff und Erkenntnisziel in unterschiedlicher Auswahl und Gewichtung angesprochen und auch die Umsetzung der durch Titel, Einleitung und den Aufsatz von Horst Wenzel vorgegebenen Methode fällt nicht immer gleich aus, was anregend wirkt.

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Methode

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Im ersten Teil der Einleitung (S. 7–11) werden die theoretischen Grundlagen für die parallele Untersuchung der Visualisierungsstrategien in Text und Bild vorgestellt: Die von kunsthistorischer Seite seit Alois Riegl diskutierte These, dass Werke der bildenden Kunst erst in der Wahrnehmung des Betrachters entstehen, 1 führt zu der Überlegung, dass innere und äußere Wahrnehmung miteinander verbunden sind und, ob sie nun schriftlich oder bildlich vermittelt werden, ähnliche Strukturen aufweisen können. Davon ausgehend, dass Bilder und Texte performativ, also grundsätzlich adressiert sind, stehen für die Initiatoren des Bandes vor allem die Appellstrukturen im Vordergrund, die die gewünschte Wahrnehmungshandlung beim Beobachter hervorrufen sollen. Zentrale Bedeutung für den mtehodischen Ansatz kommt den unter dem Begriff Deixis subsumierbaren (körper-)sprachlichen, bildlichen und narrativen Gesten zu. Als Fundament für die Untersuchung der Reziprozität von Wahrgenommenem und Wahrnehmendem dient Husserls Theorie von der Lagerelation.

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Deixis und Präsenz

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Horst Wenzel: Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur (S. 17–43).

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Franziska Wenzel: Vom Gestus des Zeigens und der Sichtbarkeit künstlerischer Geltung im Codex Manesse (S. 44–62).

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Christof L. Diedrichs / Carsten Morsch: Bewegende Bilder. Zur Bilderhandschrift des Eneasromans Heinrichs von Veldeke in der Berliner Staatsbibliothek (S. 63–89).

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Susanne Hafner: Erzählen im Raum. Der Schmalkaldener Iwein (S. 90–98).

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Dem Sammelband ist der programmatische Aufsatz von Horst Wenzel vorangestellt, in dem nach einer detaillierten methodischen Einführung (S. 17–20) die Deixis in literarischen und bildnerischen Zeugnissen untersucht wird. Nach Wenzel manifestiert sich Deixis in Zeigehandlungen, die ganz allgemein den dargebotenen Stoff vergegenwärtigen sollen, die Aufmerksamkeit des Lesers oder Betrachters lenken, der Positionierung durch Gesten, Haltung und Blicke dienen und mit dem implizierten Betrachter spielen, in dem sie Angebote zur Wahrnehmung machen oder Wahrnehmungsroutinen brechen (S. 20). Am Beispiel von zwei Werken Wolframs von Eschenbach, dem Willehalm und dem Parzival, demonstriert Wenzel, wie der mittelalterliche Autor durch Visualisierung den Leser lenkt und ihm das Geschehen präsent macht.

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Für die Untersuchung von Zeigehandlungen in der Buchmalerei konzentriert sich Wenzel auf Autorenbilder oder Bilder von Lehrern, Sprechern und Schreibern, die seiner Meinung nach nicht ganz unähnlich den Origo-Konstruktionen des Ich in Prologen auf den folgenden Text verweisen (S. 28 f.). Als Beispiel dienen ihm unter anderem die Autorenbilder der Weingartner Liederhandschrift B, deren Gestik er analysiert. Im letzten Abschnitt seines Aufsatzes befasst sich Wenzel mit Schriftbändern als Geste und zieht hierfür den Welschen Gast des Thomasin von Zerclaere heran, in dem Zeigegesten und Spruchbänder ein besonders komplexes System bilden, das den Betrachter in Bewegung setzen, involvieren und belehren soll (S. 37–42).

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Mit den Zeigegesten in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Heidelberg, UB, Cod. Pal. germ. 848) beschäftigt sich Franziska Wenzel. Sie untersucht, wie sich deren Referenzsystem über Personen und Gegenstände der Miniaturen hinaus auf den Text und den Betrachter oder Leser erstreckt. Die Autorin demonstriert an drei Miniaturen aus der Liederhandschrift, wie Bilder die Rezeption des Textes steuern und wie sie mit Hilfe der Texte genauer gedeutet werden können. Die Vermittlung zwischen Betrachter, Text und Bild übernehmen vielfach die visualisierten Zeigegesten.

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Mit der Art und Weise, wie die Miniaturen die Rezeption eines Romans durch Visualisierung des Geschehens steuern, haben sich auch Christof L. Diedrichs und Carsten Morsch beschäftigt. Sie führen am Beispiel des Berliner Exemplars des Eneasromans von Heinrich von Veldeke (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ.fol. 282) vor, wie die Visualisierung des Geschehens durch die Miniaturen die Erzählung in die Gegenwart des Publikums holt und wie Imaginations- und Erlebnisräume geschaffen werden, die den Rezipienten affizieren.

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Das von den Autoren für ihre Untersuchung herangezogene Exemplar des Eneasromans ist allerdings ein etwas problematischer Untersuchungsgegenstand für die Gegenüberstellung der Erzählweise in Text und Bild, denn die Miniaturen befinden sich auf eigenen Blättern von besserer Pergamentqualität als die des beigegebenen Textes, dessen kalligraphisches Niveau zudem nicht dem künstlerischen Niveau der Miniaturen entspricht (S. 65). Diedrichs und Morsch referieren die Literatur zu diesem Problem, bieten aber selbst keine neuen Argumente oder Lösungsvorschläge an. Deutungen zum unterschiedlichen Erzähltempo sind, soweit sie auf der physischen Gegenüberstellung von Text und Bild in dieser Handschrift beruhen (was bei den Ausführungen hin und wieder mitschwingt, zum Beispiel auf S. 74), nicht ganz glücklich. Und da es um Strategie geht, also um geplantes Vorgehen, ist das Argument nicht schlüssig, dass Bilder und Text, ob sie füreinander bestimmt waren oder nicht, seit ihrer Zusammenstellung »eine integrative Einheit [bilden], deren Komplexität vielfältige Formen gegenseitiger Deutung einschließt« (S. 77).

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Um die Vergegenwärtigung des höfischen Lebens durch die Übertragung eines literarischen Stoffes in das Medium Bildzyklus geht es auch Susanne Hafner. Sie hat sich mit den Fresken zum Iwein Hartmanns von Aue beschäftigt, die die Wände eines Raumes des Wohnsitzes des landgräflich thüringischen Verwalters in Schmalkalden schmücken. Es gelingt ihr zu zeigen, wie durch die Auswahl der Szenen, durch die eine ganz andere Gewichtung der geschilderten Ereignisse vorgenommen wird als in Hartmanns Roman, die Geschichte Iweins so präsentiert wird, dass der Besucher des Raumes an ihr teilnimmt und sie je nach Blickwinkel und Leserichtung neu erschafft – er nimmt die ideale Position eines Rezipienten ein, nämlich im Bild, in der Geschichte.

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Zusätzliche Sinnangebote durch Visualisierung

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Marion Oswald: Tabubrüche – Choreographien ihrer Wahrnehmung zwischen ›Heimlichkeit‹ und ›Öffentlichkeit‹ (S. 167–187).

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Melanie Urban: Visualisierungsphänomene in mittelalterlichen Schachzabelbüchern (S. 139–166).

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Mit den Darstellungsformen von Tabubrüchen wie Suizid, Ehebruch und Inzest in Texten und Bildern befasst sich der Aufsatz von Marion Oswald. Da nach Oswalds Beobachtungen die tabuisierten Handlungen in Räumen stattfinden, zu denen der Zugang stark reglementiert ist, geben ihre Untersuchungen Aufschluss über literarische und bildnerische Vorstellungen von Räumen und deren Grenzen (170 f.). Ihre Beispiele sind der Ehebruch Tristans und Isoldes in Gottfried von Straßburgs Tristan, die Belauschung Melusines in den Melusineromanen von Jean d’Arras, Couldrette und Thüring von Ringoltingen, die inzestöse Geburt des Gregorius in Hartmann von Aues Roman Gregorius, das Menschenopfer im Armen Heinrich desselben Autors, der Selbstmord Didos im Eneasroman Heinrichs von Veldeke (in diesem Fall können auch Bilder untersucht werden). In ihrem Resümee stellt die Autorin abschließend die heimliche Beobachtung des Papstes Gregors I. gegenüber und prüft, inwieweit die Ikonographie dieser Legende für die Verfasser der volkssprachigen Texte von Bedeutung gewesen sein könnte (S. 185–187).

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Im Mittelpunkt der Untersuchung Melanie Urbans stehen das Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen und die Visualisierungsstrategien dieses Autors.

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Anpassung an Rezipientenerwartungen

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Kathryn Starkey: Das unfeste Geschlecht. Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gastes (S. 99–138).

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Tobias Bulang: Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu Nibelungenlied, Kudrun und Prosa-Lancelot (S. 188–212).

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Kirsten M. Christensen: Unsichtbare Visionen sichtbarer Frauen: Visualisierungsstrategien in den Texten mittelalterlicher Mystikerinnen nach 1200 (S. 213–225).

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Die handwerkliche Herstellung von Büchern, wie sie im Mittelalter praktiziert wurde, hatte den Vorteil, dass jedes Buch den Bedürfnissen der Benutzer neu angepasst werden konnte. Dank dieser Veränderungen können wir heute die Handschriften bestimmten Epochen und Orten zuordnen, und gleichzeitig lassen sich an ihnen kulturelle und geistesgeschichtliche Entwicklungstendenzen ablesen. Zu den vielleicht am deutlichsten ins Auge fallenden Modernisierungsarten gehört die Ausstattung mit Buchschmuck, der mit wenigen Ausnahmen und je nach Fähigkeiten der Illuminatoren dem neuesten Stand der Kunstentwicklung entsprach. Natürlich sind Miniaturen auch inhaltlich verändert worden, wobei, vielleicht ähnlich wie in der Sprachentwicklung, Bekanntes in der Regel nur in begrenztem Umfang abgewandelt werden konnte, wenn die Miniaturen verständlich bleiben sollten. 2 Andererseits dienten visuelle Veränderungen sowohl der Illustrationen als auch der Bilder in Texten dazu, die Verständlichkeit und Aktualität von Texten zu erhalten, wie Kathryn Starkey und Tobias Bulang in ihren Beiträgen zeigen.

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In den Illustrationen zu der didaktischen Schrift Der Welsche Gast des Thomasin von Zerclaere sind zahlreiche Personifikationen der Tugenden und Laster zu finden, die die Ausführungen des Textes illustrieren oder ergänzen. Kathryn Starkey hat beobachtet, dass diese Personifikationen in den verschiedenen Abschriften des Werkes das Geschlecht wechseln und ist der Frage nachgegangen, welche Intention hinter diesen Veränderungen stehen. In den drei von ihr untersuchten Exemplaren (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 389; Gotha, Landesbibliothek, Memb. I. 120; Wolfenbüttel, Herzog Augsut Bibliothek, Ms. 37.19. Aug. 2), die aus dem Ende des 13., der ersten Hälfte des 14. und aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammen, hat sie unterschiedliche Vorgehensweisen u. a. bei der Berücksichtigung des grammatischen Geschlechts der Bezeichnungen, die den Personifikationen beigegeben sind, festgestellt (S. 123). Als eine wichtige Tendenz konnte sie außerdem beobachten, dass in den späten Handschriften eine Deallegorisierung vorgenommen wurde. Das heißt, die ursprünglich weiblichen Personifikationen, die den antiken Allegorien entsprechen, werden zunehmend als männliche Figuren wiedergegeben, die nach Starkey eher als Akteure aufzufassen sind (135 f.). Es findet eine Verschiebung von der Allegorie zu »realistischen« Szenen statt. Während der Text in dieser Hinsicht in seiner ca. 300jährigen handschriftlichen Überlieferungszeit keine Veränderungen aufweist, wurde das Buch mit Hilfe der Illustrationen – zum Beispiel durch die Veränderung der Strategien bei der Visualisierung der Tugenden und Laster – den sich ändernden Ansprüchen und Vorstellungen des Publikums angepasst.

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Mit den innerlitarischen Funktionen von Visualisierungsstrategien hat sich Tobias Bulang befasst. Er zeigt am Beispiel des Niebelungenliedes, der Kudrun und des Prosa-Lancelot, wie mit Hilfe von Visualisierungen auf Plausibilitätslücken, Verunsicherung der Rezipientenerwartungen und anachronistisch gewordene Sinnangebote reagiert wird, die sich aus der Fortschreibung von Gattungstraditionen ergeben.

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Die Veränderungen von Visualisierungsstrategien untersucht auch Kirsten Christensen in ihrem Beitrag. Sie charakterisiert die Vorgehensweise einiger deutschsprachiger Visionärinnen vom 12. Jahrhundert (Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau) bis ins 15. Jahrhundert (Magdalena Beutler). Bei den frühen Visionärinnen sind ihr die detaillierten Beschreibungen der Visionen aufgefallen, während später die Bezeugung der Realität der Vision wichtiger wird und reale Andachtsobjekte, Ort, Zeitpunkt und Frömmigkeit der Visionärin großen Raum in der Beschreibung einnehmen, detaillierte Beschreibungen des Gesehenen hingegen selten werden (S. 224). Sie charakterisiert bei dieser Gelegenheit auch das Umfeld der Visionärinnen und wie sie in die Kirchenpolitik eingebunden werden. Allerdings darf man, wenn man allgemeine Aussagen zum Umgang der Visionärinnen mit Bildern treffen will, Birgitta von Schweden (1303–1373) nicht auslassen, die zu den späten Visionärinnen gehörte und deren bilderreiche Visionen die religiöse Kunst auch im Lebensumfeld der deutschsprachigen Visionärinnen geprägt haben.

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Intensitätssteigerung der Wahrnehmung
durch Visualisierung

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Michael Waltenberger: Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund (S. 248–274).

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Claudia Bornholdt: in was zu schouwen also not. Salman und Morolf bildlich erzählt (S. 226–247).

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Mit der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Phänomenalem und Diskursivem vom Mittelalter bis zur Neuzeit beschäftigt sich Michael Waltenberger in seinem Beitrag. Am Beispiel der Visualisierungsstrategien in der Minnerede Der rote Mund stellt er die These auf, dass hier durch Konventionalisierung und Überzeichnung die mittelalterliche Kongruenz zwischen Phänomenalem und Diskursivem gelockert wird, wodurch sich diese Dichtung modernen Rezeptionsangeboten nähert, die mit der Fähigkeit der Leser rechnen, zwischen objektiv Gegebenem und subjektiv Wahrgenommenen zu unterscheiden. Waltenberger vermutet, dass der Erfolg der eher gleichförmigen Minnereden darauf beruhte, dass sie ihre Intensität nicht mehr so sehr durch Evokation von Präsenz erzielen, sondern die Imagination des Lesers fordern, der die ihm geläufigen Formeln und die überzeichneten visuellen Erscheinungen nicht auf objektiv Gegebenes bezieht, sondern die performative Realisierung unabhängig davon für sich vornehmen kann, wodurch Affektenergien freigesetzt werden, die die Intensität bei der Vergegenwärtigung der Minne steigern sollen.

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Von der Wirkung des Gesehenen auf den Betrachter und von den sprachlichen Mitteln, mit denen dem Leser gegenwärtig gemacht wird, wie gefährlich diese Wirkung sein kann, wenn sie zum Verlust des vernünftigen Denkens führt, handelt der Beitrag von Claudia Bornholdt. Sie hat sich die Geschichte von Salman vorgenommen, der seiner Frau Salme wegen ihrer großen Schönheit so verfallen ist, dass er ihr alles verzeiht und dadurch seine Autorität als König verliert.

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Schluss

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Der vorliegende Sammelband thematisiert mit der Visualisierung ein Kommunikationsmittel, das auch heute noch bei der Vermittlung von Inhalten eine herausragende Rolle spielt, und das dank der neuen, computergestützten Möglichkeiten zunehmend verfeinert wird. Die Visualisierungsstrategien der mittelalterlichen Kultur sind ein hochaktuelles Thema, weil sie eine Folie bieten könnten, vor der sich die Strukturen des Gebrauchs moderner Medien klarer abzeichnen.



Anmerkungen

Die übersichtlichste Zusammenfassung hierzu von Wolfgang Kemp in: Ders. (Hrsg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Berlin 1992, S. 7–27, 29.   zurück
Liselotte Saurma-Jeltsch weist zum Beispiel unter dem Stichwort ›serielle Ikonographie‹ auf die Notwendigkeit der Untersuchung von Seh- und Gestaltungsgewohnheiten der Maler hin, die mit Hilfe anderer Bilder rekonstruiert werden müssen (Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Das Gebetbuch Ottos III. Dem Herrscher zur Ermahnung und Verheißung bis in alle Ewigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Bd. 38 (2004), S. 55–88, Taf. III–XII, hier S. 86). Dass es einen visuellen Diskurs gibt, der das Aussehen der Bilder wesentlich bestimmt, wird von Sprachwissenschaftlern oft zu wenig berücksichtigt.    zurück