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Wissenschaftsgeschichtsschreibung
und Zeitgenossenschaft

Ein Sammelband zu Richard Alewyns
Sentimentalismusforschungen
und zur Empfindsamkeit

  • Klaus Garber / Ute Szell (Hg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismus-Forschungen und ihr epochaler Kontext. München: Wilhelm Fink 2005. 292 S. Kartoniert. EUR (D) 36,90.
    ISBN: 3-7705-4071-9.
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Fragestellung und Gliederung

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Ob die Moderne mit einer Dominanz der Vernunft oder einer Verfeinerung des Gefühls, mit der Aufklärung oder der Empfindsamkeit, anhebt und ob sie in die gesellschaftliche Krise oder die politische Emanzipation führt, sind Fragen, deren Bearbeitung man von einem mit seinem Titel auf die großen Moderneerzählungen verweisenden Band wie Das Projekt der Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne, herausgegeben von Klaus Garber und Ute Széll, erwarten mag. Für den Kulturwissenschaftler (S. 7) und zeitweiligen Emigranten Richard Alewyn, um dessen Sentimentalismus-Forschungen es in dem besprochenen Tagungsband zum guten Teil geht, ist das von ihm ungeschrieben gebliebene Projekt der Empfindsamkeit in jedem Fall mit diesen großen und eben auch politischen Fragen eng verbunden.

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Wie Klaus Garber in der Einleitung kurz skizziert, setzt sein Lehrer Alewyn mit der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert den epochalen Umbruch, die »ästhetische und mentale Revolutionierung« (S. 7) zur Moderne an, die auch die »Formen politischer Kultur in Deutschland« (S. 9) – man mag hinzufügen: bis heute – prägen. Alewyns Perspektive auf das 18. Jahrhundert als fundamentale, sowohl auf anthropologischer, gesellschaftsstruktureller als auch ästhetischer Ebene sich vollziehende Umbruchsphase, die sich in der Romantik fortsetzt und sich bis zum Fin de siècle verfolgen lässt, wird in den Teilen I und II des Bandes zu »Werk und Wirkungsraum Richard Alewyns« und zum »Sentimentalismus-Projekt Richard Alewyns« in verschiedenen Aufsätzen zum Teil von seinen Schülern aus der Erinnerung, aus Vorlesungsmitschriften und Archivmaterial (re)konstruiert. Einleitend bemerkt Garber: Die »Empfindsamkeit [ist] im Rahmen der Erforschung des 18. Jahrhunderts prekär und kontrovers geblieben« (9), und so versammelt der III. Teil des Buches Beiträge, die sich diesem sehr weiten Thema in seinem »epochalen Kontext« widmen.

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Wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion
von Alewyns Empfindsamkeitsprojekt

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Alewyns ungeschriebenes Sentimentalismus-Buch lässt sich in der wissenschaftsgeschichtlichen Retrospektion wohl am besten im Kontrast zu entgegengesetzten Perspektiven auf das 18. Jahrhundert konturieren. So stellt Friedrich Vollhardt in seinem Aufsatz »Der Ursprung der Empfindsamkeitsdebatte in der ›Tafelrunde‹ um Richard Alewyn«, in dem er in Marbach liegendes Briefmaterial Alewyns der 60er Jahre gesichtet hat, heraus, dass sich bereits in dieser Zeit im literaturwissenschaftlichen Kreis um Alewyn, in den auch Peter Szondi und seine Arbeit über das Bürgerliche Trauerspiel mit einbezogen werden sollten, diejenige Kontroverse präformiert hat, die sich später mit den Namen Sauder und Pikulik verbindet.

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Dass sich hier zwei ›Große Erzählungen‹ vom Beginn der Moderne, sowohl der gesellschaftlich-anthropologischen als auch ästhetischen Umbruchssituation im 18. Jahrhundert, gegenüberstehen, bestätigt sich auch in Gerhard Sauders Beitrag »Die andere Empfindsamkeit. Richard Alewyns Kritik an den Thesen Gerhard Sauders«, der genau zeigt, wie sich aus einer Rezension Alewyns zu seinem Empfindsamkeitsbuch dessen eigene Position herauslesen lässt. Nicht, wie Sauder es perspektiviert, als Teil der Aufklärung und der bürgerlichen Emanzipation ist die Empfindsamkeit mit ihrem Hang zur Geselligkeit zu verstehen, sondern nach Alewyn gerade als zur Innerlichkeit und Separation von der Gesellschaft neigende Oppositionsbewegung zur vernunftbetonten bürgerlichen Aufklärung und Lebensform.

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Carsten Zelle arbeitet diese Position in seinem Aufsatz »›Zerstörung der Vernunft‹? Alewyns Sentimentalismus-Entwurf und Vietors Fin de siècle-Projekt – ein Vergleich« aus dem wohl aussagekräftigsten Dokument zu Alewyns Vorhaben heraus, nämlich einem im Vietor-Nachlass überlieferten auf englisch verfassten Exposé von Alewyns Sentimentalismus-Projekt, welches dieser 1946 für ein Stipendium bei der Guggenheim-Foundation eingereicht hat. Zelle zeigt mit seinem Beitrag, dass Alewyns Vorhaben keine nur historischem Interesse folgende Arbeit zum 18. Jahrhundert gewesen wäre, sondern dass er in der Empfindsamkeit den Beginn einer Entwicklung gesehen hat, die er dann über die Romantik bis ins 20. Jahrhundert verfolgt.

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In diesem Sinne stellt auch Pikulik in seinem Beitrag »Richard Alewyn als Lehrer und Romantikforscher« dar, wie sein Lehrer in der Romantik gerade jenen Typ des »modernen Künstlertums« verwirklicht sieht, der mit der Empfindsamkeit vorbereitet wird und der aufgrund seiner »Selbstbezogenheit« an der »sozialen Verantwortlichkeit« (Pikulik, S. 39) scheitert. Für Alewyn, das arbeitet Zelle instruktiv heraus, ergibt sich hier eine ambivalente Bewertung der empfindsamen Bewegung. Handelt es sich einerseits um die positive »Ausbildung neuartiger künstlerischer Sensibilität« durch Innerlichkeit und ein auf sich selbst bezogenes Gefühl, so entsteht andererseits durch den damit einhergehenden Rückzug von der Gemeinschaft ein »Graben zwischen Kunst und Gesellschaft« (Zelle, S. 90), den Alewyn zunehmend »als ein kritisches Geschehen« sieht: der »empfindsame Aufbruch in die Moderne eher als Sackgasse denn als fortzusetzender Weg« (S. 91).

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Spätestens damit werden die politischen und zeitgeschichtlichen Dimensionen sowie die lebensgeschichtliche Motivation des Emigranten Alewyn für seine Sentimentalismus-Forschungen angesprochen. Zelle weist in einem Vergleich von Alewyns Projekt mit dem ebenfalls ungeschrieben gebliebenen Buch Karl Vietors über die literarische Dekadenz der Jahrhundertwende daraufhin, dass wohl beide Autoren inspiriert worden sind durch Erich Kahlers Buch Man the Measure (1943), in dem dieser die Parole der Moderne als ›Great Crisis‹ ausgibt. Die Ausdifferenzierungen der modernen Gesellschaft, zu denen auch die »Entfremdung zwischen Künstler und Gesellschaft« zählt, geben hier die Krisensymptome ab, die, so Zelle über Kahlers Diagnose, »den geistigen Rahmen [bilden], der den Faschismus vorbereitet« (Zelle, S. 99). Eine »Komparatistik« derjenigen »Werke, die der Frage nachgingen, warum die aufgeklärte Zivilisation in die Barbarei führte« (S. 102), zu denen Zelle auch die fragmentarischen Arbeiten von Alewyn und Vietor zählt, wird von ihm zu Recht als Forschungsdesiderat ausgewiesen.

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Empfindsamkeits-Forschungen

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Der dritte Teil des Bandes umfasst acht Aufsätze, die nur über das weite Oberthema ›Empfindsamkeit‹ verbunden sind. Die Rezensentin kann hier nicht die Aufgabe der Herausgeber übernehmen und einen Zusammenhang oder ein Kontinuum zwischen den Aufsätzen herstellen, so dass im Folgenden über die einzelnen Beiträge unzusammenhängend berichtet wird:

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Herausragend ist der Beitrag von Gideon Stiening »Briefroman und Empfindsamkeit«, der zum einen die Forschung in ihrer Hypostasierung des empfindsamen Briefromans als Idealtyp korrigiert, sich also gegen eine normative Gattungspoetologie wendet, und zum anderen den Ansatz zu einer historischen Gattungsgeschichtsschreibung des Briefromans vorlegt. Eine »Analyse der empfindsamen Widersprüche«, die auch die Widersprüche der historischen Gattung empfindsamer Briefroman sind, stehen im Zentrum des Beitrags und dienen dazu, einerseits die »Qualitäten des empfindsamen Briefromans präzise von denen der aufklärerisch-kritischen Exempel der Gattung zu unterscheiden« und andererseits »die Innovationen [zu] ermessen, die die Romantik [...] und die Spätaufklärung [...] an Form und Gehalt des Briefromans vornehmen« (Stiening, S. 169).

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Die Frage nach dem Politischen in Lessings Emilia Galotti beantwortet Jürgen Fohrmann in seinem Beitrag »Die Tragödie der Empfindsamkeit und die Rettung der Souveränität« auf instruktive Art neu. Fohrmann zeigt am Beispiel von Lessings Stück für das Bürgerliche Trauerspiel auf, dass der gegenüber dem Barockdrama nun »leere Platz des Souveräns« durch ein neues Souveränitätsmodell ersetzt wird: Das auf den einzelnen Herrscher zugeschnittene alte Modell wird in ein »Beziehungsmodell« überführt. Die »empfindsame Interaktion« (Fohrmann, S. 118) derart politisch gelesen, geht nach Fohrmanns Diagnose mit einem Entscheidungsverlust einher, der poetologisch gewendet das Bürgerliche Trauerspiel am Ende zur Tragödie werden lässt.

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In seinem Aufsatz »Selbstbescherung. Zur Phänomenologie des Landschaftsblicks in der Empfindsamkeit« geht Helmut J. Schneider der These nach, dass das religiöse Gefühl in der Landschaftswahrnehmung der Empfindsamkeit ästhetisch in der paradoxen Kombination von »aktiver Weltbemächtigung« und »kontemplativer [...] Welthinnahme« (Schneider, S. 132) fortlebt. – Uwe Steiner betont in seiner Analyse von Friedrichs II. Literaturschrift, dass dieser zwar die deutsche Empfindsamkeit ignoriert und einer ihr »entgegengesetzten Kultur und Tradition ungebrochen das Wort redet« (Steiner, S. 144), dass diese aber, wenn auch mit anderen Mitteln, zum Beispiel bei Diderot ebenfalls auf Rührung setzt. – Barbara Becker-Cantarino geht dem Zusammenhang von »Empfindsamkeit und Frauenlektüre« nach, indem sie auf die in der Forschung bisher wenig beachteten Lektüre-Zeugnisse von Frauen selbst zurückgreift.

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In »Schiller und die Empfindsamkeit. Zu den Briefen bis 1793 und der Schrift ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹« unternimmt Lothar Pikulik eine Engführung von Schillers Leben, in dem sich auch nach der idealistischen Wende seine empfindsame »Mentalität« (Pikulik, S. 222) erhalten habe, und seinem Spätwerk, das von Pikulik als »empfindsamer Idealismus« (S. 224) charakterisiert wird. Jürgen Viering fragt in seinem Beitrag »Jean Paul und August Lafontaine. Überlegungen zur Diskussion um Empfindsamkeit und Sentimentalität zwischen 1795 und 1805« nach dem Qualitäts- und Modernitätsunterschied zwischen den genannten Autoren, um für Jean Pauls Werk festzustellen, dass hier die Akzeptanz des Lesers gegenüber Rührszenen durch Witz und Ironie erhöht wird. – Die Reihe der Beiträge abschließend arbeitet Volker Neuhaus in »Richard Alewyns Forschungen zum Detektivroman« dessen Kernthesen heraus, die die Gattung eben nicht der gängigen Interpretation nach in die Tradition der Aufklärung, sondern der späten Romantik stellen.

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Zusammenfassende Beurteilung

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Die ersten beiden Teile des Sammelbandes zu Alewyns Werk überzeugen durch die Rekonstruktion des ungeschriebenen Sentimentalismus-Projekts Alewyns aus vielfältigem, unbekanntem Material, wobei sowohl disziplinäre Zusammenhänge aufgedeckt werden als auch eine historisch politische Verortung stattfindet. Erwartet man eine Bearbeitung der im Titel angekündigten Frage nach der Empfindsamkeit als Ursprung der Moderne, so wird man allerdings sowohl in Hinsicht auf die ersten beiden als auch auf den dritten Teil des Bandes, die Beiträge zur Epoche der Empfindsamkeit, weitgehend enttäuscht. Die Rezensentin vermisst zudem einleitende Bemerkungen der Herausgeber, die zwischen den einzelnen Aufsätzen zur Empfindsamkeit einen Zusammenhang herstellen, sowie markante Referenzen auf Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen bei den Beiträgern.