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Spurenleser und Kriminaltechniken

  • Peter Becker: Dem Täter auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminalistik. Darmstadt: Primus 2005. 288 S. 44 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 3-89678-275-4.
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Peter Becker bietet eine auf ein breiteres Publikum zielende, informative und gut lesbare Überblicksdarstellung der Geschichte der Kriminalistik, die überwiegend auf die Entwicklung der Kriminaltechnik und die damit verbundenen Möglichkeiten der Polizeiorgane zur Aufklärung von Verbrechen und Ermittlung von Tätern abstellt. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem 19. und 20. Jahrhundert, Becker widmet jedoch der ›Vorgeschichte‹, insbesondere der Entwicklung der Folter, der Verhör- und Fahndungstechniken (z.B. der Steckbriefe und Diebslisten) sowie der Entstehung der Rechtsmedizin vor 1800 ein eigenes Kapitel und macht so Wandel wie Kontinuitäten deutlich. Dabei überwiegt eine eher technikgeschichtliche als gesellschaftspolitische Perspektive, allerdings bezieht der Verfasser durchaus Veränderungen bei den ›Verbrechen und Verbrechern‹ mit ein, auf welche die (Kriminal-)Polizei unter anderem auch mit der Anwendung neuer Techniken reagierte.

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Dieser Grundlinie und einer lockeren Chronologie folgend behandeln die systematisch aufgebauten zentralen Kapitel: den Einsatz der Fotografie, die entstehende, zunächst europäische, später interkontinentale Kommunikation und Kooperation zwischen Polizeiorganen, den Fingerabdruck als »revolutionäre« Neuerung der Verbrecheridentifikation und die wissenschaftliche Spurenanalyse im »Polizei- bzw. Kriminallabor« sowie dann für das 20. Jahrhundert die Nutzung der modernen Massenmedien, mit denen der Kreis der »Fahnder« bzw. »Informanten« vervielfacht wurde, den Einsatz der Datenverarbeitung insbesondere in der Form der Rasterfahndung, die durch Ausschluß »Unverdächtiger« ein Sample von »Verdächtigen« herstellt, den genetischen Fingerabdruck und das Profiling.

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Eingeleitet werden die Kapitel durch Fallbeispiele, welche die konkrete Anwendung der jeweiligen Kriminaltechnik anschaulich demonstrieren und einen historischen Praxisbezug herstellen. Es geht folglich primär um die Sammlung und Auswertung von Informationen zwecks Prävention, Aufklärung von Verbrechen, Identifikation von Verbrechern und Fahndung nach Tätern. Praxisanforderungen (»der praktische Blick«), wissenschaftliche Methodik und technische Neuerungen bestimmten dabei die Entwicklung der Kriminalistik, wobei sich auch einzelne Polizisten als Protagonisten erwiesen. Becker unterstreicht zutreffend, daß auch der »menschliche« Faktor, d.h. kriminalistische Fähigkeiten und Kombinationsgabe einzelner Polizisten, wesentliche Bedeutung behielt: auch wissenschaftlich ermitteltes und in Datenbanken gespeichertes Expertenwissen muß von den Spurenlesern gedeutet werden.

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Der Verfasser macht zwar gesellschaftspolitische Hintergründe, Probleme, Mißbrauch und gesetzliche Begrenzung der Kriminaltechniken deutlich, so insbesondere an den jüngeren Beispielen der Rasterfahndung und des genetischen Fingerabdrucks. Grundsätzlich hätte sich der Rezensent jedoch eine stärkere Einbettung der Kriminalistik bzw. der polizeilichen Ermittlungstechniken in die sich wandelnden gesellschaftspolitischen Kontexte und Rechtssysteme (vor allem für die Zeit zwischen 1800 und 1945) gewünscht.

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Dies betrifft einerseits das Strafrecht und die Konstruktion von Verbrechen und Verbrechern: So wird nicht immer deutlich, daß die »Kriminalistik« an der Konstruktion von Verbrechertypen (z.B. »Berufsverbrecher« oder »Bande«) und Verbrechen wesentlich beteiligt ist, damit auch »kriminelle Milieus« erst konstruiert und verdächtigen Personengruppen von vornherein Devianz zuschreibt – und zwar keineswegs nur durch das Instrument der Rasterfahndung, dessen diesbezügliche Funktion Becker durchaus kritisch beleuchtet. Und andererseits bleiben die gerichtliche Praxis und der Einfluß der Kriminalistik auf sie eher blaß: Denn die vermeintlich beweissicheren neuen Kriminaltechniken und das damit erzeugte Expertenwissen wirken sich erheblich auf das Strafverfahren – insbesondere auf Urteilsfindung und Strafzumessung – aus und schaffen damit eine neue ›gerichtliche Wahrheit‹ . Die langfristige Wirkung dieser »Erfolgsgeschichte« der Kriminalistik läßt sich nicht nur am unmittelbaren Erfolg – sozusagen der Aufklärungsquote – messen. Trotz ›objektiverer‹ Verfahren verfügt die Polizei noch immer über ein erhebliches Zuschreibungs- und Interpretationspotential zur »interpretierenden Aneignung von Wirklichkeit«, wie Becker abschließend unterstreicht (S. 259). Insofern läßt sich auch an der Geschichte der Kriminalistik eine bereits in der Vormoderne einsetzende Tendenz der »Verpoliceylichung« von Strafrecht und Strafjustiz beobachten, die einer Kontrolle und Einhegung durch Recht bedarf.