[1]
|
Es gibt kaum einen Band einer Kleist-Ausgabe, über den so wenig zu streiten ist wie über den vorliegenden – und es gibt kaum einen Band einer Kleist-Ausgabe, über den zu streiten sich so sehr lohnen würde. Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt zu tun.
|
[2]
|
Wissenschaftsgeschichte der Editionsphilologie
|
[3]
|
Nachdem seit den späten 1980er Jahren die ersten Bände der Brandenburger (damals noch Berliner) Kleist-Ausgabe (BKA) – in den Feuilletons nach dem hämisch kommentierten Scheitern der historisch-kritischen Ausgabe hymnisch begrüßt – sowohl von der Kleist-Forschung wie von der Editionswissenschaft mit harscher, ja vernichtend gemeinter Kritik überzogen wurden, ist der Ton in den letzten Jahren auf allen Seiten deutlich moderater geworden. Roland Reuß und Peter Staengle setzen die früher gern und ausgiebig geübte Polemik gegen ihre Kritiker inzwischen nur noch sparsam ein, die Kleist-Forschung ist deutlich milder gestimmt, und auch die Editionswissenschaft ist auf den Geschmack gekommen und hat an der Ausgabe Gefallen gefunden. Das liegt nicht nur daran, dass die Herausgeber, denen man anfangs gerne philologischen Dilettantismus vorgeworfen hatte, ihr Handwerk inzwischen – nach langjähriger Erfahrung auch mit anderen kritischen Ausgaben – professioneller betrieben. Die Gründe liegen tiefer und indizieren einen durchgreifenden Wandel des editionswissenschaftlichen ›Mainstreams‹.
|
[4]
|
Obwohl die Handschriften bei Kleist eine viel geringere Rolle spielen als bei anderen Autoren, dürfte neben und nach der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe die BKA diejenige neugermanistische Edition sein, die entscheidend dafür verantwortlich ist, dass heute so gut wie keine kritische Ausgabe mehr ohne Handschriftenfaksimiles auskommt. Die Faksimilierung scheint insbesondere dann einen Königsweg zu bilden, wenn die Darstellung der Textgenese – auf die noch Klaus Kanzog in der historisch-kritischen Ausgabe ursprünglich den Schwerpunkt hatte legen wollen – allenfalls lückenhaft möglich ist. Darüber hinaus hat die BKA das Bewusstsein für die Materialität der Drucke ebenso geschärft wie das Problembewusstsein hinsichtlich der Frage, ob man bei verschiedenen ›Aggregatzuständen‹
1
eines Textes noch, wie traditionell üblich, von ›Fassungen‹ reden dürfe (was die BKA-Herausgeber verneinen). Die »Standards der Editionsphilologie«, an denen Hans Zeller 1992 die BKA maß,
2
sind keine zeitenthobenen Maßstäbe, sondern entsprechen jeweils einem bestimmten wissenschaftshistorischen Stand der Fachdiskussion und sind in der editorischen Theorie und Praxis stets neu auszuhandeln.
3
Dieses wissenschaftshistorische Reflexionsniveau ist in der Editionswissenschaft erfreulicherweise inzwischen seinerseits dabei, zum Standard zu werden.
4
|
[5]
|
Blendend: Großzügigkeit und Flexibilität
|
[6]
|
In diesem milden Gesamtklima ist denn auch die Begegnung mit dem Band von Kleists Sämtlichen Gedichten zunächst durchgehend erfreulich. Die Großzügigkeit der Edition ist bestechend: Wann hat man schon für einen nur wenige Zeilen umfassenden Text drei großformatige Seiten zur Verfügung – die erste für die Beschreibung des Textzeugen, die zweite für die diplomatische Umschrift, die dritte für das Faksimile? Bei so viel Raum versteht es sich, dass erstmals alle Textzeugen vollständig zugänglich gemacht sind. Sogar die zeitgenössischen Abschriften von fremder Hand werden in den Brandenburger Kleist-Blättern (BKB) faksimiliert.
5
|
[7]
|
Die Anordnung der Texte ist betont undogmatisch und »flexibel«, da »in etlichen Fällen beim derzeitigen Kenntnisstand eine genauere Datierung nicht zu erzielen« sei (BKA III, S. 264). Vergleicht man sie mit der Edition von Klaus Müller-Salget im Deutschen Klassiker Verlag (DKV-Ausgabe),
6
so treten einzelne Unterschiede auf. Ein Beispiel ist das Gedicht »Der höhere Frieden«, im Erstdruck in Kleists Zeitschrift Phöbus mit der Datierungsangabe »(1792 oder 93.)« versehen (BKA III, S. 53). Müller-Salget folgt dieser Angabe, schreibt im Kommentar, das Gedicht sei »während Kleists Teilnahme am Rheinfeldzug« entstanden, und setzt es in seiner Edition an die zweite Stelle, unmittelbar nach dem zwischen 1788 und 1791 zu datierenden Stammbucheintrag für Wilhelmine von Zenge.
7
Die BKA druckt den Text hingegen in der Gruppe »Gedichte im ›Phöbus‹«, wobei vermerkt wird: »mglw. zu den frühen Gedichten gehörend, sofern die Datierung im Titel auf die Textgenese hindeutet« (BKA III, S. 39). Da bekanntermaßen die Erläuterungen erst für Band V (in drei Teilen) nach Abschluss der Edition angekündigt sind, erfährt man hier noch nichts Näheres und muss, will man es genauer wissen, doch zum Kommentar der DKV-Ausgabe greifen, auch wenn man den Text der BKA bevorzugt. Mit diesem Umstand, dass man bis auf Weiteres beide Kleist-Ausgaben parallel benutzen muss und sich nicht auf eine allein verlassen kann, scheint man sich, und sei es resignierend, mehr oder weniger abgefunden zu haben. Auch bei anderen bedeutenden Autoren, selbst und gerade auch bei Goethe, gibt es ja nicht die eine maßgebliche Referenzausgabe für die Forschung, und was man einerseits beklagen muss, kann man andererseits als belebende Konkurrenz begrüßen. Für die Leserinnen und Leser freilich – insbesondere die Interpretinnen und Interpreten – hat dies zur Folge, dass sie vom Zwang zur eigenen philologischen Urteilsbildung nicht entlastet werden können. Die Zeit der Mandarine ist vorüber.
|
[8]
|
Polemisches über den Wipfeln und unter den Zweigen
|
[9]
|
Konkurrenzlos ist die BKA außer bei der Darbietung der Textzeugen naturgemäß dort, wo Texte ediert werden, die zum Zeitpunkt des Erscheinens der DKV-Ausgabe noch nicht bekannt waren. Am prominentesten ist das sechszeilige »Unter allen Zweigen ist Ruh« (BKA III, S. 71–73), eine Kontrafaktur des Goetheschen »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Ihm widmet Roland Reuß einen ausführlichen Aufsatz im Begleitheft, den BKB, in dem er Kleists Gedicht explizit als »Gegengedicht« bezeichnet, wobei er die Kontextlosigkeit des Einzelblatts als »Einladung« zur »Spekulation« versteht, von der er Gebrauch machen möchte.
8
Er bietet die überwiegend dubiosen, aber höchst aufschlussreichen Textzeugen, durch die das Goethesche Gedicht vor dem autorisierten Druck überliefert ist, und setzt dann zu einer eingehenden mikrologischen Interpretation an, deren Pointe darin besteht, dass er fordert, »bei der Auslegung von Lyrik die spezifische Sprache des Verses wirklich ernst zu nehmen« (BKB, S. 55), das heißt die Versgrenzen zu beachten und nacheinander jeden Vers einzeln und ohne Vorgriff auf den nächsten zu analysieren. Was indes Reuß polemisch gegen »die interpretatorische Praxis«, die dies »bis heute« scheue, wenden zu müssen meint, ist nichts anderes als eine zwar vielleicht zuweilen vergessene, aber schon längst erhobene Forderung der Sprechkunde und Vortragskunst.
9
|
[10]
|
Offenbar braucht er diese Polemik gewissermaßen als Sprungbrett, um gegen die Auffassungen von Günter Blamberger und Jochen Golz
10
das Kleistsche Gedicht als »Gegengedicht« in Stellung zu bringen, als »Apostrophe Goethes«, die »an kritischer Schärfe nicht zu überbieten« sei (BKB, S. 69). Darüber kann man diskutieren – wenn aber Kleists Gedicht in die frühe Phöbus-Zeit eingeordnet und über diesen Zeitpunkt (1808) geurteilt wird: »Der Fall Goethe war, so scheint es, für Kleist damit abgeschlossen« (BKB, S. 70), so sollte der Streit beginnen, denn damit würden per Dekret die Akten über einen Fall geschlossen, der – gerade auch unter Abwägung der Reußschen Indizien – dringend neu zu verhandeln wäre. Denn welchen Status und welche Funktion hätten denn die zahlreichen Goethe-Bezüge in späteren Texten,
11
wenn doch der »Fall« schon »abgeschlossen« war?
|
[11]
|
Ist es also wieder einmal so, dass nicht die BKA, sondern die BKB den eigentlichen Streitpunkt bilden? Man mag sich auch fragen, was Davide Giuriatos Aufsatz »Das Namenlos’«. Zur Problematik des Namens in H. v. Kleists »Das Bettelweib von Locarno« und »Die Marquise von O....« (BKB, S. 73–92) im Begleitheft zur Ausgabe von Kleists Gedichten zu suchen hat. Eine solche Publikationspraxis suggeriert, dass dieser Aufsatz in kein anderes (Kleist‑)Forschungsorgan hätte aufgenommen werden können, und entwertet damit den Beitrag, gewiss gegen die Intention der Herausgeber.
|
[12]
|
Es wären durchaus alternative Füllungen des Druckraums vorstellbar gewesen, und damit bin ich bei einem wesentlichen Streitpunkt der Ausgabe. Hierzu noch einmal ein Blick auf die Anordnung der Gedichte: Während die DKV-Ausgabe die Texte hintereinander weg druckt, bildet die BKA Gruppen: »Frühe Gedichte«, »Lyrik der ›Phöbus‹-Zeit«, »Politische Lyrik 1809«, »Gedichte 1810/11« sowie »Albumblätter und Widmungen«.
|
[13]
|
Blind: Gedichte ohne Vers und Rhythmus?
|
[14]
|
»Albumblätter und Widmungen«? In der DKV-Ausgabe bilden sie eine eigene Gruppe außerhalb der Gedichte, in der BKA konstatiert Staengle in seiner knappen Nachbemerkung:
|
[15]
|
Sieben Albumblätter und Widmungstexte sind als eigenständiges Korpus ediert. Ihre Separierung von der persönlich adressierten Gelegenheitsdichtung […] ergibt sich aus dem Spezifikum, daß ihnen im Unterschied zu dieser weder die Versform noch eine prononcierte rhythmische Durchbildung eignet. (BKA III, S. 264)
|
[16]
|
Was als Begründung getarnt wird, verweigert eine solche. Denn wie kommen die Texte dann überhaupt zu den Gedichten – und nicht, wie zu erwarten, zur »Sonstigen Prosa« (Band II/8 des Editionsplans)? Die erwähnte persönliche Adressierung kann kein Kriterium bilden, denn dann würde man sie eher noch bei den Briefen erwarten. Hier tritt ein grundsätzliches Manko der Ausgabe ans Licht: Die an dieser Stelle (zum Beispiel in den BKB) fällige Gattungsdiskussion wird nicht nur verweigert; angesichts der zitierten Begründung muss man sich gar fragen, ob das nötige gattungstheoretische und gattungsgeschichtliche Problembewusstsein existiert. Denn noch nie in der Editionsgeschichte wurde Kleists Lyrik dergestalt herausgehoben wie hier, in einem eigenen Band, bei dem man aufgrund der Zählung der BKA in Teilbänden fast schon von einer eigenen Werkabteilung sprechen kann. Die mit dieser editorischen Entscheidung implizierte Revision von Kanonisierungsprozessen wird nicht erkennbar reflektiert. Welche Chance ist hier vertan!
|
[17]
|
So ist diese editorisch und ästhetisch so überaus gelungene Ausgabe über jeden Streit erhaben – und zugleich ein Stein des Anstoßes. Die fruchtbare Verknüpfung von Editionsphilologie und Literaturwissenschaft, in jüngerer Zeit von beiden Seiten gewinnbringend gefordert, dadurch alte Frontstellungen überwindend
12
– diese Verknüpfung, die ja auch Reuß mit seinem Aufsatz in Anspruch nimmt, droht durch eine editorische Praxis wieder gekappt zu werden, die anstehende literaturtheoretische Fragen nicht stellt, zu ihrer Diskussion aber dringenden Anlass bietet.
|