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Die Alphabetisierung der Nation

  • Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. (Reihe germanistische Linguistik 229) Tübingen: Max Niemeyer 2002. IX, 770 S. Kartoniert. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 3-484-31229-7.
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Während um 1700 5 bis 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung des Lesens und Schreibens mächtig waren, waren es 1900 annähernd hundert Prozent. Den komplexen Weg der Alphabetisierung eines Landes nachzuzeichnen, ist das Ziel von Alfred Messerlis Untersuchung. Die umfassende Studie wird vom Autor treffend den Bereichen Germanistik (Sozialgeschichte der deutschen Literatur) und Europäische Volksliteratur zugeordnet – was es nicht ganz nachvollziehbar macht, warum die Arbeit in der Reihe Germanistische Linguistik erscheint.

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In der relativ knappen Einleitung erörtert der Autor unter Berufung auf Konzepte u.a. von Roger Chartier, Franz M. Eybl, Helmut Glück und Erich Schön die Komplexität des Begriffes Literalität und die damit einhergehende Notwendigkeit einer historischen Rekonstruktion konkreter Leseakte. In einem Abschnitt zur Quellenlage weist Messerli folglich auf die Notwendigkeit hin, im Gegensatz zur einseitigen Fixierung auf die Untersuchung von Buchbesitz zahlreiche andere Zeugnisse einzubeziehen, denn: »Lesen und Schreiben zu können setzt keinerlei Buchbesitz voraus«. (S. 13)

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Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich schließlich in drei umfangreiche Abschnitte. Zunächst (»Die Durchsetzung der literalen Norm«) werden obrigkeitliche Schreib- und Leseprogramme dargelegt, während in den folgenden Kapiteln »Lesepraktiken« und »Schreibpraktiken« diesen Normen der tatsächliche Umgang mit Schrift gegenübergestellt wird. Die Geschichte der Lese- und Schriftpropaganda wird in drei einander überlappende Phasen eingeteilt. Jeder Phase entsprechen dabei bestimmte Programme ebenso wie bestimmte vorrangig eingesetzte Kommunikationsmedien. In der ersten Phase (1760–1830) werden Analphabeten als »bemitleidenswerte oder lächerliche Figuren« (S. 40) bloßgestellt; die Bedeutung des Lesens und Schreibens an sich steht im Vordergrund, »mit Schriftlichkeit wird ein allgemeines Glücksversprechen konnotiert« (S. 632). Kalender, Wochenblätter und Lesebücher sind dabei die bevorzugten Kommunikationsmedien, da sie auch kaum alphabetisierte Schichten erreichen.

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In einer zweiten Phase (1780–1830) wird die allgemeine Akzeptanz des Schreiben und Lesens als durchgesetzt betrachtet. Es gilt nunmehr, durch gezielte Lesepädagogik die Bedenken gegen gesellschaftliche Nachteile wie Vereinzelung und Verlust traditionellen kollektiven Wissens auszuräumen. Entworfen werden ständisch und gattungsspezifisch abgestufte Lektüreprogramme, bei denen vor allem fiktionale Textsorten wie Roman, Novelle und Volksbücher nicht unreflektiert und ungeleitet gelesen werden sollen. Empfohlen wird eine nützliche, nichtidentifikatorische Lektüre, die durch innerliche (schriftliche Aufzeichnung der Leseerfahrungen) und äußerliche (Jugend- und Volksbibliotheken) Kontrolle geleitet wird. Zu den Kalendern und Wochenblättern als Medien kommen nun Biographien und »semiorale Vorlese- und Vortragsakte« (S. 36) wie Predigten und Schulreden, die zu festlichen Anlässen auch oft gedruckt werden.

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Die dritte Phase (1800–1900) propagiert Schreibpraktiken wie das Verfassen von Briefen, Wirtschaftsbüchern, Haushaltungsbüchern und Tagebüchern, die im Sinne einer allgemeinen Rationalisierung und Ökonomisierung der Lebenswelt als notwendig angesehen werden. Die »Illusion der Mündlichkeit« (S. 183), die den Brief in der Tradition Gellerts als ›Stellvertretter des Gesprächs‹ (so 1786 der Schweizer Konrad Tanner) definiert, dient dabei dazu, die Schwellenangst vor dem Schriftmedium abzubauen. Etwa seit 1830 beobachtet Messerli hierbei, dass die Bedeutung des Kalenders als typographisches Medium der Schriftpropaganda zugunsten periodischer Unterhaltungsblätter abnimmt.

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Das Kapitel »Lesepraktiken« setzt der propagierten literalen Norm die konkrete historische Vielfalt der Nutzung von Geschriebenem entgegen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist das Schulwesen, das während des langen 18. Jahrhunderts fundamentale Umgestaltungen und Aufwertungen erfährt. Von entscheidender Bedeutung war hierbei die Ablösung des höchst uneffektiven Massenunterrichts, bei dem jedes Kind individuell übte und individuell betreut wurde durch gemeinsames lautes Lesen oder stille Lektüre. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war die Durchsetzung von einheitlichen Lernmedien (Lesebücher, Wandtafeln). Weitere Neuerungen, die entscheidend zur Verbesserung der Lernerfolge beitrugen, waren die Lautiermethode und die Praxis, mit dem Schreibunterricht nicht mehr nach Ende des Leseunterrichts zu beginnen, sondern Lesen und Schreiben gleichzeitig zu lehren.

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Diese Maßnahmen förderten die Fähigkeit zur eigenständigen und letztlich nicht mehr kontrollierbaren extensiven Lektüre, die in Gegensatz zur kirchlich geprägten intensiven Erbauungslektüre stand. Die Erfolge der Neuerungen waren oft schon im 18. Jahrhundert beeindruckend: Dass gängige Statistiken zum Alphabetisierungsgrad (wie Rudolf Schendas 25 Prozent um 1800) nicht haltbar sind, zeigt schon das Beispiel der Region Zürich, wo nach den Untersuchungen von Marie Louise von Wartburg-Ambühl zu Beginn des letzten Viertels zwischen 71 und 94 Prozent der männlichen Bevölkerung lesefähig waren. Dass man der individuellen Lektüre obrigkeitlich gegenzusteuern versuchte, zeigt Messerli anhand der propagierten idealtypischen Vorleseakte, die keineswegs für bare Münze genommen werden dürfen. Proteste gegen die neuen Unterrichtsmethoden kamen auch aus der älteren Generation, die das kollektive Traditionswissen gefährdet sah.

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Im dritten Hauptkapitel dokumentiert der Autor die vielfältige Durchdringung des Alltags mit Schriftlichem. Die Schreibpraktiken stellen im Gegensatz zur Lektüre einen von der Forschung bisher weniger beachteten Aspekt dar. Das mag auch damit zusammenhängen, dass im Gegensatz zum Lesenlernen beim Schreibenlernen kein Durchsetzungsinteresse vorlag. Ein offizieller Schreib-Diskurs fand nicht statt. Es war vielmehr die alltagspraktische Notwendigkeit in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die häufig genug zur »›Alphabetisierung von unten‹ als eine[r] informelle[n] Praxis autodidaktischer Lern- und Lehrprozesse« (S. 503) führte. Messerli führt zahlreiche Beispiele an, die Armando Petruccis These eines dem »Druck von oben« entgegengesetzten »Drucks von unten« als »Folge eines zunehmenden Bedürfnisses einzelner nach Bildung« (S. 502) stützen. Das Klischee einer bildungsfernen, passiven Bevölkerung erweist sich schon insofern als obsolet, als man häufig auch im Sinne von literacy of family (David Vincent) handlungsfähig blieb, wobei nicht selten die bereits besser ausgebildeten Kinder das Verfassen von Schriftstücken übernahmen.

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Alfred Messerli hat einen reichen Bestand von Quellen abseits der öffentlichen Lesedebatten systematisch ausgewertet: Über die Lesepraxis informieren die Lesestoffe selbst in ihrer materiellen Beschaffenheit (verlegerische Gestaltung, Spuren des Lesers im Buch), Zensurakten, Verhörprotokolle, Visitationsberichte, statistische Untersuchungen, Lehrbücher und Reiseberichte (auch die Auswertung von Leihbibliothekskatalogen hätte hier Aufschluss geben können). Dazu kommen alle Arten von privaten Aufzeichnungen zur Rekonstruktion von Lektürebiographien. Dokumente des alltäglichen Schriftgebrauches sind Briefe, Rechnungen, Verträge und verschiedenste private und häusliche Aufzeichnungen (Schreibkalender, Haushalts- und Tagebücher, Familienchroniken, Briefe, Autobiographien u. a.).

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Die systematische Nutzung all dieser Quellen ermöglicht es, abseits der Fortschrittsrhetorik der Lesepropaganda Erkenntnisse über den konkreten Literalitätsprozess zu gewinnen. Dies gelingt dem Autor exemplarisch in seiner Untersuchung der Schreibpraktiken, aber auch indem er die wichtige Rolle von semiliteralen Prozessen (Singen, Erzählen von Gelesenem, Vorlesen, häusliche Andachten) als Zwischenstufen der Alphabetisierung herausarbeitet. Messerli stellt zwar das ›katholische Leserdefizit‹ (Ludwig Muth) nicht grundsätzlich in Frage, aber auch hier gelingen ihm Differenzierungen: So weist er auf den großen Einfluss hin, den die österreichische Normalmethode des katholischen Geistlichen Ignaz Felbinger bei der Verbesserung des Leseunterrichts in der Schweiz hatte. Messerli stellt auch fest, dass der Schreibunterricht im reformierten Bereich durch die »Fixierung [...] auf das gelesene ›Wort Gottes‹« (S. 503) streng religiös ausgerichtet blieb, während er in katholischen Grundschulen tendenziell »alltagspraktisch determiniert« (ebd.) war.

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Fazit

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Der Autor hat eine beeindruckende Fülle von Quellen erschlossen und im Gegensatz zu vielen Germanistenkollegen auch den Weg in die Archive nicht gescheut. Seine Arbeit demonstriert, dass bei jeder historischen Untersuchung von Literalität die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ebenso zu berücksichtigen ist wie die reale Vielfalt von Lese- und Schreibpraktiken. Diese produzieren ihre eigenen Bedeutungen und widersetzen sich den verordneten literalen Normen. Alfred Messerli gelingt es überzeugend, den Prozess, der die Schweiz innerhalb von zwei Jahrhunderten zu einer vollständig alphabetisierten Nation machte, nachzuvollziehen. Seine Studie weist den Weg für regionale Untersuchungen, die alleine den facettenreichen Umgang mit dem Medium Schrift weiter erhellen können.