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Neues über den esoterischen Goethe

  • Hans-Jürgen Schrader / Katharine Weder / Johannes Anderegg (Hg.): Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Tübingen: Max Niemeyer 2004. XII, 188 S. 4 s/w Abb. Leinen. EUR (D) 32,00.
    ISBN: 3-484-10863-0.
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Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer im Jahr 2002 abgehaltenen Tagung der 1997 gegründeten Schweizer Goethe-Gesellschaft. Sechs der neun enthaltenen Beiträge wurden von in der Schweiz lehrenden Germanisten verfasst, die übrigen drei bilden eine starke wissenschaftshistorische Flanke. Thematisch folgt der Band der seit den 60er Jahren etablierten, jedoch seitdem eher randständigen Fragestellung nach Goethes Rezeption und Transformation der im weitesten Sinne philosophischen Traditionsbestände aus Renaissance und Humanismus; die Beiträge konzentrieren sich auf Hermetik und Alchemie, Magie, Neuplatonismus, Magnetismus und das philosophische Analogiedenken. Der lesenswerte und sorgfältig konzipierte Band zeichnet ein vielfältiges und präzises Bild von Goethes Kenntnis und seiner künstlerischen wie wissenschaftlichen Verarbeitung dieser Traditionen.

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Pansophie? Weltweisheit?
Probleme mit der Terminologie

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Vielleicht war den Herausgebern die eigene – ohne Zweifel griffige – Titelwahl doch nicht ganz geheuer, denn im Vorwort versichern sie:

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Hinter den heute fremd gewordenen, vielleicht geheimnisvoll klingenden Formeln ›Pansophie‹ und ›Weltweisheit‹ verbirgt sich keineswegs eine obskure Geheimlehre oder gar sektiererische Heilsbotschaft. Beides sind vielmehr die historisch geläufigen Formeln für Erkenntnisbestrebungen und philosophische Reflexion zwischen früher Neuzeit und Goethezeit. (VIII)
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So selbstverständlich, wie hier suggeriert wird (vom gewagten Einsatz des ›Goethezeit‹-Mythologems abgesehen), ist die Wahl des Vokabulars indes nicht. Als historischer Begriff, darüber informiert der entsprechende Artikel von Wilhelm Schmidt-Biggemann im Historischen Wörterbuch der Philosophie, geht ›Pansophie‹ auf Comenius und Paracelsus zurück und etabliert sich im 17. Jahrhundert als Signalbegriff für die nachfolgende christliche Heterodoxie (u.a. J. Böhme, J. V. Andreae). In der Spätaufklärung taucht er selten auf, in Goethes literarischem Werk überhaupt nicht. Als wissenschaftlicher Terminus schließlich wurde das Label ›Pansophie‹ in den 1920er Jahren von Will-Erich Peuckert geprägt, der allerdings die von ihm untersuchten Texte der Esoteriktradition stark affirmativ las, was die Brauchbarkeit des Begriffs deutlich einschränkt.

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Warum also gerade Pansophie? Die Herausgeber motivieren die Wahl des Terminus mit der Zentralstellung Paracelsus’. Diese ist aber allein im Beitrag Maximilian Bergengruens gegeben (und kommt für den ›ganzen Goethe‹ schon gar nicht in Betracht). – Thema sind vielmehr, und diese Reihung leuchtet durchaus ein, in allgemeinerem Sinn die

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[…] vor allem in Goethes Jugend (insbesondere der Frankfurter Krankheitskrise) aufgenommenen, doch bis ins Alter immer wieder neu bedachten vor- oder frühmodernen Traditionen einer ganzheitlichen Weltdeutung (neuplatonische, mystische, paracelsische, spiritualistische Anregungen und Lektüren. (VIII)
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Auch die Entscheidung für ›Weltweisheit‹ ist nicht unproblematisch. Diese soll den anderen Pol bilden in dem, wie es heißt, »unermeßlichen Feld der Einflußlinien aus alt-pansophischer wie aus neuer, weltweisheitlicher Tradition« (XI). Dieser Begriff ist ähnlich unpraktikabel wie derjenige der Pansophie, steht er doch spätestens seit der Frühaufklärung (ein berühmtes Buch Gottscheds führt ›Weltweisheit‹ im Titel) als weltliches Pendant der Gottesgelahrtheit für das weite Feld der Philosophie, darunter die alten und neuen philosophischen ›Secten‹, zu denen die spekulative Wissenschaft des Paracelsus ebenfalls gehört – kurz gesagt für eine Disziplin, und eben nicht an erster Stelle für die neue Wissenschaft von Kopernikus bis Newton.

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Forschungskontext

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Im Vorwort werden Anschlüsse an die jüngste Goethe-Forschung markiert, an die 1999 in den Franckeschen Stiftungen in Halle abgehaltene Tagung über Goethe und den Pietismus 1 und die großen Faustkommentare (man denke etwa an die umfassende Dokumentation Ulrich Gaiers 2 ), die Goethes Auseinandersetzung mit esoterischen Strömungen der Frühen Neuzeit belegen. Doch ist das Thema in der Goetheforschung, so bleibt zu ergänzen, keineswegs neu. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang vor allem an die zweibändige Monographie von Rolf-Christian Zimmermann Das Weltbild des jungen Goethe (1969 / 79) 3 , eine grundlegende Untersuchung, deren Anregungspotential jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Zu weit ab von den gängigen Forschungspfaden scheinen die hermetisch-alchemistischen Referenztexte und ihre weithin vergessenen Autoren (Joseph-Anton Kirchweger, Samuel Richter u. a.) immer noch zu liegen, deren spekulative Theoreme in Goethes ›Weltbild‹ eingeflossen sind. Nach verstreuten Veröffentlichungen der 1980er Jahre (u.a. Hartmut Böhme und Klaus H. Kiefer) 4 und zusammen mit den erwähnten jüngeren Arbeiten – unbedingt zu ergänzen ist der Band Sturm und Drang: Geniereligion von Hans-Georg Kempers Lyrikgeschichte der Frühen Neuzeit 5 – kann der vorliegende Sammelband als ein weiteres Zeichen dafür genommen werden, dass der Relevanz des Themas zunehmend Rechnung getragen wird.

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Die Beiträge

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Jean Starobinski arbeitet in seinen eröffnenden Bemerkungen zum Begriffspaar ›Aktion‹ und ›Reaktion‹ (dem der Autor auch in einer eigenen Monographie nachgegangen ist) 6 eine weitere Facette dessen heraus, was seit Georg Simmel als Goethes Polaritätsdenken die Aufmerksamkeit der Forschung häufiger auf sich gezogen hat. Dabei erweist sich, dass Goethe das actio-reactio-Schema entgegen der zeitgenössischen Physik universalisiert und vitalistisch uminterpretiert. Goethe sieht

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[…] die Welt als ein Kräftefeld vielfältiger ›Aktionen‹ und ›Reaktionen‹, aber er benutzt diese Begriffe nicht in jenem mechanischen Sinn, den sie bei Laplace oder Senancour hatten; er gibt ihnen die Bedeutung, die sie im Wortschatz der qualitativen Physik der Peripathetiker des Mittelalters oder der Neostoiker der Renaissance hatten, die die Welt als ein animans sahen, ein großes belebtes Wesen. (S. 3)
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Nicht mechanistische Verrechnung, sondern anschauende Erkenntnis ist entsprechend Goethes eigene Methode auch in der Naturforschung.

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In seiner Leipzig-Frankfurter Krankheitskrise 1768 / 69 arbeitete sich der junge Goethe unter dem fürsorglichen Einfluss Katharina von Klettenbergs sowie des Arztes Johann Friedrich Metz intensiv in die »alchemistisch-hermetische« (S. 13) Naturphilosophie ein. Zwar hielt nach Goethes – durch ein ›Geheimmittel‹ zustande gekommener – Genesung die Begeisterung für eigene Versuche im Labor nicht lange an und auch die weiter fortgesetzte Lektüre alchemistischer Traktate kam an ein Ende. Fraglos hat Goethe jedoch aus dieser Zeit profundes Wissen über frühneuzeitliche Esoterik mitgenommen – und noch Jahrzehnte später seinen Texten eingeschrieben.

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Der Beitrag von Christa Habrich »Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik« erarbeitet dieses Thema mit der Prämisse eines »radikale[n] Umbruch[s] von der pragmatisch, phlogistonisch argumentierenden Chemie zur ›modernen [...] Zeitenwende in der Chemie« (S. 11). Habrich untersucht diese Umbruchssituation am Paradigma Goethes; dabei stellt sich einmal mehr heraus, dass sich, mit der Einschränkung ironischer Brechungen im Spätwerk, ein »hermetisches Denkmuster« (S. 26) durch das gesamte Schaffen Goethes zieht. Dies war schon das Ergebnis von Zimmermanns Arbeiten, die Studie Habrichs gibt dem älteren Befund nun neue, präzisere Konturen aus wissenschaftshistorischer Perspektive.

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Morphologie

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Gleiches gilt für den Beitrag von Margrit Wyder über »Goethes Morphologie und ihre Gesetze«. Auch dieses etablierte Forschungsthema wird aus der Sicht einer Wissenschaftshistorikerin mit erheblichem Distinktionsgewinn neu profiliert. Die Studie geht auf eine Monographie Wyders über Goethes Naturmodell zurück, 7 die weit über Goethe hinaus dem Modell der Wesenskette im 18. Jahrhundert nachgeht – und zumindest für diese Epoche den bislang erforderlichen Rückgriff auf die geniale ideengeschichtliche Konstruktion von Arthur A. Lovejoy (The Great Chain of Being, 1933) obsolet macht. 8

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Goethe hat sich mit dem hierarchisch-organismischen Modell der Aurea Catena Homeri u.a. anhand des Werks von Joseph Anton Kirchweger beschäftigt. Hier konnte er den für ihn zentralen Gedanken einer lebendigen Natur finden, der ihn zu eigenen, wenn auch zunächst fruchtlosen Experimenten anregte. 1784 aber gelang Goethe bekanntlich die Entdeckung des Zwischenkieferknochens, wobei er einerseits auf Methoden der vergleichenden Anatomie, andererseits auf Alchemie und naturphilosophische Analogiemodelle (Prototypenlehre, Universalharmonie) zurückgegriffen hat.

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Aus vergleichbaren Figuren speist sich auch Goethes Urpflanzen-Idee und sein späteres morphologisches Entwicklungsmodell (Typus und Metamorphose statt Präformation), das nach Wyder Parallelen zu »Robinet, aber auch zu hermetischen Werken« (S. 43) aufweist. Erst die romantische Naturphilosophie, ebenso wie Goethe »auf eine ganzheitliche Sicht der Natur« (S. 47) ausgerichtet, wusste Goethes im ausgehenden 18. Jahrhundert noch abgelehnte Ergebnisse in der Naturforschung zu würdigen, allerdings zu einem Zeitpunkt, als diese in weiten Teilen bereits überholt waren.

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Der Beitrag von Irmtraut Sahmland »›Die Natur in einer schönen Verknüpfung‹: Goethes Adaption der Aurea Catena Homeri« systematisiert Goethes Verwendungsweisen der Wesenskette und ergänzt auf diese Weise die Beobachtungen von Wyders Buch über Goethes Naturmodell um weitere interessante Details, ohne Abweichungen in der Gesamttendenz.

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Hermetisches Wissen

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Maximilian Bergengruen demonstriert am Anfang seines Aufsatzes über das ›hermetische Wissen‹ im Faust I die Engführung von Magier und Teufel bei Paracelsus. Auch wenn die Kunst der natürlichen Magie derjenigen des Teufels diametral entgegensteht (»Was der Magier zur Vollendung der Offenbarung Gottes in der Natur tut, tut der Teufel, um eben diese Offenbarung ›zuruck [zu] treiben‹« [S. 90]), so handelt es sich in beiden Fällen doch um eine Kunst der Täuschung, ja zuletzt um ein »Konkurrenz- und Korrelationsverhältnis« (ebd.), indem beide Akteure durch ihre (Re)Präsentationen und Künste wechselseitig voneinander abhängen.

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Bergengruen nimmt diese hermetische Theologie des Bösen zum Ausgangspunkt seiner Deutung der Mephisto-Figur im Faust I, mit den einsichtigen Prämissen einer »ästhetische Formation« und einer »humoristisch adaptierten hermetischen Konstellation« (S. 93). Die metaphysische Macht des Teufels erweist sich auf der paracelsistischen Folie – und unter den Bedingungen einer im 18. Jahrhundert weitgehend auf ihre technischen Aspekte einer Illusionskunst zurückgestutzten magia naturalis – als recht begrenzt. Mephistos Formel »Ich bin ein Teil des Teils, der Anfangs alles war« wird dabei als Satire lesbar, denn alles, was der Teufel hier tatsächlich noch vermag, ist eine magische Manipulation der Natur.

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Auf diesem Gebiet freilich operiert der Magier Faust mit ihm auf Augenhöhe, und diese Ebenbürtigkeit macht verständlich, warum sein Verhältnis zu Mephisto durch eine gewisse Respektlosigkeit gekennzeichnet ist. Allerdings zielt Faust bekanntlich auf eine höhere Erkenntnis der Welt. Christlich-anthropologisch ist solche Erkenntnis (von Bergengruen mit Hilfe von Paracelsus und Leibniz als deutliche und distinkte Erkenntnis der Dinge spezifiziert) durch ein Spannungsgefüge von adamitischer Restriktion (Sündenfall) und höherer Ermöglichung (Glaube, Gnade) geregelt. Im Teufelspakt verschreibt sich Faust aber gegen göttliche Interessen nicht dem Glauben, sondern dem Ziel maximalen Distinktionsgewinns und bricht diesen Spannungsbogen somit zugunsten einer »wiederholte[n] Reproduktion des Sündenfalls« (S. 102) – mit den Mitteln technischer Simulation und dem Ziel einer quasi asymptotischen Annäherung an ›übernatürliche‹ Erkenntnis.

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Die Details dieser luziden These Bergengruens über eine luziferisch-faustische Parodie des Erwerbs ›höheren Wissens‹ lese man im Aufsatz nach. Die fortwährende Pointiertheit der Argumentation (gelegentlich bis zur Verstiegenheit, so z.B. in der These von einer »pantheistischen Volte« [S. 103], an anderer Stelle ist gar die Rede von der »Naturalisierung der mystischen Teilhabe am göttlichen Willen« [S. 104] angesichts des ›Objektwechsels‹ der Erkenntnis von Gott zu Mensch und Natur) macht allerdings die Lektüre des Textes nicht gerade leicht.

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Im Anschluss an die kühne These Bergengruens von der magischen Simulation des Sündenfalls als faustischer Erkenntnistechnik lenkt Karl Pestalozzi in seinem Beitrag »Zum Problem des Ganzen bei Goethe (mit Blick auf Karl-Philipp Moritz)« das Thema der Welterkenntnis und ihres Verlusts in konventionellere Bahnen zurück. Goethes »Holismus« (S. 113) habe verschiedene – metaphysische, ästhetische, anthropologische, morphologische – Aspekte, unter denen Pestalozzi das kosmische Ganze heraushebt: »Dieses kosmische Ganze unterscheidet sich für Goethe von allen übrigen Ganzheiten kategorial dadurch, daß es sich nicht nur der sinnlichen Anschauung, der Erfahrung, sondern auch der Vorstellung entzieht.« (S. 114). Pestalozzi ruft die Kluft zwischen dem pansophischen Gedanken eines kosmischen Ganzen im Barock und der im ausgehenden 18. Jahrhundert durchgesetzten kopernikanischen Wende in Erinnerung, die schon im Urfaust inszeniert werde:

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Die Faust-Figur ist damit so exponiert, daß Faust als Erbe der in der alchemistisch-hermetisch-pansophischen Tradition liegenden Zuversicht erscheint, das Ganze der Welt erkennen und sich seiner bemächtigen zu können, zugleich aber als einer, bei dem dieses Erbe nicht mehr funktioniert. (115)
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Dabei bleiben Ganzheits-Vorstellungen in Goethes Gedankenwelt erhalten und gehen auf prägnante Weise in Kunstreflexion und Poetik ein, wie Pestalozzi anhand einer Analyse von Gesprächen zwischen Goethe und Karl Philipp Moritz in Rom feststellt. Goethe adaptiert Moritz’ neuplatonisch inspirierte Konzeption einer Ganzheit des Kunstwerks, die sich als Analogie zum kosmischen Ganzen konstituiert: »Das Kunstwerk gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich noch immer das kosmische Ganze vor die Sinne zu bringen. Jedes gelungene Kunstwerk spiegelt das Weltall« (S. 120). Noch in die Figuren des Herrn und der Engel im Prolog im Himmel modelliert Goethe kunsttheoretische Züge hinein, die auf Moritz’ Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen verweisen.

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Analogie und Polarität

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Im Beitrag von Armin Westerhoff »Zwischen Ganzheits- und Differenzdenken. Goethes Analogie-Verständnis mit Blick auf ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹« wird erstmals diejenige Denkfigur thematisch, die etwa in Gestalt der Mikro-Makrokosmos-Analogie oder des Ähnlichkeitsprinzips innerhalb der Wesenskette auch für vorhergehende Beiträge von Bedeutung war und im Untertitel das Thema der »philosophisch-analogischen Konzepte« Goethes anzeigt. Westerhoff geht einer Reihe von Einlassungen Goethes zur Analogie nach und zeigt überzeugend, dass Goethe das Analogieprinzip reflektierte und als ästhetisches Strukturprinzip bewusst einsetzte.

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Bei der Frage nach den Quellen für Goethes Methode rekurriert Westerhoff ebenso auf Plotin wie auf Kant, aber auch auf die analogische Heuristik des Empirismus (Gassendi). Die in wenigen Zügen präzise gezeichneten Umrisse des Analogiedenkens im 18. Jahrhundert werden schließlich auf Struktur und Bauformen der »Wanderjahre« bezogen, denen sich zugleich einige der Goetheschen Maximen und Reflexionen über das Analogieprinzip verdanken.

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Auf das Prinzip der Polarität bei Goethe kommt noch einmal Katharina Weder in ihrem Aufsatz »Sympathetische Verbindung: Zum Magnetismus in der Natur, zwischen Körpern und Seelen bei Goethe« zurück. Auch hier geht es nicht allein um die Wissenschaft vom Magneten, vielmehr greift Goethe aus seinem Interesse am naturwissenschaftlichen Phänomen – das bekanntlich den Mesmerismus einschloss –, die dahinter stehende polare Figur auf und transformiert sie mit bemerkenswertem Gespür für die Vielfältigkeit der sich dabei bietenden Möglichkeiten. Er wendet sie prinzipiell-metaphysisch, anthropologisch, symbolisch, ästhetisch, poetologisch.

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Weder befragt den Werther, die Wahlverwandschaften und die Wanderjahre (hier zum Magnetismus und zum hieroglyphischen Schlüssel) und beobachtet dort

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[…] die Ausdehnung des Wirkungsbereichs magnetischer Kräfte von der anorganischen Natur auf die organische und psychisch-geistige Welt, da in solchem Analogiedenken die Anschlußfähigkeit alter Konzepte eines sympathetischen Weltzusammenhangs liegt. (S. 151)
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Neuplatonischem Analogiedenken ist also auch dieser Beitrag auf der Spur. Goethe verarbeitet den Magnetismus im Motiv des Gleichklangs der Herzen zwischen Werther und Lotte. Den Magneten bildet jeweils ein Drittes: eine Allee, ein Buch. In den Wahlverwandtschaften verbindet magnetische Anziehungskraft Eduard und Ottilie zu einer vollkommenen, agonalen Einheit; die von Goethe rezipierte Theorie des animalischen Magnetismus zeigt sich auch in Ottilies medialen Eigenschaften.

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Die Sympathienlehre sorgt dafür, dass sich die Gesichtszüge der bei der Zeugung von Eduards und Charlottes Kind abwesenden Geliebten dennoch im Gesicht des Kindes eintragen. Prägnant zeigt sich hier die ästhetische Umsetzung älterer philosophischer Theoriebestände.

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Die Sympathielehre ist in der Romanwirklichkeit gerade kein spekulatives Konzept – dem man entweder anhängen oder das man als einer magischen Weltsicht entsprungenes verwerfen kann – , vielmehr unentrinnbare, ungeheuerlich-rätselhafte Realität, ohne dass dabei aber irgend etwas erklärt wird. (164)
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Auf den abschließenden Beitrag von Johannes Anderegg über »Goethes Wahrnehmung von zyklischer Zeit« mit Beobachtungen zum alten Goethe sei an dieser Stelle nicht weiter eingegangen, da es sich um einen später hinzugefügten, nur bedingt ins thematische Konzept passenden Vortrag handelt.

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These:
Poetische Transformation esoterischer Philosophie

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Insbesondere dort, wo die Analyse poetischer Texte in den Vordergrund tritt, etwa in den Beiträgen von Maximilian Bergengruen, Armin Westerhoff oder Katharina Weder, wird deutlich, worin Goethes bedeutsamste Leistung auf dem Gebiet der Rezeption von Alchemie und Hermetik, von neuplatonischer Spekulation, Analogiedenken, Mesmerismus usw. im 18. Jahrhundert liegt: Das entscheidende Stichwort lautet »poetische Transformation« (S. 164). Ist es schon beeindruckend, wie viel scheinbar vergessene, aus dem Blick geratene Philosophie von der Renaissance bis zum 17. Jahrhundert in der zweiten Hälfte des folgenden, angeblich so aufgeklärten Jahrhunderts immer noch gegenwärtig war, so ist freilich der ästhetische Umbau, das zeigen alle Autoren des Sammelbandes, noch interessanter. Den unterirdischen Kanälen zu folgen, die Goethe in vielen seiner Texte mit Hilfe frühneuzeitlicher Esoterik konstruiert hat, erweist sich immer wieder als erhellend. Ausgesprochen facettenreich erscheint diese poetische Transformation in der vorliegenden Publikation.



Anmerkungen

Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001.   zurück
Ulrich Gaier: Kommentar zu Goethes Faust. Stuttgart 2002.   zurück
Rolf-Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. 2 Bände. München 1969 / 1979.    zurück
Hartmut Böhme: Lebendige Natur: Lebendige Natur – Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe, in: DVjs 60 (1986), 249 – 272; Klaus H. Kiefer: ›Die famose Hexen-Epoche‹. Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung; Kant, Schiller, Goethe, Swedenborg, Mesmer, Cagliostro. München 2004.    zurück
Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6 / II. Sturm und Drang: Genie-Religion. Tübingen 2002.   zurück
Jean Starobinski: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars. Frankfurt a. M. 2003.   zurück
Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die scala naturae und ihre Transformationen. Köln u.a. 1998.   zurück
Vgl. die deutsche Ausgabe: Arthur O. Lovejoy: Die Große Kette der Wesen. Frankfurt a. M. 1985.   zurück