IASLonline

Herder: Neue Aspekte des Lebenswerkes

  • Martin Kessler / Volker Leppin (Hg.): Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 92) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. 438 S. 3 Abb. Leinen. EUR (D) 118,00.
    ISBN: 978-3-11-018427-3.
[1] 

Nach Karl Barths Diktum ist Herder der »Theologe unter den Klassikern« gewesen – aber das ist bisher kaum berücksichtigt worden. Die meist germanistische oder philosophiehistorische Forschung hat die theologischen Aspekte von Herders Denken und Schreiben eher ignoriert, teils sogar abgewertet, so dass nicht selten zu hören ist, Herder sei ja ›leider‹ Geistlicher geworden, anstatt etwas ›aus sich zu machen‹. Auch in der Geschichte der Theologie hat Herder meist nur eine randständige Position und galt allenfalls als Vorläufer Friedrich Schleiermachers – auch hier wurde ihm also die Rolle eines ›Vorbereiters‹ zugewiesen, die seine Rezeption so oft erschwert hat. Generell kann man vermuten, dass die Schwierigkeiten der Forschung mit den theologischen Momenten von Herders Werk immer ein wesentliches Hindernis von dessen Verständnis gewesen sind.

[2] 

Der vorliegende Band macht einen entschlossenen Vorstoß, um dieser Leerstelle zu begegnen. Er geht auf eine Weimarer Tagung aus dem Jahr 2003 zurück, die um das von den Herausgebern durchgeführte Projekt über Herders Kirchenamt organisiert wurde. Wie wir im knappen Vorwort erfahren, sollte die Tagung »Anlaß zu einem Gespräch der etablierten Herderforschung mit der Theologie in ihren verschiedenen Fachrichtungen bieten, ohne dieses von einschlägigen thematischen Vorgaben dominieren zu lassen« (S. III), woraus sich auch der betont offene Titel des Bandes erklärt. Trotzdem bleibt es zu bedauern, dass die Herausgeber nicht wenigstens den Versuch gemacht haben, diese Aspekte durch eine Einleitung oder durch einen aussagekräftigeren Titel zusammenführen. So bleibt der Band eine Reihe von allerdings großteils hervorragenden Einzelleistungen, die hier natürlich nur umrisshaft dargestellt werden können.

[3] 

Poetische Urkunde

[4] 

Eine Reihe von Beiträgen thematisiert Herders Umgang mit der Bibel. Tatsächlich hat Herder ja eine ganze Reihe wichtiger Werke über die Bibel verfasst, die für sein Werk und für die zeitgenössische Rezeption eine zentrale Rolle spielen, von der Forschung aber schon deshalb selten behandelt werden, weil sie nur im Kontext der Geschichte der biblischen Exegese gelesen werden können und daher Spezialkenntnisse voraussetzen, die der germanistischen Forschung in der Regel verschlossen sind. Die Geschichte der Exegese selbst wird dagegen nur von wenigen und meist als Fachgeschichte beschrieben, die mehr an der Vorgeschichte eines als gültig angesehenen Forschungsstandes interessiert ist als an den breiteren kulturellen Zusammenhängen der Exegese; in ihr können daher Herders eigenwillige Ansätze keine wichtige Rolle spielen.

[5] 

Rudolf Smend, Herausgeber von Herders Schriften zum Alten Testament in der Ausgabe des deutschen Klassiker Verlages hatte schon dort betont, dass Herders exegetische Arbeiten durchaus gelehrt seien und eigentlich eines breiten historischen Kommentars bedürften, den heute aber kaum jemand erstellen könne oder lesen wolle. Im vorliegenden Band macht sein Überblick zu Herders facettenreicher und andauernder Beschäftigung mit der Bibel noch einmal deutlich, ein wie breites Feld hier noch zu erschließen wäre. Christoph Bultmann, Autor der bisher besten Monographie zu Herders Bibelexegese, 1 geht Herders ambivalenter Haltung zu Moses nach, den er einerseits in einem aufklärerischen und historisierenden Zugriff ganz pragmatisch als Gesetzgeber betrachtet, andererseits als hebräischen Homer stilisiert und explizit in den Bereich des Vorbildhaften, Bewunderungswerten entrückt. Zugleich wird die zentrale Position Moses (der ja etwa bei Eichhorn zunächst noch als Autor bzw. Kompilator des Pentateuch gilt!) bei Herder relativiert – vor allem durch den seit der Ältesten Urkunde festgehaltenen Gedanken der Urtradition, die Moses eben seinerseits nur weitergegeben habe.

[6] 

Auch Gerhard Sauder beschäftigt sich mit Herders alttestamentlicher Exegese im Kontext der zeitgenössischen Diskurse und betont dabei, dass sich für Herder die verschiedenen exegetischen Paradigmen, die in der Rückschau als unvereinbare Gegensätze erscheinen, eben nicht ausschließen. Jörg Frey untersucht Herders neutestamentliche Schriften, die sich vor allem mit der Genese der Evangelischen Tradition, mit dem Johanneischen Schrifttum und mit religionsgeschichtlichen Vergleichen beschäftigen. Auch wenn Herders Ansätze methodisch oft wenig ausgearbeitet waren – etwa im Vergleich zur wesentlich ›technischeren‹ synoptischen Kritik der Zeitgenossen Eichhorn und Griesbach –, haben sie in vielem die Forschungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorweggenommen: formgeschichtliche Überlegungen zu mündlichen Vorstufen der Texte und religionsgeschichtliche Hypothesen zum Verhältnis von Neuen Testament und Gnosis. Allerdings zeigt sich dabei die Problematik der Kategorie der ›Vorwegnahme‹, denn wie Frey zu Recht betont, gehen Religions- und Formgeschichte von ganz anderen Voraussetzungen und Erkenntnisinteressen als Herder aus, dem insbesondere das geschichtskritische Interesse fehlt. Ähnliche Antworten bedeuten also durchaus nicht ähnliche Probleme; dementsprechend ist auch der gelegentliche Rekurs der Formgeschichtler auf Herder als ihren ›Vorgänger‹ meist eher rhetorischer Natur.

[7] 

Die ältere Forschung hatte Herders Umgang mit der Bibel meist durch Termini wie Poetisierung oder Ästhetisierung gefasst, etwa Dietrich Gutzen mit der Formel, bei Herder werde die Bibel zur Poesie und die Poesie zur Bibel. 2 Wie abstrakt diese Formel über den historischen Debatten schwebt, zeigen die historischen Beiträgen; dass sie gerade auf Herder nicht zutrifft, betont Bernd Auerochs: Zwar habe Herder durchaus eine ›ästhetische‹ Lektüre der Bibel angestrebt, damit aber etwas ganz anderes gemeint, als man meist annehme; die Rede von der Ästhetik sei grundsätzlich »irreführend«, insofern im Begriff eine »Dimension der existentiellen Neutralisierung mitschwingt« (S. 95), um die es Herder gerade nicht gehe. Wenn Herder daher die Bibel als Poesie zu lesen vorschlage, so impliziere das eben keine Distanznahme, ganz im Gegenteil: »Poesie in diesem Sinne ist intensive, direkte Kommunikation von Herz zu Herz.« (S. 195) Die poetische Lektüre ziele daher auch nicht auf die Einklammerung der Referenz des Textes, die Bibel ist also keineswegs ›nur‹ Poesie, sondern immer poetische ›Urkunde‹ und somit Spur einer historischen Wirklichkeit und Quelle von aktuellem Wissen. Die Vorstellung einer ästhetischen Säkularisierung der Bibel um 1800 wird man also, zumindest was Herder angeht, relativieren und differenzieren müssen.

[8] 

Freidenkende Orthodoxie

[9] 

Eine andere Gruppe von Beiträgen befasst sich mit der Rolle der Religion in Herders anderen, nicht direkt auf die Bibel bezogenen Werken. Ganz offensichtlich hat Herder ja eine wichtige Rolle bei der Heranziehung theologischer Denkfiguren für die philosophische und ästhetische Debatte ›um 1800‹ gespielt, aber diese Rolle ist nicht nur per se schwer greifbar – das ist die Krux des so schwer fassbaren wie unverzichtbaren Begriffs der Säkularisierung –, sondern auch durch Herders historische Position, die durch die Forschung der letzten Jahre immer mehr in die Nähe der Aufklärung gerückt wird, deren Verhältnis zur Religion viel zu wenig erforscht ist.

[10] 

Matthias Wolfes rekonstruiert Herders Religionsbegriff und nimmt ihn auf diesem Gebiet gegen den Vorwurf der ›Ästhetisierung‹ des Christlichen in Schutz, den insbesondere Vertreter der dialektischen Theologie wirkmächtig gegen ihn erhoben haben: »Von ›Häresie‹ im Blick auf Herder zu sprechen, würde […] nicht weniger bedeuten, als in Reproduktion bekannter positioneller Figuren aus den theologischen Kontroversen nach 1918 die gesamte Tradition neuzeitlicher Christentumstheorie der Illegitimität auszusetzen.« (S. 307) Ulrich Gaier bezieht die von ihm seit langen betriebene Rekonstruktion von Herders Systemtheorie auf die Theologie: Unter Rekurs auf Lambert, vor allem aber auf Oetinger habe Herder dabei die spinozistische Metaphysik grundlegend verwandelt und damit auch Platz für eine neue Konzeption der Religion geschaffen, die sich dann als Alternative insbesondere zur kantischen Religionsphilosophie versteht.

[11] 

Jan Rohls stellt Herders Position im Spinozismusstreit vor allem im werkbiographischen Kontext dar. Günther Arnold betont, dass eschatologische Fragen in Herders Werk eine grundlegende und kontinuierliche Rolle spielen: So beschäftigt ihn zeitlebens die Unsterblichkeit der Seele, auch haben seine weltgeschichtlichen Entwürfe stets auch heilgeschichtliche Implikationen, die vor allem mit der noch wenig erforschten Rolle der Apokatastasis-Lehre für das Denken des 18. Jahrhunderts in Verbindung stehen.

[12] 

Aber auch ganz anderen, weniger auf die theologische Argumentation gerichteten Untersuchungen gelingen interessante Einblicke in Herders religiöse Position. Heinz Röllecke weist darauf hin, dass Herders Volkslieder anders als spätere Sammlungen fast keine geistlichen Lieder enthalten und dass Herders eigene geistliche Lieder eher dogmatischen als volksliedhaften Charakter haben. Allerdings schließe Herder seine Volksliedsammlung durch Matthias Claudius’ Der Mond ist aufgegangen ab und verstehe das als Hinweis, »welches Inhalts die besten Volkslieder seyn und bleiben werden« (S. 116), sieht also auch die von ihm rekonstruierte (oder ›erfundene‹) Volkskultur durchaus im christlichen Bezug. Johann Anselm Steiger untersucht Herders Position in der von Lessing angestoßenen Auseinandersetzung um die Darstellung des Todes: Wenn er auch Lessings Verharmlosung des Todes kritisiert, kann er doch selbst mit dem Knochenmann nichts mehr anfangen und teilt insofern die Distanzierung der Aufklärung von der reformatorischen Dialektik des Todes.

[13] 

Das leidige Amt

[14] 

Eine dritte Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich im weiteren Sinne mit Herders Kirchenamt, das insbesondere seine Weimarer Jahre nachhaltig bestimmte. Immer wieder finden sich in seinen Briefen Klagen über die ihn so sehr in Anspruch nehmenden Amtspflichten; Klagen, in die die Forschung gerne einstimmte, voller Bedauern, dass das Amt Herder von seinen ›eigentlichen‹ Tätigkeiten abgehalten habe – gemeint sind natürlich solche, die in das Metier der Germanistik oder Philosophie fallen würden. Gegen solche einseitige Verlustrechnung weist Claudia Leuser anhand des Herderschen Erziehungsgedankens zu Recht darauf hin, dass dessen »diakonischer« Aspekt (S. 220) für Herder nichts Äußerliches ist. Die an sich schon oft zu wenig berücksichtigte theologische Dimension von Herders Anthropologie verlange in ihrer eigenen Logik nach einer praktischen Anwendung, die ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ sei eben auch eine Aufgabe gerade der schulischen und kirchlichen Institutionen.

[15] 

Rainer Wisbert stellt Herders Erziehungsgedanken in den Kontext der Bildungsgeschichte und ihrer deutschen Sonderentwicklung zur Bildungsidee: »Herders Leistung ist es somit, die Bildung des Individuums nicht länger von der Bildung der Gattung zu trennen, sie aber auch nicht in den Dienst der Gattung zu stellen.« (S. 364) Für diese Bildung spielt die Schule eine entscheidende Rolle – sie hilft der menschlichen Schwäche ab und garantiert die Kette der Bildung. Herder entwickelt daher auch recht konkrete Überlegungen zur Verbesserung des Schulwesens, die immer zugleich auf das Subjekt und den Gegenstand der Bildung bezogen sind, denn »beide müssen ja im Lern- und Verstehensbegriff miteinander gleichsam verschmelzen« (S. 366).

[16] 

Herders Denken ist notorisch vielfältig. Wenn es darin so etwas wie ein »Grundmotiv« gebe, so Eilert Herms, bestehe es in der »Gewinnung von Klarheit über die je gegenwärtige berufliche Handlungssituation als Voraussetzung für die sachgemäße Erfüllung der durch sie jeweils gestellten beruflichen Aufgabe«, mit anderen Worten – angesichts von Herders konkretem Beruf – »die Frage nach der Bedeutung der Bildungs- und Kulturinstitutionen – und zwar genau nach der Bedeutung der christlichen Institutionen dieser Art – für das Gemeinwesen« (S. 309). Dieses Grundmotiv prägt die weitreichenden Pläne der Rigaer Zeit, die Schriftstellerei in Bückeburg und auch die Amtstätigkeit in Weimar, wo sich Herder freilich zunehmend mit der ganz anders konstituierten Bildungsidee der Klassik konfrontiert sah, da in dieser insbesondere die Religion und das christliche Erbe keine konstitutive Rolle spielen sollte. Insofern ist Herder weniger ein Vorbereiter als jemand, der eine ältere Epoche abschließt: »Am Beginn des 19. Jahrhunderts begann Herders Lebensvision eines Gemeinwesens, das just durch die christlichen Bildungs- und Kulturinstitutionen und keine anderen innerlich zu Freiheit und Humanität gebildet war, bereits der Vergangenheit anzugehören.« (S. 323)

[17] 

Methodisch im Kontrast, inhaltlich auf ähnlicher Linie bewegen sich die detaillierten und quellenkritischen Überlegungen zu Herders Predigttätigkeit von Martin Keßler, der auch eine umfassende Monographie zu Herders Kirchenamt verfasst hat. 3 Das Predigen gehörte zu Herders wichtigsten Aufgaben als Geistlicher, es lässt sich kaum aus den wenigen gedruckten Predigten, sondern eher aus den zahlreichen erhaltenen Predigtdispositionen rekonstruieren. Hier zeige etwa deren Abweichungen vom Druck – in dem manches politisch oder dogmatisch Anstößige ausgelassen wird –, dass Herder gerade die Predigt als Möglichkeit der freien Rede begreift: Die Textgeschichte mache sichtbar, »wie sich das Ideal der freien Rede ausschließlich auf den Moment des Redeaktes beschränkte, gerade darin aber umsetzt [sic!] wurde« (S. 350). Das Predigtamt erscheint so nicht als lästige Pflicht und auch nicht von vornherein durch dogmatische Zwänge eingeengt, ganz im Gegenteil stellt es für Herder eine Form von Öffentlichkeit dar, die ja grundsätzlich im aufgeklärten Absolutismus höchst selten und politisch stets problematisch war.

[18] 

Diese politische Dimension der kirchlichen Tätigkeit betont auch die kulturgeschichtliche Untersuchung Michael Maurers über Herders Haltung gegenüber den Festen: Typisch protestantisch zeichnet sie sich durch Skepsis und eine Neigung zur Intimisierung und Privatisierung der Feste aus, und zwar nicht nur der kirchlichen, sondern auch der höfischen. Herders genuin bürgerliche Distanz zur aristokratischen Festkultur stehe dabei in diametralem Gegensatz zur Durchdringung von klassischer Bildung und höfischer Sphäre, wie sie die deutsche Klassik anstrebte, bewege sich aber auch noch deutlich vor dem Bruch der neuen bürgerlichen Festkultur, die durch die französische Revolution und die Befreiungskriege angestoßen wurde. Wieder einmal ist Herder historisch inmitten einer Übergangssituation zu positionieren – und sein Werk kann zugleich helfen, diesen Übergang besser und komplexer zu verstehen.

[19] 

Noch mehr Aspekte

[20] 

Es spricht nicht gegen Tagung und Band, wenn sich nicht alle Beiträge auf Herders Verhältnis zur Religion beziehen, denn auch diese ›Aspekte des Lebenswerkes‹ sind höchst lesenswert und darüber hinaus auch aufschlussreich für den Stand der Herder-Forschung heute. Gunter E. Grimm untersucht Herders Art des Reisens und dessen reflexiver Verarbeitung, insbesondere anhand der Italienreise. Er zeigt, dass Herder zwar eher ein Klischee vom Fremden reproduziert als sich wirklich auf die Erfahrung der Andersheit einzulassen, dass er aber gleichzeitig seine Erfahrung des Eigenen vertieft. Am Ende der Reise, in der Erinnerung, entsteht daher auch kein neues Italienbild, sondern die Wiederaufnahme des alten Traums von Arkadien. Jürgen Brummack beschäftigt sich mit Herders Adrastea-Projekt und damit mit dem ansonsten eher im Hintergrund der Forschung stehenden Spätwerk. Herder zeigt sich hier weniger als Anreger und Vorbereiter des Neuen denn als Vertreter einer eigenständigen Position, die sich im bewussten Gegensatz zum Zeitgeist weiß, aber gerade darum auf ihrem eigenen Recht beharrt: »So lange wir leben, sind wir auch da« (S. 179). Auch untersucht Brummack detailliert, wie Herder – typisch für sein Spätwerk – die hieroglyphische Schreibweise durch andere schriftstellerische Techniken ersetzt: Durch den kunstvollen Gebrauch des Dialog und vor allem durch das Arrangement fremder Texte.

[21] 

Hans Dietrich Irmscher schließlich, einer der großen alten Männer der Herder-Forschung, widmet sich der Beziehung von Herder und Goethe – ein Thema, das immer noch von entscheidender Bedeutung schon deshalb ist, weil Goethes Herder-Darstellung in Dichtung und Wahrheit die Rezeption nachhaltig beeinflusst hat und auch in der Forschung noch lange, wenn nicht bis heute in der einen oder anderen Weise nachhallt. Irmscher rekonstruiert die Ambivalenz der Beziehungen und die Spannungen der Temperamente, er relativiert Goethes Darstellung als einseitig, zeigt die zahlreichen und wichtigen Einflüsse Herders auf Goethe ebenso wie dessen grundsätzlich verschiedene Auffassung von Poesie, spricht von der »Koinzidenz« (S. 249) im Denken der beiden und meint bei Goethe schließlich Anzeichen einer grundsätzlichen Anerkennung Herders und einer »Trauer« über das Scheitern der Beziehungen zu finden (S. 269). Nur zu einer Kritik Goethes kann sich Irmscher nicht durchringen – wie so viele Vorgänger tendiert er dazu, Herders Verhalten psychologisch zu erklären, Goethe dagegen Einsicht in die Verhältnisse zu unterstellen und ihm daher auch das letzte Wort zu lassen. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese für die Herder-Rezeption immer noch so zentrale Konstellation nicht nur biographisch zu rekonstruieren, sondern mit theoretisch anspruchsvolleren Konzepten zu interpretieren, scheint es sich hier doch um einen geradezu klassischen Fall von ›Einflussangst‹ im Sinne Harold Blooms zu handeln, durch den Goethe sich seinen Vorgänger ›zurechtschreibt‹.

[22] 

Noch die apokryphe – und natürlich: von Goethe von vornherein apokryph überlieferte – Anekdote, Herder habe sich verletzend über Goethes ›natürlichen Sohn‹ geäußert, zeugt ja eigentlich nicht nur von einer Taktlosigkeit des letzteren, sondern auch davon, dass mit Goethe nicht zu spaßen war, wenn es um seinen moralisch wie ästhetisch ›autonomen‹ Status ging. Vielleicht würde sich von solchen Betrachtungen her auch ganz zwanglos eine Verbindung zur Fragestellung der ›Säkularisierung‹ und der Religion ergeben, die für diesen Band so wichtig ist: Bekannt ist, dass Herder das übersteigerte Selbstverständnis des jungen Freundes mit der Bemerkung kommentierte, ›Goethe‹ stamme nicht nur von ›Göttern‹, sondern auch von ›Goten‹ oder vom ›Kote‹ … Manches spricht dafür, dass es gerade der Spott über den kunstreligiösen Anspruch im Geniegedanken war, den Goethe sich mit seiner Darstellung von Herders kritiksüchtiger Unleidlichkeit vom Hals schreiben wollte. Wieder wäre es gerade das theologische Moment in Herders Denken, das ihn nicht nur zum Vorbereiter jener ästhetischen ›Säkularisierung‹ um 1800 macht, sondern auch zu deren Kritiker avant la lettre. Indem die Beiträge dieses Bandes das theologische Denken Herders ernst nehmen, ohne es von seinen anderen historischen und werkimmanenten Bezügen zu lösen, eröffnen sie eine neue und für die Forschung hoffentlich fruchtbare Perspektive auf diese komplexe Rolle Herders.

 
 

Anmerkungen

Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen: Mohr Siebeck 1999.    zurück
Vgl. Dietrich Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Bonn 1972, bes. S. 109 ff.    zurück
Martin Keßler: Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar. Berlin: de Gruyter 2007.    zurück