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Tonbildschauen in den Höhlen des Gehirns

Unterwegs zu einer Poetik der 'Stimmung' um 1800

  • Caroline Welsh: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800. (Rombach Litterae 114) Freiburg: Rombach 2003. 327 S. Kartoniert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-7930-9362-X.
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Zur Problematik

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Was die Welt im Innersten zusammenhält, trieb um 1800 nicht nur Goethe um. Auch die Romantiker waren auf der Suche nach der großen Universalformel. Erfolg versprachen sie sich dabei zumal von einem multidisziplinären Zugriff auf das alte Leib-Seele-Problem. Denn schließlich umfasste der Leib, ihrem intellektuellen Lehrer Fichte zufolge, nicht nur das Materielle des eigenen Ich, sondern, kraft der Setzung dieses Ich, nicht weniger als die ganze Welt. An der Schnittstelle zwischen Physis und Psyche entwickelten die Frühromantiker ihre Theorien der produktiven Wahrnehmung, in denen sich Elemente aus Anthropologie, Psychologie, Physiologie und Ästhetik zu einem utopischen Organon einer »Poëtisirung der Welt« (Novalis) amalgamierten.

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Dass es sich bei dieser Weltverzauberungskunst durch die poetische Einbildungskraft nicht um schöngeistige Phantastereien handelte, sondern um Spekulationen auf damals aktuellster wissenschaftlicher Erkenntnisgrundlage, weist Caroline Welsh in ihrer Dissertation überzeugend nach. Sie zeigt, wie die Frühromantiker in ihrer poetischen Wissenschaft physiologisch auf die Höhlen des Gehirns setzten. Unter dem Sammelbegriff ›Hirnhöhlenpoetiken‹ untersucht Welsh eine Reihe poetologischer Entwürfe um 1800, »die die Interaktion zwischen den an der bewußten Wahrnehmung beteiligten heterogenen Elementen des Physiologischen und des Geistigen am Übergang zwischen Körper und Seele ästhetisch ins Bild setz[en], diese Prozesse zugleich zum Inhalt ihrer poetischen Darstellung mach[en] – und selbstreflexiv auf die Bedingungen der Entstehung und Wirkung von Literatur hin befrag[en]« (S. 252).

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Welshs Studie stellt damit nicht nur einen neuen Untersuchungsgegenstand der interdisziplinären Romantikforschung zwischen Literatur- und Wissenschaftsgeschichte zur Diskussion. Weil in den ästhetischen Explorationen der Hirnhöhlen durch die Frühromantiker die Phänomene von Resonanz und Stimmung eine zentrale methodische Rolle spielen, ist sie auch ein gewichtiger Beitrag zur Problemgeschichte eines Begriffs (›Stimmung‹), den David Wellbery unlängst auf die Agenda der Literatur- und Ästhetikgeschichte setzte und der jüngst von Hans Ulrich Gumbrecht als Desiderat auch der Literaturtheorie eingefordert wurde. 1 Die konzentrierte (und damit notwendigerweise auch eingeschränkte) Perspektive auf diese spezielle Aktualität des Themas rechtfertigt denn auch die gegenwärtige Rezension eines Buchs, dessen Erscheinungsdatum nun doch schon etwas zurückliegt.

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Vom Resonanzkörper zur Klangfigur

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Im ersten Teil ihrer Untersuchung (S. 19–109) erarbeitet Welsh die theoretischen Alternativen, die den Analysen in den Autorenkapiteln des zweiten und dritten Teils zugrunde liegen. Dabei zeichnet sich die historische Ablösung eines älteren Resonanz- durch ein neueres Klangfigurenmodell ab, in denen ›Stimmung‹ in je spezifischer Weise operationalisiert wird. Voraussetzung beider Modelle – und diesen in unterschiedlicher Weise verwandt – ist Leonhard Eulers Idee der Seele, die in der camera obscura des Körpers die Vibrationen auf der Netzhaut in Vorstellungsbilder konvertiert (S. 19–28). In der Höhle des Gehirns eingeschlossen und von der Wirklichkeit der Welt getrennt, registriert Eulers Seele gleichsam als ein (kleiner) Mensch im (großen) Menschen jene – so hofft Euler wenigstens – wirklichkeitsähnlichen Schwingungsbilder, die dem Erkenntnissubjekt über seine fundamentale Unsicherheit bei der Frage, wie diese Realität in Wirklichkeit beschaffen ist, hinweghelfen sollen.

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Das Resonanzmodell der spätaufklärerischen Anthropologie im Zeichen des ›ganzen Menschen‹ adaptiert dieses Konzept eines Körpers, der wie die Saiten eines Musikinstruments in Schwingungen versetzt wird, bezieht jedoch im Unterschied zu Euler auch die Seele mit ein. Die heterogenen Problemelemente werden damit analog zu zwei isolierten, aber gleichgestimmten Instrumenten, die mechanisch aufeinander einwirken (influxus physicus), koordiniert. Im Banne einer Ausdrucks- bzw. Gefühlsästhetik avanciert die Musik nicht zuletzt deshalb zu einer Leitdisziplin für ästhetische und psychologische Theorieentwürfe, weil sich über das Phänomen der akustischen Resonanz eine unmittelbare Verbindung zwischen sinnesphysiologischen Prozessen im Körper und affektiven Vorstellungen in der Seele plausibilisieren lässt. Das spätaufklärerische Resonanzmodell hat indessen ein großes Problem: Durch die mechanische Abhängigkeit der Seele von ihrem Organ wird die Freiheit des Individuums aufs Spiel gesetzt (S. 44–47). Es wird deshalb um 1800 durch einen metaphorischen Trick gleichsam ›von innen‹ aufgebrochen: Töne werden zu Tasten, die das Subjekt gleich einem Klavierspieler willkürlich betätigen und damit die Resonanzen zwischen Körper und Seele nach Belieben manipulieren kann (S. 48 f.).

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Kritik ›von außen‹ erfährt das Resonanzmodell seit den 1790er Jahren durch das Konkurrenzmodell akustisch-optischer Klangfiguren. In seiner für die romantischen Hirnhöhlenpoetiken grundlegenden Schrift Ueber das Seelenorgan (1796) lokalisiert der Anthropologe und Anatom Samuel Thomas Soemmerring das zwischen Leib und Seele vermittelnde Medium – eben das Seelenorgan – in der Ventrikelflüssigkeit des Gehirns. In diesem sensorium commune sollen Nervenreize in Seelenregungen transformiert werden und umgekehrt (S. 55–70). Die bei diesem Transformationsprozess entstehenden Wellenklangfiguren bildet Soemmerring jenen viel diskutierten Linienbildern nach, die der Akustiker Ernst Florens Friedrich Chladni bei seinen Forschungen zum Schwingungsverhalten von Flächen und Körpern entdeckt und beschrieben hatte.

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Weshalb Soemmerrings Klangfigurenmodell gerade unter transzendentalphilosophisch gebildeten und ästhetisch interessierten Theoretikern um 1800 Karriere machen konnte, wird aus Welshs differenzierter Diskussion von Kants Kritik an Soemmerring verständlich. Denn diese richtete sich lediglich gegen die Äquivokation zwischen dem Seelenorgan als Sitz der Seele und als Kraft der Seele (und damit zwischen dem Seelenorgan und der Seele selbst) im Namen einer kategorialen Trennung von Physiologie und Transzendentalphilosophie. Die Möglichkeit, mentale Repräsentationen (Vorstellungen) im ›Gemüt‹ physikalisch zu erklären, konzedierte Kant hingegen ausdrücklich (S. 66–70). Eine Schlüsselfigur im Diskurstransfer zwischen Anatomie, Philosophie und Literatur ist für Welsh in diesem Zusammenhang der romantische Physiker Johann Wilhelm Ritter. Die optisch-akustischen Figurationen in den Soemmerringschen Hirnhöhlen werden durch Ritter zu Lichtfiguren einer galvanischen Feuerschrift uminterpretiert, die für das – autonome – Subjekt als Urschrift der Natur lesbar werden. In Verbindung mit der Utopie einer wieder zu belebenden poetischen Ursprache entfaltet Ritters Feuerschrift namentlich bei Novalis eine buchstäblich universale Wirkung (S. 70–109). Insofern haben die Klangfiguren der romantischen Hirnhöhlenpoetiken in der Tat das Zeug dazu, um 1800 die alte kosmologische Vorstellung einer Sphärenharmonie zu kompensieren, wie Welsh einmal am Rande notiert (S. 50, Anm. 94).

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Die allgemeine ästhetische Stimmung
der Autonomieästhetik

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Zwischen die wünschenswert prägnante Theoriegeschichte von ›Stimmung‹ zwischen 1750 und 1800 und die Analyse ihrer Nachgeschichte in der Poetik der (Früh-)Romantik schaltet Welsh im zweiten Teil ihrer Studie die Diskussion der entscheidenden epistemologischen Weichenstellung in der idealistischen Ästhetik bei Kant und Schiller ein (S. 113–162). Wie in seinen wahrnehmungsphysiologischen Grundlagen in den genannten anthropologisch-physiologischen Prätexten formiert sich das romantische Stimmungsparadigma um 1800 hier in autonomieästhetischer Hinsicht.

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Dabei arbeitet Welsh in beiden Fällen wiederum besonders die wahrnehmungstheoretischen Implikationen dieser Ästhetik heraus. Sie legt dar, wie bei Kant die Gleichzeitigkeit von Formalästhetik und Gehaltsästhetik sowohl zu einer Ab- als auch zu einer Aufwertung der physiologischen Bedingungen von Wahrnehmung (aisthesis) führt. Die formalästhetische Definition der Kunst und des Kunsturteils in der Kritik der Urteilskraft (1790) mit ihrem stimmungstheoretischen Kernsatz des freien, harmonischen Spiels der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand schließe die sinnliche Dimension des ›Geschmacks‹ – das Angenehme – systematisch aus dem Zuständigkeitsbereich des reinen Schönen aus. Dies führe konsequenterweise zur Nobilitierung ›niederer‹ Formen der Kunst, namentlich der Arabeske, weshalb ›Sinnlichkeit‹ als ›Stoff‹ – wenngleich in höherer Potenz als ein durchs Genie vergeistigter, ›reicher‹ – aus einem für Kant nicht weniger verbindlichen gehaltsästhetischen Denkzwang heraus als Korrektiv durch die Hintertüre wieder ins Zentrum des Schönen eingelassen werden müsse (S. 113–132).

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Demgegenüber beziehe Schiller die dem ästhetischen Subjekt sinnlich vermittelte Materie durch die Hypostasierung eines ›Stofftriebs‹ von vornherein als notwendiges, nicht nur ergänzendes, sondern auch relativierendes und korrigierendes Komplement zum ›Formtrieb‹ in die für seine Kunsttheorie fundamentale Definition der ›freien ästhetischen Stimmung‹ mit ein (S. 139–144). Aber obwohl nun gerade diese Stimmung Subjektautonomie garantiert, kann sich auch Schiller dem Bann der Gefährdung dieser Autonomie durch die nah verwandte Resonanzmechanik nicht entziehen. Unter transformierendem Rückgriff auf das biologische Konzept eines ›Bildungstriebs‹ (Johann Friedrich Blumenbach) korreliert er deshalb Form und Materie systematisch in einer solchen Weise, dass dem Humanum Vernunft »schon auf dem Felde der Sinnlichkeit« Selbsttätigkeit zugesichert wird (S. 145–154, zit. S. 143).

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In ihrem Verhältnis zur Musik unterscheiden sich die beiden Autoren für Welsh deshalb nicht zufällig in signifikanter Weise: Kant degradiert die ›materiell‹ codierte Kunst der Töne infolge seiner Exklusionslogik zur niedrigsten Kunst, indem er für ihre Funktionsbeschreibung konträr zu seinem ›moderneren‹ formalästhetischen Stimmungsmodell ein älteres mechanistisches Resonanzmodell ansetzt. Demgegenüber überschreibt Schiller das ältere Resonanzmodell nicht einfach, sondern verschiebt es aus der Position einer affektästhetischen Determination in eine autonomieästhetische Disposition hinein und integriert damit die Musik in den Kanon der freien und zugleich schönen Künste (S. 154–162).

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Romantische Hirnhöhlenpoetiken

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Die konsequente Weiterführung der Schillerschen Aufwertung der Musik zur romantischsten weil absoluten Kunst schlechthin und die Folgen dieser Aufwertung für die Poetologie der ›Stimmung‹ in der Frühromantik diskutiert Welsh im dritten Teil ihres Buches (S. 165–292). Dabei konzentriert sie sich auf die frühromantischen Hirnhöhlenpoetiken Wilhelm Heinrich Wackenroders, Ludwig Tiecks und Novalis’ sowie auf deren Persiflage durch Clemens Brentano und Joseph Görres.

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Wackenroder wird als eine Figur des Übergangs interpretiert. An ihm vollzieht Welsh beispielhaft die Scharnierfunktion der Wirkungsästhetik für den Paradigmenwechsel vom gefühlsästhetischen Resonanzmodell zum autonomieästhetischen Stimmungsmodell nach: Aus bestimmten, via Resonanz im Rezipienten quasi-mechanisch evozierten Stimmungen wird eine allgemeine Stimmung, die der selbsttätig wirkenden Einbildungskraft im Produzenten wie im Rezipienten von Kunst zur Grundlage dient. An der Co‑Präsenz zweier Modi der Musikrezeption, dem »wahren musikalischen Genuss« als einem passiven wiewohl analytischen Vermögen und der »aktiven Tätigkeit des Geistes« als Funktion einer ›erhabenen Stimmung‹, wird für Welsh erkennbar, dass Wackenroder das Resonanzkonzept allmählich in ein Darstellungskonzept überführt (S. 174–181). Produktionsästhetisch ist dieser Schritt für Wackenroder jedoch noch höchst problematisch, wie die Berglinger-Erzählung aus den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796/97) zeigt.

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Der Schritt wird dann von Wackenroders Freund und Co-Autor Tieck positiv vollzogen. An den Tieck zugeschriebenen Texten aus dem Gemeinschaftswerk Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst (1799) weist Welsh nach, wie sich bei Tieck die Physiologie des Rezipienten endgültig vom musikalischen Ereignis abkoppelt. Das musikalische Rezeptionsorgan ist nur mehr allein die produktive Einbildungskraft, deren halluzinatorisches Imaginarium nicht länger skeptisch relativiert wird (S. 181–188). Das durch die absolute Instrumentalmusik angeregte arabeske Prinzip dieser selbsttätigen Bildwurfmaschine, in der optische und akustische Daten kurzgeschlossen werden, erhellt nicht nur produktionsästhetisch bislang unbekannte Dimensionen des subjektiven Unbewussten. Es setzt auch rezeptionsästhetisch ungeahnte kreative Energien frei. Die fundamentale Ambivalenz dieser unbewussten ›Batterie der Lebenskraft‹ wird dabei nicht verschwiegen. In seinem Kunstessay Symphonien lässt Tieck unter einer ganzen Flut halluzinatorischer Bilder auch »Syrenen auf dem holden Meeresspiegel schwimmen« und der Einbildungskraft eines fiktiven Hörers »mit den süßesten Tönen« entgegen singen (zit. S. 182). Diese Sirenen sind doppelt codiert: Als platonisch-pythagoräisches Mythologem sind sie Trägerinnen einer kosmischen Sphärenharmonie. Als homerische Sirenen dagegen sind sie der Inbegriff der destruktiven Sinnlichkeit des Erdenmenschen (S. 194 ff.).

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Tiecks autonomieästhetische Stimmungspoetik mit der produktiven Einbildungskraft in ihrem Zentrum wird, Welsh zufolge, von Novalis noch einmal erweitert, und zwar sowohl transzendentalphilosophisch als auch naturwissenschaftlich. Utopisch auf die »Poetisierung der Wissenschaft(en)« und vermittels dieser auf die Verzauberung der Welt überhaupt ausgerichtet, integriert Novalis die Positionen von Soemmerring, Ritter und Kant in einer multimedialen und multidisziplinären Stimmungskunst (S. 205–252). Bei Novalis schwebt die Einbildungskraft selbst in souveräner Freiheit zwischen den Extremen des absoluten Ich auf der einen und der Welt der Dinge an sich auf der anderen Seite (S. 218). Durch sie können die Oszillationen der Seelenregungen mit den Figurationen der Sinneswahrnehmungen auf elektro-galvanischem Weg vermittelt werden. Mehr noch aber vermag hier die Einbildungskraft buchstäblich produktiv zu werden. Durch den »umgekehrten Gebrauch der Sinne« wird aus der Rezeption optischer Daten ein Aus-sich-heraus-Sehen, aus dem Registrieren von Tönen und Klängen ein Aus-sich-heraus-Hören (S. 233–235, zit. S. 233). Auf diese Weise wird in Novalis’ transzendentalpoetischer »Stimmung des Bewusstseins« Wahrnehmung endgültig zur Grundlage einer (poetisch) symbolisierenden, »freyen Darstellung«, die im Rezipienten entsprechend freie »innere Stimmungen, und Gemählde oder Anschauungen [...] – vielleicht auch geistige Tänze« hervorbringen soll (zit. S. 236). Dass eine solche »Gemütherregungskunst«, die gerade durch die Darstellung des Undarstellbaren zu neuen Ufern der Erkenntnis hinführen soll, nirgendwo sonst als in der Flüssigkeit der Hirnhöhlen denkbar ist, reflektiert Novalis nicht nur theoretisch in seinen enzyklopädischen Fragmentsammlungen (S. 236–252). In den Gesprächen der Lehrlinge zu Sais (1802) über die »wunderlichen Figuren« der Natur und ihre geheime Verwandtschaft mit den Figuren der menschlichen Schrift und Sprache (S. 221–235), v.a. aber als Traumvision poetischer Klangfiguren im großartigen Grottentraum des Titelhelden zu Beginn des Heinrich von Ofterdingen (1802) (S. 236–252) lässt er diese Reflexion über Darstellung durch die poetische Darstellung seiner fiktionalen Texte selbst sich vollziehen.

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Eine vergleichbare implizite Poetik der Stimmung in den Höhlen des Gehirns untersucht Welsh schließlich in Clemens Brentanos gemeinsam mit Joseph Görres verfasster Satire BOGS der Uhrmacher (1807). In parodistischer Absicht aus dem gesamten Repertoire der Resonanz- und Stimmungskonzepte von der Spätaufklärung bis zur Frühromantik sich bedienend, fasst diese Erzählung für Welsh die Hirnhöhlenpoetiken um 1800 nicht nur pointiert zusammen. Sie spitzt sie vielmehr zur vernichtenden Kritik zu, in die sich die Autoren selbst mit einbeziehen (S. 253–292). Einen Ansatz von Christine Lubkoll weiter denkend, 2 interpretiert Welsh die Titelfigur des Uhrmachers, der sich zwecks Aufnahme in die philiströse (Schützen‑)Gesellschaft der Aufführung eines Haydn-Konzerts unterziehen muss und dabei in einen halluzinatorischen Bilderwahn verfällt, nicht hermeneutisch als kritischen Gegenentwurf einer frühromantischen Poetenclique zur bürgerlichen Ordnung. Unter Welshs diskursanalytischem Blick entpuppt sich BOGS vielmehr als diskursiver Modellmensch, der, gerade weil er für die Implikation von Phantasie / Poesie als dem Anderen der Wirklichkeit / Wissenschaft in die Ordnung des bürgerlichen Diskurses steht, selbst der fundamentalen Kritik an diesem Diskurs verfällt (S. 268 f.).

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Die BOGS-Erzählung läuft für Welsh deshalb nicht darauf hinaus, dass der Mensch als solcher gespalten sei. Vielmehr sind es die Diskurse von Wissenschaft und Poesie, die ihn spalten. Und eben diese Diskurse weist der Text nicht allein durch den medizinischen Expeditionsbericht in die nebulösen Hirnhöhlen des Probanden, sondern auch durch die schwindelerregenden Höllenvisionen des Protagonisten selbst als hochgradig pathologisch aus.

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Fazit

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Welshs Studie zeichnet sich durch eine äußerst differenzierte Begriffsarbeit aus. Über die intellektuelle Durchdringung ihres Gegenstandes hinaus besticht sie aber auch durch eine vorzügliche Leserführung. Die konzisen Zusammenfassungen an den Kapitelenden erlauben dem Leser jederzeit eine optimale Orientierung innerhalb der Gesamtanlage der Darstellung und sichern kontinuierlich den Bestand an neu hinzugewonnenen Einsichten. Mit der Zuspitzung ihres Gegenstandes auf die Poetik der Hirnhöhlen hat Welsh womöglich sogar ein neues Paradigma für die Erforschung der deutschsprachigen Literatur der ›Sattelzeit‹ um 1800 vorgeschlagen.

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Mindestens im Hinblick auf eine Literaturgeschichte der ›Stimmung‹ liegen in der Beschränkung auf dieses Paradigma und seine wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen allerdings auch die Grenzen der Arbeit. Denn Welshs Analyse der frühromantischen Hirnhöhlenpoetiken und ihres für die Ästhetik und im Speziellen für die Poetik um 1800 hoch relevanten Korrelats ›Stimmung‹ fällt am Ende etwas zu einseitig ›materialistisch‹ aus. Im Schatten ihres Interesses an Theorien zur Wahrnehmung in den Wissenschaften vom Menschen kommt bei Welsh die Literatur als eigendynamischer und nicht selten eigensinniger Austragungsort dieser Theorien überhaupt zu kurz. Überlegungen zum konkreten Funktionieren wahrnehmungstheoretischer Elemente in einem literarischen Text wie jene zum Sirenenmythos in Tiecks arabesken Phantasien oder zum Grottentraum in Novalis’ Ofterdingen-Roman bleiben leider die Ausnahme. Und gerade weil diese Ansätze so viel versprechend sind, verstärken sie das Bedürfnis nach einer intensiveren literaturwissenschaftlichen Kontextualisierung.

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Schließlich bringt die Zuspitzung auf die Hirnhöhlen-Problematik sogar die erwähnte Tugend der Differenziertheit dort in Bedrängnis, wo, wie im Novalis-Kapitel, die Belege für die Argumentation kommentarlos auch von Kant, Ritter oder Schiller formuliert sein dürfen (vgl. z.B. S. 213, Anm. 104). Dass aber Theorien auch, ja gerade dann, wenn sie sich auf den ersten Blick täuschend ähnlich sehen, nicht über einen Leisten zu schlagen sind und dass es eben die Pointierung dieser spezifischen Differenzen ist, die zu neuen Einsichten in ein wohlbekanntes Terrain verhilft, führt die Arbeit insgesamt mit größtem Erfolg vor. Sie gehört für alle, die sich für das komplexe Thema einer Poetik der ›Stimmung‹ in der Literatur der Moderne interessieren, zur Pflichtlektüre.

 
 

Anmerkungen

David E. Wellbery: Stimmung. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart / Weimar: Metzler 2000–2005. Bd. 5. Stuttgart, Weimar 2003, S. 703–733; Hans Ulrich Gumbrecht: Erinnerung an Herkünfte. Stimmungen – ein vernachlässigtes Thema der Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 279 vom 30.11.2005, S. N 3.   zurück
Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Freiburg i.Br.: Rombach 1995, S. 181–197.   zurück