IASLonline

Shakespeare auf der deutschen Bühne im
18. Jahrhundert:

Ein Revisionsversuch

  • Renata Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater. (Theatron 46) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VI, 335 S. Leinen. EUR (D) 76,00.
    ISBN: 3-484-66046-5.
[1] 

In der gedruckten Fassung ihrer Erlanger Dissertation, einem Beitrag zur Rezeptions- und Wirkungsforschung des Klassikers Shakespeare im Alten Reich des 18. Jahrhunderts, analysiert Renata Häublein mehr als fünfzehn Bühnentexte der Zeit zwischen etwa 1770 und 1790, darunter auch einige bisher unbekannte Archivalien oder solche, die im 2003 erschienenen Repertorium der deutschsprachigen Shakespeare-Übersetzungen nicht figurieren. 1

[2] 

Häubleins Haltung gegenüber der Forschung ist eine leicht defensive; manchmal aber, vor allem in ihrer Zusammenfassung, geht sie in die Offensive über und greift eine Richtung der Shakespeare-Rezeptions-Forschung an, deren These ist, dass den Theaterrealisierungen ›das Odium mangelnder Seriosität‹ (S. 307) anhafte. Wenn sie damit die geistesaristokratische Haltung etwa Friedrich Gundolfs meint, 2 so dürfte sie, will man meinen, offene Türen einrennen. Dennoch scheint der massive Einfluss Gundolfs sogar nach 95 Jahren nicht ganz abgeklungen zu sein. Überholungsbedürftig sei auch die These, vornehmlich durch Roger Bauers Sammelwerk von 1988 vertreten, 3 dass die theatralische und die literarkritische Shakespeare-Rezeption ›meistens unabhängig voneinander verliefen‹ (ebd.). Es ist gewiss sehr richtig zu betonen, dass sich die Aneignung Shakespeares in Deutschland immer interdisziplinär gestaltet hat und dass Literatur- und Theaterwissenschaft ihren gleichwertigen Anteil an deren Erforschung haben, übrigens auch die Musik- und Kunstwissenschaft, die mit den Erkenntnissen der anderen Disziplinen schritthalten. Es wäre historisch unzulässig, diese Rezeptionssphären zu trennen.

[3] 

Häubleins Anliegen ist, zu demonstrieren, dass jede Generation ihren eigenen Shakespeare geschaffen habe: es gebe demnach keinen ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Shakespeare. In dieser ›vorromantischen‹ Zeit, um die es sich handelt, mussten Konzessionen an die damalige Bühnenpraxis und ihren Publikumsanspruch eingeräumt werden, welche kritischen Vorstellungen von einem ›ganzen‹ oder einem ›integrierten‹ Shakespearetext geradezu zuwiderliefen. Diesen Konzessionen gilt es, ein historisches Verständnis entgegenzubringen, auch wenn die Zugeständnisse an den damaligen Zeitgeschmack zu dominieren scheinen. Die Beurteilungen solcher Aufführungen in wichtigen oder weniger wichtigen Organen der Zeit stellen, so die Verfasserin, ein Indiz dar für ein nach etwa 1770 nie abbrechendes Interesse an Problemen Shakespearescher Menschendarstellung und Naturnachahmung und reichen durchaus an die Erkenntnisse der sogenannten ›höheren‹ Kritik (etwa Herders) heran. Häubleins Helden sind demnach Figuren wie z.B. Christian Felix Weiße, Friedrich Ludwig Schröder, Christian Heinrich Schmid, Johann Friedrich Schink, Friedrich Wilhelm Gotter u.a., die gewiss – daran ist nicht ernsthaft zu zweifeln – für die Bekanntheit Shakespeares in den deutschen Ländern ebensoviel – wenn nicht sogar mehr – geleistet haben wie die sog. ›großen‹ Figuren der älteren Rezeptionschronik (Lessing, Gerstenberg, Herder, Lenz usw.). Das ist in groben Zügen Häubleins These, die sie an Hand von sechs verschiedenen Shakespeare-Adaptionen aus der Zeit im Detail untermauert.

[4] 

Shakespeare und die Kulturen des 18. Jahrhunderts

[5] 

Einige andere Faktoren, die von Häublein nicht alle als solche angesprochen werden, bilden dennoch stillschweigend eine Grundlage ihrer allgemeinen These: das Verständnis Shakespeares sei durch die Theaterpraxis der vorromantischen (Sturm und Drang) Zeit um ein Erhebliches gefördert, ja vertieft worden. Im 18. Jahrhundert allgemein, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, das sei betont, gingen Vorstellungen von Shakespeares Fülle, Ganzheit, Ursprünglichkeit mit dem Vokabular des Einschränkens, des Beschneidens, des Eingrenzens immer einher; zwischen diesen Denkweisen bestand unweigerlich ein Spannungsverhältnis. Das bildet die Anfangsbasis für jede Untersuchung über die Realisierung Shakespearescher Dramen auf nationalen Bühnen. Wo es um die Frage der Übertragungsfähigkeit Shakespeares in eine andere Kultursphäre ging, sprachen Voltaire und Lessing die gleiche Sprache, nur aus verschiedenen Positionen und mit unterschiedlichen Vorstellungen von ihren jeweiligen nationalen Kulturerrungenschaften.

[6] 

Niemand ist im 18. Jahrhundert imstande, die volle Wucht des Shakespeareschen Textes auszuhalten, höchstens Herder mit seinem Ganzheitsdenken; Herder setzt sich aber über die Bühnensphäre und viele andere Probleme einfach hinweg. Shakespeare lässt sich nie unvermittelt in fremde Kulturbereiche übertragen; in Deutschland hat die französische Shakespeare-Rezeption einflussreich gewirkt, ebenfalls das englische neoklassische Drama (Rowe, Cibber, Young, Thomson). Dass Lessings extensivste Kritik Shakespeares einer Bearbeitung nach englischem Muster (C. F. Weißes Richard III.) gilt, mit stark neoklassischem (französischem!) Einschlag, gehört auch hierher. Zu bedenken ist auch, dass sich Vorstellungen von starken Leidenschaften und markanten Charakteren, mit dem ›englischen Stil‹ assoziiert, ebenso gut auf Crébillon oder Metastasio beziehen lassen.

[7] 

Hinzu kommt, dass die deutsche Shakespearekritik, deren selbständige Stimme um 1770 hörbar wird, z.T. von Figuren getragen wird, die nicht in erster Linie an das Theater denken, darunter Wieland, Eschenburg, Herder, der junge Goethe – die Brüder Schlegel gesellen sich später zu ihnen. Der (spätere) Ruhm dieser Kritik basiert z.T. auf ephemeren oder erst viel später zugänglichen Texten (Goethes Shakespeare-Rede, die Frühfassungen von Herders Shakespeare, oder sein Wäre Shakespeare unübersetzbar?, Wilhelm Meisters theatralische Sendung usw.), die eine Richtung der Literaturwissenschaft gerne gegen die Bühnenbearbeitungen der Zeit ausgespielt hat. Lessing, Goethe ab 1775, Schiller, Tieck schließen sich eher an die Theaterpraxis der Zeit an und profitieren von deren Erkenntnissen (vgl. Tiecks Verehrung von Schröder und Fleck als ein Beispiel unter vielen). Die Romantiker, die Shakespeare das Attribut ›ganz unser‹ beilegen, verhalten sich später der Bühne gegenüber zwiespältig-herablassend. Anders als in Deutschland erweist sich die Aufnahme Shakespeares auf der französischen Bühne als problematisch: der Text wird bis zur Unkenntlichkeit einheimischen Modellen angeglichen (Ducis!), und kein geringerer als Voltaire polemisiert gegen jegliche Einbürgerungsinitiative.

[8] 

Den ›ganzen‹ Shakespeare auf die damalige Bühne zu bringen, war von vornherein ausgeschlossen; man musste sich zunächst mit Nachahmungen oder Surrogaten behelfen. Weißes Romeo und Julie, welches der junge Goethe in Leipzig erlebte, mit seinen Zugeständnissen an das bürgerliche Trauerspiel, ist ein solches Beispiel. Häublein betont aber, dass die neue ›shakespearisierende‹ Dramatik des Sturm und Drang, Götz von Berlichingen beispielsweise, auch ihren Beitrag zur Realisierung des Urmodells geleistet hat. Wiederum darf man nicht übersehen, wie stark die Sturm und Drang-Dramatik der Situations- und Charakterhaltung ihrer Vorgänger verpflichtet war.

[9] 

Der Shakespeare-Kanon

[10] 

Welche Stücke Shakespeares waren für den damaligen Regisseur im Bereich des Möglichen? Oder, anders formuliert, welcher Kanon Shakespearescher Dramen bildete sich aus der Konvergenz von Publikumsgeschmack und Kritik heraus? Hamlet, Macbeth, Othello, Lear, Romeo und Julia, Der Kaufmann von Venedig stehen im Mittelpunkt, die Römerdramen weniger (über Julius Caesar bin ich anderer Meinung als Häublein: das frühe Interesse an diesem Drama gehörte m.E. einem anderen, übernationalen, neoklassizistischen Rezeptionsstrang an), die Historien außer Richard II. und Henrich IV. erstaunlich wenig, die Märchenstücke schon gar nicht. Auf einem anderen Blatt steht, dass für Herder, den jungen Tieck und die Brüder Schlegel gerade diese damals weniger oder nie aufgeführten Stücke im Mittelpunkt stehen.

[11] 

Fast alle diese Stücke lagen 1766 in Wielands Prosa-Übersetzung vor; bis 1777 waren sie bei Eschenburg komplett vorhanden. Dennoch konnten diese Übertragungen nicht als Aufführungstexte dienen (außer für den eher unerfahrenen Wilhelm Meister!), höchstens als Grundlage. Trotz der Auslassungen und Abschwächungen, besonders bei Wieland, enthielten sie dennoch zuviel Unzumutbares für die damaligen Theaterverhältnisse und ihren Publikumsgeschmack. Daher ist die Geschichte der Shakespeareschen Bühnenbearbeitungen zugleich die Chronik textueller Bühnenadaptationen. C. F. Weiße z.B. beschränkt sich für sein Romeo und Julia (1767) auf die Privatsphäre, die für das bürgerliche Trauerspiel charakteristisch ist, und distanziert sich von Shakespeares Sprache (in Wielands Übersetzung waren die großen Liebesszenen gut gelungen; nur in den komischen Partien hatte er Bedenken).

[12] 

Bei Friedrich Ludwig Schröder in Hamburg, besonders bei seinem berühmten Hamlet (1776), wuchs der bearbeitete Text zu einer gewissen Selbständigkeit heran und war Generationen lang sogar die Handlungsgrundlage (Happy end!). Die Schröderschen Bearbeitungen stellten ein Forum dar für eine Schauspielkunst nach dem englischen Muster Garricks, ihre Mimik und Gestik, die Veranschaulichung innerer Vorgänge und Gefühle; im konkreten Falle Hamlet wurden einige Aspekte der Handlung ›begradigt‹ und in einen übersichtlichen Kausalzusammenhang gebracht.

[13] 

An dem Beispiel Othello (mit dem seinerzeit La Place in Frankreich sein Théâtre anglois hatte einsetzen lassen) werden die Grenzen des Zeitgeschmacks sichtbar. Häublein erklärt die Beliebtheit dieses Stücks (von Schmid, Steffens und Schröder bearbeitet) aus seiner Nähe zum geschlossenen Drama; Ilse Graham hat jedoch schon auf viele thematische Überschneidungen mit dem Drama der Zeit hingewiesen. 4 Bei den Bearbeitungen sind Reduktionen im Thema (etwa auf Rachsucht oder menschliche Würde) und Kürzungen besonders markant; in Wien hat die Zensur sogar die Taschentuch- und Mordszenen exkludiert.

[14] 

Bei Macbeth (von Stephanie, Wernich, Schröder bearbeitet, von Bürger und F.L. Wagner übersetzt) waren die Hexen entweder ein Stein des Anstoßes und fielen ganz weg oder sie führten als visuell-akustisches Element zu einer Nivellierung des Dramas zum Schaustück. Auf jeden Fall war hier eine Identifikation mit dem Helden eher möglich; eine Ähnlichkeit mit dem europäischen Barockdrama dürfte auch ein Faktor gewesen sein.

[15] 

Im Falle vom Kaufmann von Venedig – es gibt Prager, Hamburger und Mannheimer Bühnenfassungen – wurde das aufklärerische Toleranzgebot einer harten Probe unterzogen. Denn im Gegensatz zu Lessings Nathan konnte dieses Stück eher als Vehikel für antisemitische Klischees und Judenkomik (Iffland!) dienen. Das Märchenhafte und Unwahrscheinliche dieses Lustspiels, von Samuel Johnson bereits anerkannt, 1791 vom jungen Ludwig Tieck wiederholt, stand weniger im Vordergrund. Tieck, der Fischers Bearbeitung und eine Berliner Aufführung als geschmacklos abqualifizierte, vernahm in Shylock die ›Stimme der Unterdrückten‹: in dieser Gestalt sei nicht das gängige Judenbild zu erblicken, und Shakespeare distanziere sich von jeglicher Dämonisierung. Im Gegensatz zur zeitgebundenen vorromantischen Shakespeare-Rezeption auf der Bühne griff Tieck in seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnung der späteren und nuanciert-sympathischen Bühneninterpretation Shylocks im 19. Jahrhundert, bei Macready und Devrient, vor.

[16] 

Resümee

[17] 

Die materialreiche Untersuchung von Renata Häublein stellt einen bedeutenden Revisionsversuch gängiger (aber inzwischen meist schon überholter) Vorstellungen vom Wert theatralischer Realisierungen für die Einbürgerung Shakespeares dar; es handelt sich um einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Rezeption und der Aneignung Shakespeares in Deutschland.

 
 

Anmerkungen

Hansjürgen Blinn / Wolf Gerhard Schmidt: Shakespeare – deutsch. Bibliographie der Übersetzungen und Bearbeitungen. Zugleich Bestandsnachweis der Shakespeare-Übersetzungen der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek Weimar. Berlin: Erich Schmidt 2003; vgl. auch die Dokumentation von Hansjürgen Blinn: Shakespeare-Rezeption. 2 Bde. Ausgewählte Texte von 1741 bis 1788, 1793 bis 1827. Berlin: Erich Schmidt 1982/1988.   zurück
Vgl. die klassische Monographie von Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin: Bondi 1911, 11. (= letzte) Aufl. Düsseldorf: Küpper 1959.   zurück
Roger Bauer (Hg,.): Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik. Bern u.a.: Peter Lang 1988 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongreßberichte, Bd. 22).   zurück
Vgl. Ilse Graham: »O treason of the blood«. Reverberations of »Othello« through the German drama of the 18th century. In: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik (Anm. 3), S. 118–142.   zurück