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Das technische Zentralobjekt der Moderne

  • Dorit Müller: Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900. (Epistemata Literaturwissenschaft 486) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 316 S. 32 s/w Abb. Geheftet. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 3-8260-2672-1.
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Enthauptete Autofahrer

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Dorit Müllers Studie Gefährliche Fahrten, die am Fachbereich Neuere Deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin 2002 als Dissertation angenommen wurde, schließt mit den Worten:

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Zumindest sollte es ihm [gemeint ist das Buch] gelungen sein, einige der technischen, medialen und ästhetischen Implikationen jenes Ereignisses zu beschreiben, bei dem 1913 mehrere Automobilisten in Hennigsdorf zu Tode kamen. (S. 277)
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Müller rekurriert am Ende ihrer Arbeit nochmals auf eine Episode, mit der sie ihre Ausführungen eingeleitet hatte: Am 2. März 1913 werden durch zwei absichtlich über eine Straße gespannte Drahtseile die Insassen eines offenen Automobils regelrecht enthauptet. Müller führt die Episode als Extrempunkt einer Abwehrhaltung an, welche die Automobilisierung der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts begleitet hatte. Während auf der einen Seite die Befürworter standen, die das Autofahren als Zeichen von Unabhängigkeit und Individualismus, als sowohl kulturell wie auch wirtschaftlich nutzbringend, ja sogar gesundheitsfördernd feierten, waren auf der anderen Seite die Auto-Gegner, die immer wieder auf die Gefahrenpotenziale des Autos hinwiesen.

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Diese von Müller früh in der Studie entwickelte Basisopposition ist für ihre gesamten literarischen und filmischen Analysen leitend. An dieser Opposition werden sowohl die Beschreibungen der literarischen Auto-Reflexionen als auch die stärker motivisch orientierten Filmanalysen ausgerichtet. Dabei betont Müller ausdrücklich die medialen Differenzen zwischen Literatur und Film und wehrt sich gegen allzu leichtfertige, auch in Forschungsliteratur vielfach vorfindbare Analogisierungen beider Medien (Stichwort: filmisches Schreiben).

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Automobile Erfahrungen in Literatur und Stummfilm

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Die Studie selbst ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit den literarischen Repräsentationen automobiler Erfahrungen vornehmlich in deutschsprachigen Texten und ihrer Relevanz im Rahmen poetologisch-ästhetischer Reflexionen. Der zweite Teil widmet sich dem frühen Stummfilm und diskutiert die technischen, medialen und ästhetischen Konsequenzen, die mit der Einführung des Autos als technisches Hilfsmittel (Stichwort: Bewegungsdarstellung) und als Motivgeber (Stichwort: Unfallszenarien, Verfolgungsjagden usw.) verbunden waren. In beiden Teilen geht Müller chronologisch vor und leitet ihre Ausführungen jeweils mit längeren Erläuterungen zu den literatur-, film- und technikgeschichtlichen Rahmenbedingungen ein.

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Die literarischen Analysen widmen sich zunächst dem Pionier der ›Autoliteratur‹, Otto Julius Bierbaum (S. 31 ff.), anschließend dem Motiv des Autos in Thomas Manns Roman Königliche Hoheit (S. 45 ff.). Nach einem Exkurs zur Rolle der Technik und des Autos im Futurismus (S. 53 ff.) geht Müller ausführlich auf die Literatur des Expressionismus ein (S. 67 ff.). Den literarischen Teil beschließt ein Abschnitt über die »Wahrnehmung des Automobils im Ersten Weltkrieg« (S. 123 ff.).

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Der filmische Teil der Studie beschäftigt sich zunächst allgemeiner mit filmhistorischen Aspekten, die unter dem von Müller selbst ins Spiel gebrachten Stichwort »Frühe Filmgeschichte als Faszinationsgeschichte der Bewegung« zusammengefasst werden können (S. 155 ff.). Im zweiten Abschnitt stehen die »Reaktionen der Literatur auf Tempo und Gestaltungsformen des frühen Kino« (S. 189 ff.) im Mittelpunkt – ein Abschnitt, der mehr wie ein Exkurs zum Thema wirkt, da die spezifische Fragestellung der Arbeit zuweilen aus dem Blick gerät. Der letzte Abschnitt schließlich verfolgt bestimmte an Autos und Autofahrten geknüpfte Motive des frühen Films: »Flug- und Sturzphantasien«, »Verstümmelungen – Nervenschock – Tod«, »Entführungen im Automobil«, »Verfolgungsjagden und Wettrennen« sowie das Verhältnis von »Automobil und Verbrechen« (S. 217 ff.).

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Als Materialbasis dienen Müller nicht nur zahlreiche künstlerische Text- und Filmerzeugnisse, sondern auch vielfältige andere Quellen, etwa aus zeitgenössischen Automobilzeitschriften, Filmjournalen oder Kulturzeitschriften, welche die nicht selten scharf geführten Debatten um die Vor- und Nachteile des Automobils in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erst in ihrer ganzen Tragweite sichtbar machen und pointiert zuspitzen. Hier liegt sicherlich das erste große Verdienst der Studie, die vielfach verstreut veröffentlichten Texte und Filme rund ums Auto systematisch gesichtet, erschlossen und ausgewertet und so ins Archiv kulturgeschichtlicher Forschungen eingespeist zu haben. Das zweite Verdienst der Studie liegt darin, die einzelnen motivischen Filiationen nicht nur zwischen Texten und Filmen herausgestellt zu haben, sondern gerade auch die jeweils medienspezifischen Aspekte zu akzentuieren, welche die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit bestimmter motivischer Adaptionsformen einerseits eröffnen, andererseits aber eben auch begrenzen.

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Forschungsgeschichtlicher Horizont und Methodik

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Neben diesen in jeder Hinsicht anerkennenswerten Leistungen dürfen jedoch einige kritische Punkte der Studie nicht übersehen werden. Dies betrifft einerseits den allgemeinen forschungsgeschichtlichen Horizont, in dem sich die Studie bewegt, sowie andererseits bestimmte methodische Vorentscheidungen, die die Reichweite und Aussagekraft der in der Studie angestellten Analysen zum Teil erheblich einschränken.

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Forschungstradition

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Die Studie schreibt sich dezidiert in eine Forschungstradition ein, welche die Modernisierung der Gesellschaft um 1900, insbesondere in Deutschland, im Verhältnis zu einer konservativ und national gesinnten Position beschreibt, die auf die Modernisierungsprozesse vielfach feindlich reagiert. Diesen Aspekt hat eine Vielzahl von älteren und neueren Studien zur Jahrhundertwende hervorgehoben – mit dem Ergebnis, dass beinahe alle Diskurse um 1900 von dieser Modernisierungsproblematik und den damit verbundenen Hoffnungen und Ängsten beherrscht werden.

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Das Kollektivsymbol, über das diese Problematik in der Regel diskursiv abgearbeitet wird, ist die Großstadt. An dieses Kollektivsymbol lagert sich eine Vielzahl weiterer Symboliken und Begriffe wie Masse, Akzeleration, Rationalisierung usw. und, wie die Studie von Müller zeigt, unter anderem auch das Auto an. Indem Müller dies herausstellt, wird zwar einerseits die bisherige Forschung bestätigt, was nicht wenig ist. Andererseits aber bietet ihre spezifische Umschrift der Modernisierungsproblematik auf das Auto kaum Neues.

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Dies lässt sich nicht zuletzt inhaltlich auch an einzelnen Teilen der Studie ablesen. Insbesondere die Ausführungen zum italienischen Futurismus übersteigen in keiner Weise die gängigen Forschungsmeinungen, wobei im Übrigen die umfangreiche Futurismusforschung englischer, französischer oder italienischer Wissenschaftler schlicht ignoriert wird. Ja, selbst die weitläufigen Analysen zum Auto-Motiv in expressionistischer Lyrik und Prosa demonstrieren überwiegend nur eine rein motivisch bedingte Perspektivverschiebung, wobei die Grundannahmen der Expressionismusforschung nicht angetastet werden.

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Zwar macht die Studie an einigen Stellen deutlich, dass jenseits von Literatur und Film noch andere diskursive Zusammenhänge die Diskussionen mitbestimmt haben (etwa der medizinische oder ökonomische Diskurs). Leider aber werden diese Zusammenhänge in der Regel nur in Form historischer Hintergrundinformation vermittelt und damit die Chance vertan, die diskursiven Bedingungen, die das Auto zum »technische[n] Zentralobjekt der Moderne« (P. Sloterdijk) werden ließen, deutlicher zu akzentuieren. Auch wenn in Teilen der Studie Themen aus anderen diskursiven Feldern angesprochen werden, etwa Fragen des Lebensstils und des Sozialprestiges oder auch das Thema ›Konsum der Romantik‹, so werden diese Aspekte des Themas durch die überwiegend rein literatur- bzw. filmwissenschaftlich gehaltenen Analysen in ihrer Aussagekraft doch erheblich entwertet.

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Methodik

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Die Frage nach dem methodischen Design der Studie ist mit den bereits angesprochenen Kritikpunkten eng verbunden. Indem sich Müller, vor allem im literaturwissenschaftlichen Teil, weitgehend auf motivgeschichtliche Analysen beschränkt, setzt sie Bedingungszusammenhänge voraus, die lediglich die früh in der Studie entwickelte Basisopposition fortschreiben können. Zwar beleuchtet die Studie immer wieder detailliert die Ambivalenzen, die mit den verschiedenen gefassten Aspekten der Basisopposition einhergehen können, so dass es teilweise sogar zu paradox anmutenden Vertauschungen kommen kann. Aber woraus diese Ambivalenzen resultieren, bleibt letztlich im Unklaren. Das Problem einer derartigen motivgeschichtlichen Vorgehensweise liegt darin, dass häufig Differenzen in Kontinuitäten verborgen bzw. aufgehoben werden.

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Anders ausgedrückt: Wenn es etwa am Ende der Studie heißt: »Bis heute bleiben die literarischen und filmischen Autodarstellungen mit den wesentlichen Wahrnehmungsfiguren der Anfangszeit verbunden« (S. 276), so mag diese Feststellung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von Müller angestellten Analysen, zwar zutreffen. Aber die Frage, die sich zumindest dem Rezensenten aufdrängt, ist die, warum die mit dem Auto verknüpften Motive, Symbole, Themen usw. eine derart hartnäckige Kontinuität aufweisen, und zwar trotz der offensichtlich differenten kulturellen, soziologischen und wirtschaftlichen Umstände der Zeit um 1900 und jener der Gegenwart.

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Offenbar wird in der Zeit zwischen 1895 und 1918 im Rahmen des Modernisierungsdiskurses ein Kollektivsymbol ausgeprägt, das bis heute nichts an metaphorischer Valenz eingebüßt hat. Wie dieses Kollektivsymbol aber eine derartige Strahlkraft entwickeln konnte, lässt sich meines Erachtens nicht über einen motivgeschichtlichen Angang erschließen. Und selbst der stärker technik- und mediengeschichtliche Akzent des zweiten Teils der Studie belässt es im dritten Abschnitt lediglich bei einer kurzen Skizze der verschiedenen Auto-Motive in frühen Filmen.

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Fazit

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Gerade hier würde sich doch die Frage stellen, inwiefern der frühe Film ebenfalls als Strategie der diskursiven Durchsetzung des Kollektivsymbols Auto gelesen werden kann. So sehr die Studie einerseits durch ihre Materialfülle und archivarische Qualität besticht, so mager ist auf der anderen Seite, aus der Sicht des Rezensenten, der weiterführende Forschungsertrag bezüglich der Modernisierungsdebatte in der Zeit zwischen 1900 und dem Ersten Weltkrieg. Dies ist umso bedauerlicher, als die Studie vielfältige Ansätze zu einer anderen Perspektive auf diese Modernisierungsdebatte bieten würde.