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»Wissenschaftskunst«

Georges Jünger in der Wissenschaft

  • Bernhard Böschenstein u.a. (Hg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. XI, 376 S. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-11-018304-8.
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»Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft.« 1 Georges kategorisches Diktum wird viel zitiert in dem vorliegenden Sammelband, der es unternimmt, diesen Worten zum Trotz die biographischen und institutionellen Verflechtungen zwischen Georges ›Staat‹ und der universitären Wissenschaft in den Blick zu nehmen. Nach den grundlegenden soziologischen Arbeiten der 1990er Jahre 2 , in denen bereits die vielfältige Vernetzung zwischen George und den Wissenschaften deutlich wird, hat nunmehr die Wissenschaftsgeschichte den Kreis für sich entdeckt. 3 Wie in einem Brennspiegel laufen in ihm Tendenzen der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts zusammen und münden in dem Versuch einer Entdifferenzierung von Kunst und Wissenschaft: der viel beschriebenen und kritisierten »Wissenschaftskunst« 4 .

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Die Grundthese der Herausgeber lautet, dass diese Tendenzen im George-Kreis eine spezifische Ausrichtung erhalten und eine messbare Wirkung auf die Wissenschaft ihrer Zeit ausüben. Um diese Wirkung zu untersuchen, werden so unterschiedliche Bereiche wie Germanistik und Anglistik, Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Altertumswissenschaften und Archäologie, Kunst- und Musikwissenschaft, Soziologie, Jura und Wirtschaftswissenschaften in den Blick genommen. Der fachlichen Vielfalt entspricht die Vielfalt der Herangehensweisen, die von biographisch orientierten Einzelstudien bis hin zu Fragen der Methodologie, Ästhetik und Poetik reichen und manchmal eher in der »Wissenschaft«, an anderen Stellen eher in der »Welt des Dichters« angesiedelt sind. Anhand dieser Vielfalt von Methoden und Fächern sollen die »Einflüsse« möglichst umfassend »dokumentiert« (S. IX) werden.

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Die Überzeugung von der Existenz einer messbaren Wirkungsgeschichte Georges in der Geschichte ihres jeweiligen Faches wird nicht von allen Beiträgern in gleicher Weise geteilt. Angesichts der von den Herausgebern selbst eingeräumten Unmöglichkeit, Georges Spuren in allen Fällen aus den allgemeinen Tendenzen des Zeitgeists herauszudestillieren, scheint die Rede von dokumentierbaren Einflüssen an einigen Stellen etwas hoch gegriffen. Entsprechend offen sind die drei Thesen formuliert, die die Ergebnisse der Tagung zusammenfassen: Der Grad von Georges Wirkung ist zum einen abhängig von Georges eigenen Kenntnissen des jeweiligen Faches und zum anderen von der individuellen Aufnahmebereitschaft der wissenschaftlich tätigen Kreismitglieder und ihrer Schüler. Bezogen auf die einzelnen Fachgebiete selbst – so die dritte Schlussfolgerung der Herausgeber – bleibt in einigen Fächern »nur ein kaum merklicher« Einfluss übrig, während sich in anderen Fächern »der Zeitgeist mit Anregungen Georges« verbindet und in wenigen Fächern noch heute, »meist unerkannt, ins Ausland« strahlt (S. X).

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I. Eine Geschichte der Nicht-Wirkungen:
Die »Welt des Dichters« und die Nationalökonomie,
die Jurisprudenz und die Musikwissenschaft

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In seinem einleitenden Beitrag »Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft« stellt Bertram Schefold die Spannung zwischen der Lebenswelt Georges und dem Beruf der Wirtschaftswissenschaftler seines Kreises dar. Seine These ist, dass einzig in den Ideen der Bildung, der Schönheit der Darstellung und der Relevanz des Stoffes Anknüpfungspunkte für wissenschaftliche Ausrichtung im Sinne Georges deutlich werden. Auf inhaltlicher Ebene kommt er zu dem Ergebnis, dass keine wirtschaftspolitisch relevante Lehre aus den Reihen des Kreises hervorgegangen sei. Auch das Bemühen nach Anschaulichkeit und die Tendenz, dem Fach eine stärker geisteswissenschaftliche Ausrichtung zu geben, sei eine zeittypische Forderung der »anschaulichen Theorie« (S. 22) gewesen.

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Wolfgang Graf Vitzthum behandelt die Frage »Rechts- und Staatswissenschaften aus dem Geiste Georges?« und untersucht am Beispiel von Johann Anton, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Karl Josef Partsch, inwieweit George die Werke der Rechts- und Staatswissenschaftler seines Kreises beeinflusst hat. Auch hier zeigt sich, dass die Themenstellung bei aller klugen und sorgfältigen Bearbeitung relativ unergiebig ist: Einflüsse Georges sind in den Arbeiten der genannten Wissenschaftler »nur mit der Lupe zu entdecken« (S. 105).

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Ein ähnliches Resümee zieht Wolfgang Osthoff in seinem Beitrag »Musikwissenschaft und George-Kreis (1908–1946)«. Die musikphilosophischen Schriften des Kreises sind musikwissenschaftlich irrelevant und haben keine Spuren im Fach hinterlassen. Von Fachwissen zeugt einzig Gerhard Frommels Schrift Neue Klassik in der Musik (1937), die in Abgrenzung von der offiziellen Kreispolitik der Musik formbildende Kraft im Sinne Georges zuerkennt. Mit dem Nachweis, wie die Editionstätigkeit Anton von Weberns satztechnische Spuren in einer seiner frühen George-Vertonungen hinterlassen hat, gelingt Osthoff ein schöner Fund. 5 Aber mit dem Thema der Tagung hat das nicht viel zu tun. Georges Wirkung entfaltet sich nicht in der Musikwissenschaft, sondern in der Musikpraxis – etwa bei Komponisten wie Webern und Frommel –, und sie geht nicht von wissenschaftlichen Reflexionen aus, sondern von Georges Lyrik selbst.

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II. Spurensuche:
Klassische Archäologie, Altertumswissenschaft
und Geschichte

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Adolf Heinrich Borbeins kluger und kenntnisreicher Beitrag »Zur Wirkung Stefan Georges in der Klassischen Archäologie« ist beispielgebend für den qualitativen Gewinn, der dieser Tagung durch die Aufnahme vieler unterschiedlicher Fachdisziplinen zugewachsen ist. Denn wo dem Fachfremden Wirkungen Georges auf die Archäologie plausibel scheinen, stellen sie sich für den Kundigen wiederum als Zeitphänomen heraus. Borbein zählt drei Punkte auf, die irrtümlich auf George zurückgeführt werden: (1.) eine neue Sicht auf die vor- und nachklassische Spätantike, (2.) die Konzentration auf die ›große schöpferische Persönlichkeit‹ und (3.) die Verbindung von Kunst mit ihrem kultischen Gehalt. Alle drei Punkte reflektieren jedoch im frühen 20. Jahrhundert »die wichtigsten Tendenzen und Errungenschaften der deutschsprachigen sog. Kunstarchäologie« (S. 240). »[N]icht alles, was in Äußerungen von Archäologen den Positionen Georges verwandt erscheint«, müsse »auf einen mehr oder minder engen Kontakt zum George-Kreis zurückgeführt werden« (S. 246 f.).

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Mit dem Althistoriker Wolfgang Schuller meldet sich ein zweiter renommierter Fachwissenschaftler zu Wort. Ausgehend von den Einzelpersönlichkeiten des Kreises versucht er methodische Gemeinsamkeiten und Charakteristika herauszuarbeiten und kommt damit zu einem negativen Ergebnis. Alle drei Historiker verwenden unterschiedliche Methoden: Sind Woldemar von Uxkulls Aufsätze »Musterbeispiele sich selbst genügenden positivistischen Forschens« (S. 223), so unterscheidet Albrecht von Blumenthal zwischen fachlicher und georgesch inspirierter populärwissenschaftlicher Arbeit. Alexander von Stauffenberg schließlich scheitert bei dem Versuch, »handfest-positivistische Forschung mit hochgestimmter Schau zu verbinden« (S. 221).

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Auf die Entwicklung des Faches geht von diesen Arbeiten keine Wirkung aus. Die heroische Deutung der Antike trennt sie von den Diskursen der Fachwissenschaft, die solchen Ansätzen abwehrend gegenüber steht. Dass die Erforschung der Antike dem Leben zu dienen habe, wird auch andernorts formuliert, wobei Schuller explizit den George-Antipoden Rudolf Borchardt nennt. An dieser Stelle hätte man sich gewünscht, über diesen spannenden Punkt noch etwas mehr zu erfahren, aber natürlich wäre Borchardts Verhältnis zu George und ihrer beider Stellung zur Antike ein Kapitel für sich.

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Neben diesen vorzüglichen Beiträgen ist derjenige des Historikers Wolfgang Christian Schneider zur »Geschichtswissenschaft im Banne Georges. Wolfram von den Steinen im Ringen um die gestalthafte ›Schau‹ der Vergangenheit« nicht minder interessant, schöpft aber deutlich aus einem andernorts publizierten Aufsatz. 6 Schneider nennt darin Gemeinsames und Trennendes zwischen von den Steinens Geschichtsbetrachtung und derjenigen im George-Kreis, etwa bezüglich von den Steinens Annäherung an die mittelalterliche Welt und des »Prinzip[s] der ›teilnehmenden Beobachtung‹« (S. 330), das sein Vater, der Ethnologe Karl von den Steinen, begründete. Als zweite, aus dem George-Kreis hervorgehende Quelle nennt er Edith Landmanns Schrift Transcendenz des Erkennens, aus der von den Steinen das Prinzip »des schöpferischen Sehens« methodisch begründet habe. Bedenkenswert ist Schneiders These, dass George mit seinem Stopp der so genannten ›Geist-Bücher‹ Ende der 1920er Jahre indirekt eine stärker fachwissenschaftliche Ausrichtung begünstigt habe, da damit die Wissenschaftler des Kreises von der Aufgabe entlastet worden seien, in ihren wissenschaftlichen Büchern die Weltsicht des Kreises zu verbreiten und dem ›Leben zu dienen‹.

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Es fällt auf, dass sowohl Schuller als auch Borbein den Arbeiten des Kreises weitaus aufgeschlossener gegenüber stehen als Vertreter anderer Fachrichtungen wie etwa der Kunstgeschichte und Germanistik. In einer persönlich gefärbten Antwort auf die Frage, welche Spuren George bei einzelnen Archäologen (namentlich bei seinem Lehrer Ernst Langlotz) hinterlassen haben mag, nennt Borbein die Hingabe an den Gegenstand, die von gründlichem Quellenstudium begleitet wird. Für ihn sind die archäologischen Schriften des Kreises ein Beleg dafür, dass »sachbezogene, verantwortungsvolle Forschung nicht zugleich positivistisch sein muss« (S. 257).

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III. Große Wirkung beim »Grosskosmiker«

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Weitaus kritischer fällt in »Wilhelm Stein (1886–1970)« Ernst Osterkamps Urteil über die wohl reinste Arbeit im George-Stil aus, die aus dem Kreis hervorgegangen ist: Wilhelm Steins Raffael. Steins Buch ist der »Grenzfall einer Gestaltmonographie«, wo der Wille zur Geschlossenheit die »Tendenz zur Ausbildung eines geschlossenen Wahnsystems mit sich bringt« (S. 236 f.). Raffael erscheint als die »Präfiguration Maximins« (S. 230), und sein Leben und Werk werden typologisch den Konstellationen um George zugeordnet. Auch das völlige Fehlen von Abbildungen in einem kunsthistorischen Buch ist ein Kuriosum. Dieses »Buch eines Kunsthistorikers, der mit Raffaels Gemälden und Zeichnungen aufs beste vertraut war«, bleibt ein »Buch mit sieben Siegeln«, solange der Leser die »typologische Übersetzungsleistung« nicht vollbringt (S. 229).

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Dass George diesen auch im Kreis kontrovers diskutierten Band hat erscheinen lassen, deutet Osterkamp als Zeichen dafür, dass er selbst es genau so gewollt hat, »als wissenschaftliches Medium der Kreispolitik, das aus dem System der Kunst und nicht aus dem System der Wissenschaft seine Gesetze bezog« (S. 236). Dennoch sollte vielleicht ergänzt werden, dass George an anderer Stelle durchaus auch Vorbehalte Stein gegenüber geäußert hat; die Rede vom »Grosskosmiker« 7 drei Jahre später deutet darauf hin, dass Stein ihm doch etwas unheimlich wurde. Nichtsdestotrotz bringt Osterkamps Beitrag den wohl deutlichsten Beleg einer Wirkung Georges auf ein wissenschaftliches Werk – wenn auch ohne weiter gehende Folgen für die Entwicklung des Faches.

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IV. Germanistik mit und ohne George:
Ernst Bertram und Max Kommerell

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Die wissenschaftlichen Arbeiten von Max Kommerell und Ernst Bertram haben sehr unterschiedliche Grade von George-Nähe und -Distanz. Matthias Weichelt stellt in seinem Aufsatz »Ergänzung und Distanz. Max Kommerell und das Phänomen George« differenziert und überzeugend Kommerells wissenschaftliche Neuorientierung nach dem Bruch mit George dar. Sie vollzieht sich insbesondere in vier Bereichen: (1.) An die Stelle der deutenden »Schau« tritt ein textorientierter Zugang. (2.) Die Leitgattung Lyrik verliert ihre Sonderstellung. (3.) Die Beschäftigung mit Goethe wird zur Kritik an George. In der Aufgabe des Weltbezugs sieht Kommerell eine zentrale Fehlentwicklung der Moderne. George habe an diesem Punkt versagt, wogegen bei Goethe die Vermittlung von Individualität und Weltbezug verwirklicht sei. (4.) Das Gestaltprinzip, das Leben und Werk vollständig deckungsgleich machen will, wird vom Prinzip der Person abgelöst, das disparate Züge in die Darstellung integriert.

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Die Analyse von Gedichten Georges stellt Kommerell jedoch vor ein Problem. Indem George die Einheit von Person, Werk und Lehre für sich beansprucht und die Rezeption seiner Lyrik dahingehend steuert, kann Kommerell diesen Texten nicht mit seiner an Goethe entwickelten Methode begegnen: »[A]uf die den Texten inhärenten autoritären Strukturen weiß sein auf Offenheit und Ergänzbarkeit abonniertes Modell keine Antwort« (S. 156). Anstatt ausgehend von den Texten auf die Person zu kommen, geht er bei George von der Person aus und unternimmt eine psychologische Deutung der Texte, sodass das »Charisma der Erscheinung die Deutung des Textes überlagert« (S. 157). Damit benennt Weichelt ein Problem, das auch der heutige George-Interpret kennt.

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Weichelts Ausführungen werden der Komplexität der Thematik in vollem Maße gerecht. Der im Begriff der »Ergänzung« bereits enthaltene Aspekt der Kontinuität hätte vielleicht manchmal noch stärker pointiert werden können. Wenn z.B. der »durch die Gestaltkonzeption gesicherte ganzheitliche Anspruch der nun verstärkten Hinwendung zur ästhetischen Dimension der Texte nicht entgegengesetzt, sondern integriert wird«, da sich Georges an Texten gewonnenes Denkmodell nicht »von der Referenz des Körperlichen [...] lösen kann und will« (S. 142), hätte man sich noch klarere Bestimmungen der Kontinuitäten und des Eigenen gewünscht. In Weichelts Deutung bleibt die Wirkung Georges auf Kommerells Wissenschaft in erster Linie eine negative.

[21] 

Bernhard Böschenstein widmet sich »Ernst Bertram« und dessen Nietzsche. 8 Er zeigt, dass hier ein sehr persönliches Nietzsche-Bild gezeichnet wird, dessen deutschnationale Tendenz Nietzsche in die Tradition der Spracherneuerer Luthers und Goethes rückt. Dieser ›nordische Nietzsche‹ wird um alles reduziert, was diesem Bild entgegensteht: um seine Verehrung der italienischen Renaissance, der griechischen Antike und seine Affinität zur französischen Literatur und Musik.

[22] 

Bertrams Methode besteht, so Böschenstein, darin, aus Nietzsches Werken »eine Zitatfolge zu komponieren«, deren »poetisches Kombinationsverfahren« man als »Ergänzung« zur traditionellen Literaturgeschichte betrachten könnte, wäre nicht die fatale »ideologische Tendenz« (S. 189 f.). Anschlussmöglichkeiten an George sieht Böschenstein in anderen Bereichen. Nietzsches vergebliche Suche nach Jüngerschaft ist »in georgischem Geist« dargestellt (S. 192), ebenso die beschriebene Wertung Goethes und Napoleons als dionysischen Kräften durch Nietzsche. »[V]on hier aus« – und nicht von dem deutschnationalen Bertram ausgehend – »lässt sich eine Brücke zu George bauen« (S. 191).

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Freilich bewegte sich Bertram nur an der äußersten Peripherie des Kreises, und angesichts der relativen Bekanntheit gerade des Nietzsche-Bandes hätte man sich gewünscht, Böschenstein hätte seine klare Untersuchung auch auf Bertrams spätere, heute weitgehend unbekannte Arbeiten ausgedehnt.

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V. Georges Geist oder Geist der Zeit?

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Solide Studien liefern schließlich auch Carola Groppe und Rainer Kolk. Groppe untersucht in ihrem Beitrag »Stefan George, der George-Kreis und die Reformpädagogik zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik« die Bildungskonzepte und Ideen vom »neuen Menschen« in Reformpädagogik und George-Kreis. Im Vergleich ergeben sich mehr trennende als verbindende Elemente: Georges Erziehung ersetzt nicht den klassischen Bildungsweg, sondern ergänzt ihn um die Hinführung zur dichterischen Welt. In den Freien Schulgemeinden werden dagegen Alternativen zum herkömmlichen Bildungsweg formuliert. Zwar gibt es punktuelle Anknüpfungen an Gedanken Georges, aber in »keiner der reformpädagogischen Schulgründungen stand eine George-Rezeption im Mittelpunkt der eigenen Traditions- und Identitätsbildung« (S. 326). Letztlich dominiert ein beiderseitiges Konkurrenzverhalten »im Kampf um die bürgerliche Jugend« (S. 326).

[26] 

Rainer Kolk rekapituliert in seinem Beitrag »Kritik der Oberfläche. Zur Position des George-Kreises in kulturellen Debatten 1890–1930« drei Diskurse, an denen der Kreis um George beteiligt war: (1.) Die wissenschaftliche Umstrukturierung der philologisch-historischen Disziplinen, (2.) Jugendbewegung und (3.) Kritik der Massenkommunikation. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der George-Kreis an eine laufende Debatte Anschluss sucht und Beiträge liefert, dass dieses aber nicht eigentlich als »Wirkung« definiert werden kann. Einzig im Bereich der massenmedialen Verbreitung von Texten setzt der Kreis mit dem Gegenkonzept der persönlichen Interaktion eigene Akzente. Weitere Wirkungen dieser ›performativen Kreiskultur‹ werden nicht aufgeführt.

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Kolks Beitrag lenkt den Blick auf ein Problem, das bei der Lektüre der Artikel wiederholt auftaucht: wie schwierig es ist, aus dem Chor der kulturkritischen Stimmen um 1900 die Stimme des George-Kreises zu vernehmen. Denn Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Wilhelm Dilthey und viele andere geben den Ton vor, dem der Kreis um George lediglich folgt.

[28] 

VI. Spurenverschleierung:
Rassentheorie und Eugenik bei Karl Hildebrandt

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Ein dunkles Kapitel behandelt Stefan Breuer in seiner Studie »Ästhetischer Fundamentalismus und Eugenik bei Kurt Hildebrandt«. Hildebrandt ist nach eigener Aussage der einzige Naturwissenschaftler des Kreises. Seine so genannten ›Norm-Bücher‹ erscheinen mit dem Signet der Blätter für die Kunst. Seine Schriften zur Rassenhygiene werden vom Kreis kontrovers diskutiert, finden aber in Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf mächtige Fürsprecher. Diese eugenischen Arbeiten gehen, so die These Breuers, mit den Grundwerten des Kreises konform und erweisen sich als anschlussfähig für die NS-Politik.

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George-spezifisch an Hildebrandts Schriften ist, dass Platon als Gründer der Eugenik gefeiert wird, dass Hildebrandt das schöpferische Moment in der Genetik betont und dass er über biologische Determinanten hinaus die Degeneration auf geistigen Verfall bezieht. Breuer kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, »daß der ästhetische Fundamentalismus in der Auslegung, die Kurt Hildebrandt ihm gegeben hat, zum Wegbereiter und zur Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft geworden ist« (S. 307). Unstreitbar hat Hildebrandt mit dem Plazet Georges publiziert. Dennoch sollte man Breuers These im Sinne Kolks etwas differenzieren und Georges skeptische Äußerungen zur Eugenik nicht überhören. 9 Hildebrandts Rechtfertigungsstrategien nach 1945 begegnet Breuer mit Ironie. 10 Breuers wichtiger Beitrag wirft damit ein helles, wenngleich manchmal überscharfes Licht auf eine ›andere‹ Wirkungsgeschichte Georges, und es wäre die falsche Reaktion, davor die Augen zu verschließen.

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VII. Die »andere Wissenschaft«:
poetologische, biographische und
methodische Annäherungen

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Knapp und präzise behandelt Dirk von Petersdorff die Frage »Stefan George – ein ästhetischer Fundamentalist?« und nähert sich damit Breuers These von Georges ›ästhetischem Fundamentalismus‹ aus poetologischer und rezeptionsanalytischer Sicht. Seine Untersuchung fußt in Teilen auf seinem kürzlich erschienenen Buch Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. 11 Petersdorffs Antwort ist negativ: Fundamentalist sei George nicht, weil seine Lyrik Kontingenzerfahrungen zulasse, rein ästhetisch sei er nicht, weil er von Zeitgenossen auch politisch und gesellschaftlich gelesen worden sei.

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Bruno Pieger informiert unter dem Titel »Norbert von Hellingraths Hölderlin« über Hellingraths wissenschaftliche Orientierung. Er fordert eine »andere Wissenschaft« (S. 131) auf der Basis von Lebensphilosophie und Phänomenologie, ohne hinter die Errungenschaften der Editionsphilologie zurückzufallen. Ein interessantes Dokument ist Hellingrahts Verteidigung des Jahrbuchs für die geistige Bewegung gegen die Thesen Friedrichs von der Leyen, der im Jahrbuch-Konzept eine Gefährdung der Wissenschaft erkennt. Pieger nennt Hellingraths Beeinflussung durch unterschiedliche Quellen: Max Scheler und Ludwig Klages, Stefan George und Henri Bergson. Diese unterschiedlichen Einflüsse hätten noch stärker gewichtet werden können, um klarer zu fassen, was bei Hellingrath nun spezifisch georgesch ist und welche Momente anderen Einflusssphären zugerechnet werden können.

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Jeffrey D. Todds Aufsatz »Die Stimme, die nie verklingt« thematisiert »Ernst Robert Curtius’ abgebrochenes und fortwährendes Verhältnis zum George-Kreis«. Todd lenkt den Blick auf die beziehungsreichen Anspielungen und Selbstdefinitionen im Brief- und Schriftenwechsel zwischen Curtius und Friedrich Gundolf und deren unterschiedliche Stellung zur Tradition. Gert Mattenklotts eher assoziativer Beitrag »Walter Benjamin und Theodor W. Adorno über George« sieht Parallelen zwischen Georges Poetik und Benjamins Theorie der Kindheit als Erfahrungsraum von Ganzheitlichkeit und Sprachmagie. Jürgen Egyptien untersucht »Die Apotheose der heroischen Schöpferkraft. Shakespeare im George-Kreis« und bezieht sich dabei auf das Shakespeare-Bild insbesondere Friedrich Gundolfs. 12

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Speziell über »Die Heidelberger Soziologie und de[n] Stefan George-Kreis« handelt der Beitrag von Volker Kruse. Leider geht Kruse nicht ganz von dem gegenwärtigen Forschungsstand aus; gerade das Verhältnis zu Georg Simmel, das laut Kruse »weiterer Forschungen bedarf«, ist erst kürzlich von Otto Gerhard Oexle dargestellt worden 13 , und die von Kruse skizzierten Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen George und Max Weber wurden bereits von Edith Weiller herausgearbeitet. 14 Kruse kommt zu dem Schluss, dass Georges Wirkung auf die Soziologie »primär eine ›negative‹« ist, indem sich die Soziologie »vorwiegend in Abgrenzung zu dessen Ideen« entwickelt (S. 276). Gleichwohl lasse sich Alfred Webers Kultursoziologie »als Versuch interpretieren, Ideen des George-Kreises einer kulturellen Erneuerung einen soziologischen Rahmen zu geben, der die Eigengesetzlichkeiten moderner Gesellschaften beschreibt und berücksichtigt« (S. 274). In Kruses Zusammenfassung müssen sich die Georgeaner ihren Einfluss auf Weber doch wieder mit Nietzsche und Bergson teilen (vgl. S. 274).

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Robert Norton, der die Bergson-Rezeption unter dem vollmundigen Titel »Das Geheime Deutschland und die Wissenschaft« subsumiert, liefert den vielleicht anfechtbarsten aller Beiträge. Seine Materialbasis ist denkbar schmal: Norton bezieht sich lediglich auf Ernst Gundolfs Jahrbuch-Artikel über Henri Bergson. Dieser Text gilt ihm als Zeugnis einer überschwänglichen Bergson-Rezeption – er referiere »positiv, ja geradezu schwärmerisch über seinen Gegenstand« (S. 59) –, wobei er dessen kritische Nebentöne jedoch überhört. Als Korrektiv hätte er aber berücksichtigen müssen, dass Ernst Gundolf eine Abgrenzung vornimmt, wenn er dem Bergsonschen ›Werden‹ die Kategorie der ›Gestalt‹ entgegen stellt. Und auch wenn Gertrud Kantorowicz L’évolution créatrice (1907) übersetzt, lehnt George diese Hauptschrift von Bergson bekanntlich ab. Fraglich ist auch Nortons pauschales Urteil, dass die Werke der Wissenschaft aus den Reihen des Kreises eine Waffe gegen die Wissenschaft seien und letztlich auf einen revolutionären Umsturz drängten (S. 66). Denn sie bewegen sich doch in einem innerhalb der Wissenschaften geführten Diskurs und richten sich gegen positivistische und andere gegnerische Tendenzen innerhalb der Philologien.

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VIII. Fazit

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Der Eindruck, den dieser Band hinterlässt, ist ambivalent. Positiv zu werten ist die interdisziplinäre Konzeption (Theologie und Religionswissenschaft, auch Soziologie und Philosophie hätten noch genauer in den Blick kommen können). Eine engere Verknüpfung mit den Ergebnissen der Sektion »Stefan George und die Geschichtswissenschaft« auf dem Deutschen Historikertag in Halle an der Saale 2002 wäre wünschenswert gewesen. Ebenfalls ist zu bedauern, dass stets die nahe liegende Konstellation gewählt wird – Bertram und Nietzsche, Gundolf und Shakespeare usf. – und das Ergebnis entsprechend vorhersehbar ist. Eine experimentierfreudigere Zusammenstellung der jeweiligen Untersuchungsobjekte unter Berücksichtigung auch weniger bekannter Texte – beispielsweise Bertrams Anthologieprojekte und diejenigen von Wolters im Vergleich – hätte vielleicht zu neueren Erkenntnissen geführt.

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Insgesamt wäre auch eine verbindliche Klärung der Begriffe »Wirkung« und »Einfluss« notwendig gewesen und eine Abgrenzung gegenüber anderen Formen der Rezeption. Am ergiebigsten scheint die Konzentration auf biographische Einflüsse: Bezogen auf Denkformen und wissenschaftliche Orientierung Einzelner ist von einer direkten, produktiven Wirkung Georges zu reden.

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Ihrem selbst gesetzten Ziel einer breiten Dokumentation dieser Einflüsse werden die Herausgeber so nur in beschränktem Maße gerecht. Für eine entsprechende Dokumentation wären umfangreiche Erschließungsarbeiten von Nachlässen zu leisten, aber hier ist zu fragen, wie viel Neues über die Entwicklung des jeweiligen Faches dabei zu Tage kommt. Erstens sind die wenigsten der in Frage kommenden Personen repräsentativ für ihre Fächer. Zweitens ist Georges Lehre kein gedankliches Sondergut des Kreises, sondern, auch unbewusst, durch Moden und Zeitströmungen geprägt. Als »das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen« (Gottfried Benn) 15 bleibt George eine Instanz, in der sich Zeittendenzen sammeln und brechen. Georges Wirkung war eine Wirkung auf einzelne Wissenschaftler. »Die« Wissenschaft blieb davon weitgehend unberührt.

 
 

Anmerkungen

Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. 2., neugestalt. u. wesentl. erw. Aufl. München, Düsseldorf: Küpper 1954, S. 249. – Die Authentizität dieses Ausspruchs ist umstritten.   zurück
Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890–1945. Tübingen: Niemeyer 1998; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln: Böhlau 1997.   zurück
Vgl. den jüngst erschienen Band von Barbara Schlieben / Olaf Schneider / Kerstin Schulmeyer (Hg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Göttingen: Wallstein 2004.    zurück
Zum Begriff der Wissenschaftskunst vgl. Ernst Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Wissenschaftlers aus dem George-Kreis. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 1993, S. 177–198, hier S. 179 und 195 f.    zurück
Denkmäler der Tonkunst in Österreich, XVI. Jahrgang, Erster Teil, Heinrich Isaac: Choralis Constantinus, Zweiter Teil, bearbeitet von Anton von Webern, Wien 1909.   zurück
Wolfgang Christian Schneider: »Heilige und Helden des Mittelalters«. Die geschichtliche »Schau« Wolframs von den Steinen unter dem Zeichen Stefan Georges. In: Geschichtsbilder im George-Kreis (Anm. 3), S. 183–208.   zurück
Vgl. Michael Stettler: Begegnungen mit dem Meister. Erinnerungen an Stefan George. (Stefan George Stiftung Bd. 13) Düsseldorf, München: Küpper (ehem. Bondi) 1970, S. 21.    zurück
Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Bondi 1918.   zurück
Edgar Salin zitiert Georges Wort, eine gute Rasse schaffe »nur der Geist, nicht eine Zucht-Anstalt«. – Edgar Salin (Anm. 1), S. 248.    zurück
10 
Wo jener behauptet, er sei mit seiner Zielvorstellung einer »Mischrasse« anstelle einer »nordischen Rasse« dem nationalsozialistischen Rassenchauvinismus ausgewichen, legt Breuer Wert auf die Richtigstellung, dass auch Hildebrandts Mischrasse unter Auslassung des »durch Blutschande vermanschten französischen [...], ostischen und jüdischen« Blutes entstehen soll (S. 298).   zurück
11 
Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 2005.    zurück
12 
Vgl. dazu auch Jürgen Egyptien: Schöpfergeist und Kosmanthrop. Shakespeare im George-Kreis. In: Castrum Peregrini 54 (2004), S. 261–262, hier S. 87–121.   zurück
13 
Vgl. Otto Gerhard Oexle: Georg Simmels Philosophie der Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur. In: Geschichtsbilder im George-Kreis (Anm. 3), S. 19–50.    zurück
14 
Vgl. Edith Weiller: Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweiter Kulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S. 61–162.   zurück
15 
Gottfried Benn: Rede auf Stefan George. In: G. B.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Essays, Reden, Vorträge. Bd. 1. Hg. v. Dieter Wellershoff. 3. Aufl. Wiesbaden: Limes 1965, S. 464–477, hier S. 466.    zurück