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Ein avantgardistisches Quartett

Innovative Portraiture in Text und Bild

  • Allison Blizzard: Portraits of the 20th Century Self. An Interartistic Study of Gertrude Stein's Literary Portraits and Early Modernist Portraits by Paul Cézanne, Henri Matisse and Pablo Picasso. (Europäische Hochschulschriften / European University Studies 14) Frankfurt/M.: Peter Lang 2004. 142 S. Paperback. EUR (D) 27,50.
    ISBN: 3-631-52515-X.
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»At the turn of the last century, Paris was the place to be, and it is there that we can find Gertrude Stein, Paul Cézanne, Henri Matisse and Pablo Picasso…«. So eröffnet Blizzard ihre Studie, welche die berühmtesten Vertreter jenes Künstlerkreises fokussiert, der sich um die Dichterin und Kunstsammlerin Gertrude Stein zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete und bedeutsame Innovationen hervorbrachte.

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Diese interdisziplinäre Künstlerfreundschaft zwischen den Malern und der Dichterin ist bekannt und der intermediale Vergleich nicht neu. Dies ist auch der Verfasserin durchaus bewusst, weshalb sie ihr Vorhaben dezidiert abgrenzt von bisherigen Studien, die Steins Verhältnis zur Bildkunst unter die Lupe nehmen. Obgleich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Beiträgen zu diesem Thema erschienen ist, erfüllt Blizzards Arbeit ein Desiderat der Forschung: Das Neue an ihrer in der Reihe ›Angelsächsische Sprache und Literatur‹ erschienen Dissertation ist zum einen der Zuschnitt des Materials durch die pointierte Text-Bild-Auswahl und die Konzentration auf dieses Künstlerquartett, zum anderen eine interdisziplinäre Perspektive, die tatsächlich in einer Gleichgewichtung von Literatur und Bildkunst resultiert, wie es weder die literaturwissenschaftlichen Studien zu Steins Werk noch die kunstwissenschaftlichen zu den drei Malern anstreben.

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Die Konstellation der beteiligten Künstler sowie der betrachteten Kunstwerke gewinnt dadurch an Brisanz, dass Blizzard aus dem umfangreichen Korpus literarischer Porträts Steins fast ausschließlich Porträts der anderen drei Bildkünstler bespricht, die deren Werke reflektieren. Dabei beurteilt Blizzard im Kontext ihrer konkreten Text- und Bildanalysen die einzelnen Beziehungen zwischen Stein und den jeweiligen Künstlern nicht einheitlich, sondern versucht zu differenzieren. Zieht sie zunächst einen Kreis um alle vier, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Steins ›Salon‹ in der rue de Fleurus versammeln, so bemüht sie sich anschließend darum, das Beziehungsgeflecht zu entwirren. Dies offenbart Schwankungen im Gleichgewicht der Beziehungen, weil deren Wechselseitigkeit nicht ausgewogen ist: So belegt Blizzards interdisziplinäres ›Gruppenbild‹ den unbestreitbaren Einfluss der Bildkunst auf Steins Werk, der aber umgekehrt nicht nachweisbar ist. Allein im Fall Picassos ist gewagt von einer ›Zusammenarbeit‹ die Rede, weshalb der komplexen Verknüpfung von dessen Werk mit demjenigen Steins am meisten Platz eingeräumt wird. Während Stein von den anderen beiden Malern nur jeweils ein Porträt macht, porträtiert sie Picasso im Verlauf der langen Freundschaft drei Mal auf sehr unterschiedliche Weise. Darin lotet sie die Grenzen der Sprache in der Darstellung des Individuums aus.

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Blizzards paragone der Künste:
Zielsetzung, Konzept und Aufbau

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Freilich beabsichtigt Blizzard über die Grenzen persönlicher Beziehungen hinauszublicken und mit ihrer Studie neue Perspektiven sowohl auf die Werke der vier Künstler als auch auf die Schnittpunkte zwischen Literatur und Malerei in der Moderne zu eröffnen. Mit der Wahl ihres Titels verspricht sie Erkenntnisse über das Selbstverständnis der porträtierten und porträtierenden Künstler, wie es sich in deren zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Werken manifestiert.

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Am Anfang ihrer Untersuchung steht die Annahme, dass die poetischen Porträts Gertrude Steins und die Porträtgemälde von Cézanne, Matisse und Picasso konzeptuelle wie stilistische Gemeinsamkeiten aufweisen, die einem spezifisch neuen Subjektkonzept Ausdruck verschaffen. Die meisten Studien zu Steins Werk, die dessen Bezug zur Bildkunst fokussieren, setzen ihre Texte ausschließlich in Relation zum Kubismus, jedoch ist diese Kunstrichtung nicht der einzige Referenzhintergrund, vor dem sie sich situieren lassen. Blizzard versucht diese einseitige Beleuchtung durch den Vergleich der Texte Steins mit Duchamps ready-mades (S. 15 f.) sowie durch die Gegenüberstellung mit präkubistischen Bildern auszuweiten.

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Blizzard gliedert ihre Studie in drei Teile, bestehend aus einer sich über die ersten beiden Teile erstreckenden methodischen und kunsttheoretischen Grundlegung sowie dem close reading diverser verbaler und visueller Porträts. Der inhaltliche Aufbau dieses eigentlichen Hauptteils lässt sich auf den ersten Blick anhand der schlichten, durchsichtigen Titel erkennen. Dass Stein den Knotenpunkt des Beziehungsgeflechts bildet, wird daraus ersichtlich, dass ihre Verbalporträts, die den roten Faden bilden, nacheinander in Relation zu jeweils einem Bildkunstwerk gesetzt werden. Jeder besprochene Text und jedes betrachtete Bild dient jeweils als Kontext des anderen. Jeder ›Freundschaft‹ Steins mit den drei Künstlern ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der in etwa der Chronologie der persönlichen Begegnungen und der Entstehungen der Text- und Bildkunstwerke entspricht. Einleitend umreißt die Verfasserin jeweils den historischen Kontext der Begegnung zwischen Wort- und Bildkünstler, bevor sie deren Werke in einer vertieften Analyse zueinander in Bezug setzt.

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Nicht ganz neu, aber bislang nie derart systematisch vollzogen, ist die Gegenüberstellung von Cézannes Portrait de Hortense, Matisses La Femme au Chapeau und Picassos Portrait d’Ambroise Vollard mit verschiedenen Verbalporträts von Stein, die sich den unterschiedlichen Stilprinzipien der drei Gemälde annähern. 1 Ganz im Sinne Steins, die verschiedenste schwer einzuordnende hybride Textsorten unter dem Begriff ›Portrait‹ versammelt, bespricht auch Blizzard Verbalporträts in unterschiedlicher Form: die selbständigen Porträts »Cézanne«, »Matisse« und »Picasso« ebenso wie ihren Picasso-Essay, Three Lives und The Autobiography of Alice B. Toklas. Potenziert werden die festzustellenden stilistischen Ähnlichkeiten im Vergleich zwischen dem Gemälde eines Künstlers und Steins Verbalporträt eben dieses Künstlers, da Letzteres, so die These Blizzards, als Spiegel seiner Kunst konzipiert ist.

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Prämissen und Parameter für den
Text-Bild-Vergleich

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Als Prämissen sind der Text-Bild-Analyse kunsttheoretische Überlegungen vorangestellt. Zunächst verwendet die Verfasserin viel Raum auf die Diskussion und Korrektur verbreiteter Meinungen über die Spezifik modernistischer Kunst. Im Bemühen, Missverständnisse zu vermeiden, beleuchtet sie (in »Perception and Art«) die Frage der Objektivität vs. Subjektivität menschlicher Wahrnehmung und künstlerischer Darstellung in realistischer vs. abstrakter Kunst. In diesem Rahmen äußert sie einige prinzipielle Thesen, so zum Beispiel, dass alle Kunst konzeptionell sei (S. 10), womit sie einige der definitorischen Gegenüberstellungen von traditioneller und modernistischer Kunst entkräftet. Außerdem distanziert sie sich von der gängigen Annahme, dass das zentrale gemeinsame Merkmal von Steins Porträts und modernistischer Malerei die Subjektivität der Präsentation sei (S. 10; S. 115). Unabhängig davon affirmiert sie die tendenzielle Verschiebung des Fokus vom Objekt-Bezug auf den Selbstbezug des Kunstwerks in der Wort- und Bildkunst der Moderne.

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Im Gegensatz zum ›realistischen‹ Porträt, das auf Wirklichkeitsillusion abzielt, will das modernistische Porträt keine Kopie eines Individuums, sondern ein eigenständiges Kunstwerk sein. Diese gesteigerte Autoreferenzialität, die im Fall des Porträts besonders prekär ist, ist nach Blizzards Meinung wesentlich für das Verständnis aller hier besprochenen Texte und Bilder. Trotz ihrer Selbstbezüglichkeit werden sie als ›Porträts‹ betrachtet, denn die in ihren Titeln genannten Porträtierten sind, wenngleich oft nicht auf den ersten Blick erkennbar, darin präsent. Angesichts dessen lautet Blizzards Grundsatz für die Text- und Bildanalyse, es zu vermeiden, die porträtierte Person zu fokussieren, sondern vielmehr das den Porträts zugrundeliegende Konzept (S. 24).

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Anhand eines selektiven Forschungsüberblicks diskutiert Blizzard die Parameter für einen interdisziplinären Vergleich. So expliziert sie den Ansatz ihrer medienkomparatistischen Studie in der Bestimmung der ›Vergleichskriterien‹, die sie mit Blick auf drei andere einflussreiche Arbeiten zu Stein, nämlich von Marianne DeKoven, Wendy Steiner und Randa Dubnick erarbeitet (S. 17 – 22). 2 Blizzard lehnt jegliche festlegende Gleichsetzung einzelner Elemente der Sprache mit solchen des gemalten Bildes ab. Bereits Wendy Steiner weist auf die Problematik hin, für das Wort als kleinste Einheit der syntaktischen Komposition ein Äquivalent in der Malerei zu finden, denn dieses variiert von Bild zu Bild: So sind als Entsprechungen Farben, geometrische Formen, Pinselstriche usw. denkbar. Während der Dichter sein Gedicht notwendigerweise aus aneinandergereihten Worten konstruiert, bestimmt der Maler die kleinste Einheit je nach Stil des Gemäldes. 3 Aus diesem Grund betrachtet Blizzard in ihrer Untersuchung (in Anlehnung an Steiner und Dubnick) anstelle von eins-zu-eins Analogien ›relationale Analogien‹, die sich etwa in der internen Beziehung verschiedener Elemente eines Kunstwerks untereinander oder im Verhältnis zwischen Form und Funktion manifestieren. Idealiter treten auf diese Weise die Gemeinsamkeiten in den Gestaltungsprinzipien hervor, ohne dass die jeweiligen Eigenarten beider Medien aus den Augen verloren werden.

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Das modernistische Porträt

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Im zweiten Teil (»Portraiture and the Self«) behandelt Blizzard die der Gattung ›Porträt‹ inhärente Problematik und ihre Zuspitzung im Modernismus, ohne dabei en detail zwischen Verbalporträt und Porträtgemälde zu differenzieren. So stellt sie eine medienübergreifenden Definition dieser Gattung vor, die sie aus der kritischen Auseinandersetzung mit Definitionen aus Kunst- und Literaturwissenschaft gewinnt und für das modernistische Porträt tragfähig macht. Ihr eigenes Verständnis des Begriffs ›Porträt‹ resultiert aus einer Erweiterung enger gefasster Definitionen anderer Theoretiker (v.a. Brilliant und Steiner). 4 Inhaltliche und formale Einschränkungen wie etwa der radikale Ausschluss ›fiktiver‹ bzw. nicht identifizierbarer Figuren sowie restriktive Vorschriften für das literarische Porträt wie die relative Kürze, Kohärenz und die Dominanz der descriptio über die narratio hält sie für unvereinbar mit der modernen Portraiture. Für überholt erklärt sie die Ansicht, die äußere Erscheinung des Porträtierten sei von primärer Wichtigkeit für die Beurteilung der ›Ähnlichkeit‹ des Porträts. Von größter Bedeutung seien stattdessen die vom Künstler vermittelte ›Vorstellung‹ (idea) von der porträtierten Person und deren Einzigartigkeit, unabhängig davon, ob sie real oder fiktiv sei (S. 31 – 33). Zweifellos eröffnet Blizzards weitgefasster Porträtbegriff, den sie gezielt auf Gegenstand und Erkenntnisinteresse ihrer Studie ausrichtet, einen großen Spielraum. Andererseits jedoch bringt er eine Einbuße an Trennschärfe mit sich, die etwa für gattungspoetische Fragestellungen hinderlich ist, weshalb seine Relevanz für andere Untersuchungen eingeschränkt ist.

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Das neue Subjektverständnis:
entity statt identity

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Das modernistische Porträt sei nicht zu begreifen ohne ein Verständnis für das sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzende Subjektkonzept, so eine Kernthese Blizzards. Um das spezifisch Neue zu profilieren, skizziert sie in äußerster Kürze eine Entwicklungsgeschichte des Porträts in Text und Bild, die den Wandel im Selbstverständnis des Menschen ins Auge fasst. Da ihre Komplexität auf wenigen Seiten nicht darstellbar ist, präsentiert Blizzard eine stark vereinfachte Synopse, deren Generalisierungen bisweilen zu Gegenbeispielen provozieren.

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Das neue Subjektverständnis erläutert Blizzard, indem sie zwischen den beiden Konzepten identity und entity differenziert (S. 35 ff.): Das charakteristische Moment des modernistischen Porträts sei die Abwendung von einem statischen Identitätsbegriff, der verschiedene Aspekte der Person wie ihre Charakterzüge, ihre physische Erscheinung, ihren sozialen Status u.a. involviert, zugunsten einer Vorstellung von dynamischer Entität, die der zeitlichem Wandel unterliegenden Komplexität menschlicher Individualität besser gerecht wird. Besagte Entwicklung lässt sich anhand der Porträts von Stein nachvollziehen (S. 36; S. 117). Während also identity im Rahmen des in der Portraiture vorgenommenen Vergleichs zwischen Abbild und Original anhand von eins-zu-eins-Referenzen die Ähnlichkeit feststellt, verlangt die entity nach der Vermittlung eines Gesamteindrucks durch ein künstlerisches Äquivalent, das die Essenz der Person spürbar macht.

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Wie zuvor schon andere in der Stein-Forschung verweist auch Blizzard auf den Einfluss der damals neuesten Erkenntnisse der Psychologie auf den Stil der literarischen Porträts. Insbesondere William James’ Konzept des stream of consciousness zur Beschreibung der Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins 5 prägen die Experimente Steins: »Matisse« und »Picasso« bestehen aus endlos langen gleichförmigen Sätzen, deren Fluss nur selten durch Interpunktion unterbrochen wird. Blizzard spricht diesbezüglich von »a new kind of portraiture in flux«, einer neuartigen, fließenden Portraiture, die auch Cézannes Portrait de Hortense (1879 – 82) kennzeichne, absichtsvoll unvollendet wirke und dadurch die Wandelbarkeit des Menschen zeige. Stein hatte dieses von ihr erworbene Gemälde stets im Blick während sie Three Lives schrieb – weshalb Blizzard hauptsächlich anhand dieses Textes Steins sprachliche Strategien zur Wiedergabe des Bewusstseins untersucht – und es diente ihr als Inspirationsquelle, so berichtet sie selbst in ihrer Autobiography. In Blizzards Augen erweist es sich als »an excellent key or guide for the understanding of the stylistic link« zwischen Cézanne und Stein (S. 46).

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Kompositorische Analogien
in Bild und Text

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Eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen den Verbalporträts Steins und allen besprochenen Porträtgemälden von Cézanne, Matisse und Picasso ist die Verschiebung des Fokus von der Repräsentation des Individuums auf die Präsentation seiner Wahrnehmung durch das Auge des Künstlers. In den Bildern zeigt sich die Verdrängung der realen äußeren Erscheinung der Porträtierten durch die Sichtweise des Porträtisten besonders anschaulich. In beiden Medien erfahren Betrachter und Leser ebenso viel über das in der Komposition verwirklichte künstlerische Konzept des Porträtisten wie über die Porträtierten. Stein bestätigt selbst: »Cézanne gave me a new feeling for composition.« 6 So setzt sie traditioneller descriptio und narratio die modernistische ›Komposition‹ entgegen, bestehend aus destruktiver Fragmentierung und kreativer Neuordnung. Auf der Basis letzterer Gestaltungs¬prinzipien entwickelt sich auch der Kubismus in der Malerei.

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Stein beobachtet schon bei Cézanne, wie dieser jedem Detail der Komposition die gleiche Bedeutung zuspricht und damit den Blick des Betrachters von Bildzentrum – im Fall des Porträts vom Gesicht – ablenkt und zerstreut. Dieser Darstellungsmodus lenkt die Aufmerksamkeit von den Portraitierten ab und zieht sie auf die Maltechnik. Auf diesem Konzept der Dezentrierung beruht auch Steins »Cézanne«, dessen semantische wie grammatische Gestaltung Kohärenzbildung verhindert (S. 48 – 49). Es sei ein Porträt seiner Kunst, so Blizzard. Cezannes Malstil wird nicht beschrieben oder erklärt, sondern nachgeahmt. Mit dieser Feststellung impliziert Blizzard, dass Stein Cézanne portraitiert, indem sie seine Kunst imitiert (S. 50 – 51). Blizzard hält Steins Porträt für gelungen, weil es in ihren Augen eine intime Sichtweise auf Cézanne gewähre (S. 53).

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Dem könnte man entgegenhalten, dass Stein auch in einer Reihe anderer Portraits mit denselben Techniken arbeitet, unabhängig vom Portraitierten. Sie mag ihre Techniken aus der Beschäftigung mit Cézanne und anderen Malern abgeleitet, nicht aber speziell nur für deren Portraits verwendet haben. Einem solchen Interpretationsfehler erliegen diejenigen, die sich keinen Überblick über die zahlreichen Portraits der Autorin machen und deren Entwicklungstendenzen ignorieren. Steins »Cézanne« (1923), das ganze vier Jahrzehnte nach Cézannes Portrait de Hortense entstand, ließe sich hinsichtlich seiner Gestaltungsprinzipien ebenso gut mit anderen präkubistischen und kubistischen Gemälden anderer Künstler, beispielsweise von Picasso, vergleichen. Die von Blizzard vollzogene Korrelation ist erhellend, aber nicht die einzig mögliche.

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Detailansichten

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Auch in Steins Porträt »Matisse« sieht Blizzard das Wesen des Künstlers in der Imitation seiner Kunst getroffen. Auffälligstes Merkmal dieses Textes sind seine unauflösbaren semantischen Widersprüche im Urteil über Matisse. Eine vergleichbare psychologische Spannung wird Matisses prominentestem Porträtgemälde La Femme au Chapeau (1905) attestiert, das Stein ebenfalls erworben hat. Blizzard kontextualisiert Steins Porträt und liest es als Metatext vor dem Hintergrund der künstlerischen Neuerungen Matisses. So schildert sie die kritische, wenn nicht gar ablehnende Aufnahme des besagten Gemäldes auf dem Salon d’Automne 1905 und die Kontroverse in der öffentlichen Meinung (S. 59 f.), die sich in der Polyphonie des Porträts manifestiert.

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Diese Kontextualisierung erweist sich als ein hilfreicher Schlüssel zum Textverständnis. Einsichtsvoll interpretiert Blizzards eines der Schlüsselwörter in »Matisse«, nämlich »[he was always] struggling«, indem sie hinzufügt: »out of the 19th century artistic tradition« (S. 59). Mit diesem methodischen Ansatz kommt die Verfasserin zu ihrer der übrigen Forschung widersprechenden Feststellung, dass Steins Porträts keineswegs völlig undurchsichtig, sondern durchaus ›interpretierbar‹ seien, sofern man sie biographisch und historisch kontextualisiert. Dabei will ihre Deutung die selbstreflexive Oberfläche jedoch nicht negieren, weshalb sie als Lesweise ein »comprehending without seeing through the text« vorschlägt (S. 61). Bedauerlich ist jedoch, dass sie unreflektiert die Sprechinstanz des Textes als »narrator« bezeichnet und konstatiert »the portrait is narrated throughout« (S. 57), was der innovativen Portraiture nicht gerecht wird, zumal Konsens herrscht, dass Steins Portraiture mit sämtlichen narrativen Konventionen bricht und neue Techniken zur unmittelbaren Vergegenwärtigung der Person sucht. 7 Derartige begriffliche Ungenauigkeiten sind nicht insignifikant, wenn sie dazu dienen sollen, die außergewöhnliche Portraiture Steins zu charakterisieren.

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Gertrude Stein und Pablo Picasso:
Eine Rekonstruktion ihres künstlerischen Dialogs

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Laut Blizzard waren es Picassos Arbeiten, die den größten Einfluss auf Steins Werk hatten. Dass dieser Künstler über drei Jahrzehnte lang Thema für sie war, belegen ihre drei Picasso-Porträts, anhand derer sich die stilistische Entwicklung ihrer Porträts nachvollziehen lässt. Doch auch für Picassos Beschäftigung mit Gertrude Stein gibt es ein anschauliches Zeugnis: sein berühmtes Porträtgemälde von ihr, in dem sich seine Entwicklung des Kubismus ankündigt. Wie Steins Porträts spielt es mit den Konventionen naturgetreuer mimetischer Abbildung, indem es diese teils affirmiert und teils unterläuft.

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Neu und kreativ ist Blizzards Gegenüberstellung von Steins Three Lives, einem prosaischen Triptychon bestehend aus den Porträts dreier Frauen, und Picassos Les Desmoiselles d’Avignon (1907), einem der aufsehenerregendsten Gemälde des frühen 20. Jahrhunderts. Beide Werke entstanden im selben Jahr. Gewöhnlich wird in der Forschung anhand dieses frühen Textes Steins doppelte Abkehr von der konventionellen Personenbeschreibung und von der Narration gezeigt. Blizzards Vergleich mit dem Gemälde rückt ihn in ein anderes Licht. Anhand eines der drei Porträts, »The Gentle Lena«, analysiert sie die Figurenrede als Bewusstseinsstrom, der ihre Denkweise und damit ihr Wesen enthüllt. Dafür entwirft sie ein Schema, das Wiederholungen auf semantischer und sprachlicher Ebene sichtbar macht, die Stein selbst mit ihrer naturgetreuen Imitation der Sprechweise erklärt (S. 74). In der Selbstenthüllung der Figuren sieht Blizzard ein tertium comparationis von Text und Bild. Basierend auf der These, dass alle darin dargestellten Frauenfiguren mit revolutionärem Gestus ihre traditionelle Objektifizierung im Kunstwerk abwehren und sich stattdessen selbst (verbal bzw. visuell) präsentieren, entdeckt sie einleuchtende Parallelen hinsichtlich der zugrundeliegenden Subjektkonzeption und der Kompositionen beider Kunstwerke, die der ungeübte Betrachter auf den ersten Blick nicht sieht (S. 78 – 81). Die genannten Gemeinsamkeiten kann man allerdings aufgrund der Entstehungszeit nicht wie im Fall der Porträts von »Matisse« und »Picasso« auf die Orientierung Steins am Bild erklären – man muss sie als in beiden Medien zeitgleich auftretende Phänomene sehen.

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Visueller und verbaler Kubismus

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Ausgehend von ihrer These, dass jedes der Künstlerporträts die künstlerische Persönlichkeit des Porträtierten offenbare, vergleicht Blizzard Steins erstes Picasso-Porträt »Picasso« (1909) und das zweite »If I Told Him. A Completed Portrait of Picasso« (1923) mit Picassos Gemälden »Portrait d’Ambroise Vollard« (1910) und »Still Life with Calling Card« (1914). Anhand dieser Werke erklärt sie die konzeptuellen wie stilistischen Gemeinsamkeiten zwischen Steins Texten und dem Kubismus, wobei sie das erste Bild als Beispiel für den analytischen, das zweite für den synthetischen Kubismus behandelt. 8

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Steins »Picasso« ist keine um Vollständigkeit bemühte Darstellung des Individuums im Sinne einer Auflistung aller seiner Eigenschaften. Stattdessen ist das Porträt, dessen direkte Referenzen reduziert sind, gekennzeichnet von der unermüdlichen Wiederholung weniger Schlüsselbegriffe, die um die Kernaussage »This one was working« kreisen (S. 43 – 44). Diese Struktur ähnelt der repetitiven Komposition aus geometrischen Formen in Picassos Portrait d’Ambroise Vollard (1910). Auch hier wird das Gesicht nicht als geschlossenes Ganzes abgebildet, sondern in seine Bestandteile zerlegt – deswegen analytischer Kubismus –, um davon nur einige wesentliche Merkmale auszuwählen und diese neu zu arrangieren. Steins zweites Picasso-Porträt ist sowohl in seiner grammatischen Struktur als auch hinsichtlich seines Wortschatzes abwechslungsreicher und enthält eine Vielzahl von Motiven. Aufgrund der daraus resultierenden Diskontinuität ist dieses Porträt deutlich schwerer entschlüsselbar als das erste.

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Deshalb bleibt Blizzard auf der Beschreibungsebene und betrachtet Textstrukturen, ohne zum Portraitierten vordringen zu können (S. 95 ff.). Im Vergleich dieses Textes mit Picassos Still Life with Calling Card (1914) macht sie auf interessante Parallelen aufmerksam, die so konkret noch nirgends zur Sprache gekommen sind. Ebenso wie Stein, integriert Picasso verschiedenartiges ›Fremdmaterial‹ in seine späteren kubistischen Bilder, so dass Kollagen entstehen. In diesem Fall verwendet er die ›Calling Card‹ von Gertrude Stein und Alice B. Toklas, die im Sinne eines Porträts als Referenz auf deren einstige Besitzer und Benutzer fungiert (S. 98). In Anlehnung an Dubnicks Studie zur stilistischen Entwicklung im Gesamtwerk Steins überträgt Blizzard also Picassos Schritt vom analytischen zum synthetischen Kubismus auf Steins Porträts. 9 Damit skizziert sie grob eine Entwicklung innerhalb der Portraiture Steins, die durch die interdisziplinäre Perspektive legitimiert ist, deren Lücken jedoch in einer primär literaturwissenschaftliche Studien geschlossen werden müssten.

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Das Problem der Mimesis

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Blizzard erklärt das Porträt »Picasso« damit, dass Stein darin nichts über Picasso aussagen, sondern seine essentielle Persönlichkeit mit a-mimetischen Mitteln präsentieren wollte (S. 82). Dem kann zweifach widersprochen werden: zum einen sagt das Porträt sehr wohl etwas über Picasso aus, zum Beispiel dass er sich vor allem durch seine Arbeit definiere. Zum anderen wird Picassos unermüdlicher Schaffensdrang höchst mimetisch dargestellt, indem die Aussage, dass er immerzu arbeite, kontinuierlich wiederholt wird. Blizzard begreift Steins Portraiture prinzipiell als a-mimetisch: »illusionistic mimetic reproduction is avoided at all costs« (S. 50). Gleichzeitig behauptet sie jedoch, dass die Künstlerporträts (»Cèzanne«, »Matisse« und »Picasso«) die Kunst der Porträtierten und damit deren essentielle Persönlichkeit nicht beschreiben, sondern jeweils nachahmen. Ihre beiden Thesen stehen im Widerspruch zueinander. Blizzards Studie lässt eine Definition von ›mimetischer‹ Darstellung vermissen, die von zentraler Bedeutung wäre. Offenbar versteht sie darunter im Sinne eines sehr eng gefassten mimesis-Begriffs ausschließlich ›sichtbare, visuelle Ähnlichkeit‹, denn sie fasst zusammen: »The portrait may not look like him [Picasso], but it acts as he does; it re-enacts his activity« (S. 85).

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Last but not least

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Gemäß ihrer gattungsunspezifischen Porträtdefinition bespricht Blizzard zuletzt Steins Picasso-Essay (1938) sowie The Autobiography of Alice B. Toklas (1933) als Porträts – allerdings ohne sie mit Werken der Bildkunst zu vergleichen. Dies mag daran liegen, dass sie tendenziell Abstand nehmen von radikalen stilistischen Experimenten und eine Rückkehr zu vergleichsweise ›konventionellerer‹ deskriptiver Darstellung vollziehen. Den erstgenannten Text, eine Hybridform aus biographischem und kunstkritischem Essay, dem hier erstmals in der Stein-Forschung eine ausführliche Besprechung gewidmet ist, bezeichnet sie kreativ als »highly stylized biographical portrait« (S. 100). Die konzeptionell einfallsreiche fiktive Autobiography betrachtet Blizzard hauptsächlich als ein großformatiges Selbstporträt Steins, nicht, wie dies auch denkbar wäre, als Sammlung zahlreicher Einzelporträts. In dem trickreich konstruierten ›Selbstporträt‹ manifestieren sich ganz andere Probleme als in den anderen besprochenen Porträts, weshalb sich der Vergleich damit als schwierig erweist.

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Fazit

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Bei gleichmäßiger Verteilung der Aufmerksamkeit auf beide Künste führt Blizzard den konkreten Vergleich von Text und Bild, den ihre Vorläufer in diesem Themengebiet immer nur skizziert hatten, anschaulich und detailliert aus. Sie legt eine konzise Studie vor, deren Korpus von Porträts sich als tragfähiges Ensemble erweist und eine Forschungslücke schließt. Fast zu wörtlich nimmt die Verfasserin bisweilen die Einbettung ihrer Studie in andere Forschungsarbeiten, denn sie zitiert häufig und ausgiebig direkt aus Sekundärtexten, wo eine informative kritische Paraphrase effektiver wäre. Große, unbearbeitete Fremdtextblöcke aus Biographien und kunstgeschichtlicher Literatur stören bisweilen den Lesefluss. Im Kontrast dazu besitzt jedoch die Einbettung der Portraiture Steins in den sozialen, kulturellen und künstlerischen Kontext unbestreitbar den Wert der Anschaulichkeit.

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Dank der schrittweisen Heranführung an Text und Bild eignet sich die Studie sehr gut als Einführung sowohl in das poetische Werk Steins als auch in die modernistische Portraiture in der Malerei, denn es gelingt der Verfasserin, komplexe künstlerische Entwicklungen einleuchtend darzustellen. In den Reflexionen zur Spezifik der modernen Kunst sowie in den einzelnen Bildbesprechungen zeigt sich ihr kunstwissenschaftliches Verständnis.

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Die der Text- und Bildanalyse vorangestellten kunsttheoretischen Erkenntnisse gewinnt Blizzard hauptsächlich anhand der Bildkunst und überträgt sie weitestgehend unkommentiert auf die Literatur. Bisweilen spricht sie über Text- und Bildporträts als sei keinerlei Differenzierung in der Betrachtungsweise notwendig und als besäßen beide eine gemeinsame Tradition. Dies entspricht ihrer Auffassung des Porträts als »a truly intermedial form of art« (S. 115) – wobei sie ihren Intermedialitätsbegriff leider nicht definiert. Obgleich diese Perspektive interessante Erkenntnisse zeitigt, wäre es doch wünschenswert, dass in der Text- und Bildanalyse gelegentlich gezielt auf die medienspezifischen Unterschiede aufmerksam gemacht würde, die Gertrude Stein selbst in ihren Schriften immer wieder feststellte. Bemerkenswert ist, dass Blizzard darauf verzichtet, eine der neueren Intermedialitätstheorien zu involvieren: Dies würde es ermöglichen, noch präziser zwischen den verschiedenen Arten des transmedialen Austauschs zu differenzieren – vorausgesetzt man verliert die Gefahr der Übersystematisierung nicht aus den Augen.



Anmerkungen

Cézanne fertigte mehrere Porträts seiner Frau Hortense an. Das Gemälde, das Blizzard zum Vergleich auswählt und Portrait of Hortense nennt, ist dasjenige, welches Gertrude Stein selbst erworben hatte. Es ist auch unter dem Titel Madame Cézanne with a Fan (1879 – 82) bekannt. Das genannte Porträt von Matisse hatte die Dichterin übrigens ebenfalls seinerzeit gekauft.   zurück
Vgl. Marianne DeKoven: »Gertrude Stein and Modern Painting: Beyond Literary Cubism«. In: Contemporary Literature 22, 1 (1981), S. 81 – 95; Marianne DeKoven: A different Language. Gertrude Stein’s Experimental Writing. Madison, Wisconsin 1983; Wendy Steiner: Exact Resemblance to Exact Resemblance. The Literary Portraiture of Gertrude Stein. (Yale Studies in English, Bd. 189), New Haven / London 1978; Randa Dubnick: The Structure of Obscurity. Gertrude Stein, Language, and Cubism. Chicago / IL 1984.Die neueren Arbeiten von Ulla Haselstein (»›My Middle Way Was Painting‹: Gertrude Steins literarische Porträts«. In: Jörg Huber (Hg.) Darstellung: Korrespondenz. (Interventionen, Bd. 9) Wien / New York 2000, S. 113 – 132; sowie »Gertrude Stein’s Portraits of Picasso and Matisse«. In: New Literary History 34, 4 (2003), S. 723 – 743) finden in Blizzards Studie keine Berücksichtigung, da sie in etwa zeitgleich entstanden.   zurück
Vgl. Wendy Steiner: The Colors of Rhetoric. Problems in the Relation between Modern Literature and Painting. Chicago / London 1985, S. 53.   zurück
Vgl. Richard Brilliant: Portraiture. London 1991; sowie ders.: »Portraits: The Limitations of Likeness«. in: The Art Journal 46, 3 (1987), S. 171 – 2; sowie Wendy Steiner (Anm.1).   zurück
Vgl. William James: The Principles of Psychology. 2 Bde., New York [Erstausgabe 1890] 1950, hier I, S. 239.   zurück
Zitiert nach Allison Blizzard, S. 49. [ursprünglich in: Haas, Robert Bartlett: »Gertrude Stein Talking – A Transatlantic Interview« (1945), in: Haas: A Primer For the Gradual Understanding of Gertrude Stein. Los Angeles 1971.   zurück
Vgl. dazu Ulla Haselsteins Besprechung der Porträts »Matisse« und »Picasso« (Anm. 1).   zurück
Die Unterschiede zwischen ersten beiden verbalen Picasso-Portraits erarbeitet Blizzard mithilfe der von DeKoven vorgeschlagenen stilistischen Kategorien zur Unterscheidung verschiedener ›Phasen‹ im Gesamtwerk Steins. Vgl. Marianne DeKoven, A Different Language. Gertrude Stein’s Experimental Writing. Madison, Wisconsin 1983.   zurück
Vgl. Randa Dubnick (Anm. 1).   zurück