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Von Büchern und ihren Schicksalen

Klaus Garber sichtet die Überlieferung
frühneuzeitlicher Literatur

  • Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents. München: Wilhelm Fink 2005. 765 S. Gebunden. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 3-7705-3234-1.
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Kulturwissenschaftliche Visionen

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Der Osnabrücker Germanist Klaus Garber darf in der deutschen Frühneuzeitforschung gleich die drei wichtigen Rollen eines Propagators regionalhistorisch ausgerichteter Literaturgeschichtsschreibung, eines unermüdlichen Sammlers von Kasualdrucken (und vehementen Verteidigers dieser lange zu Unrecht mißachteten Textsorte) sowie eines Cicerone für die Bücherschätze des alten deutschen Kulturbereiches für sich beanspruchen. Mit bahnbrechenden, oft mehrteiligen Sammelbänden hat er sowohl grundsätzlich 1 als auch für einzelne Territorien 2 die regionale und institutionelle Verankerung von Literatur dokumentiert und zugleich deren funktionale Einbindung in gesellschaftliche Verwertungszusammenhänge aus kulturwissenschaftlicher Perspektive eindrucksvoll nachgewiesen. Seit einigen Jahren erscheint unter seiner Ägide ein vielbändiges Katalogwerk, in dem das in Bibliotheken osteuropäischer Staaten aufbewahrte Kasualschrifttum deutscher Autoren verzeichnet ist; die Texte selbst sind im Osnabrücker »Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit« als Kopien versammelt und liegen in Mikrofiche-Editionen vor. 3

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In vielen seiner oft Buchformat erreichenden Aufsätze beschäftigt sich Garber seit Jahren mit den Schicksalen literarischer, aber auch sonstiger im weiten Feld der ›Kulturwissenschaften‹ relevanter Texte der Frühen Neuzeit, dabei genuin literarhistorische, überlieferungs- und bibliotheksgeschichtliche sowie kulturpolitische Intentionen verknüpfend. Seine weit ausgreifenden Studien zumal der letztvergangenen Jahre könnte man böswillig als Hybridformen bezeichnen: Analytische und narrative Passagen mischen sich darin ebenso wie minuziöse Nachweise (über mehrere Seiten sich erstreckende Fußnoten sind keine Seltenheit) und kulturkritische Lamentationen. Gerade diese Struktur verleiht den Arbeiten freilich auch jene Authentizität, die aus dem Bewußtsein der Tragweite seiner wissenschaftlichen Mission, aus Hartnäckigkeit und Detailgenauigkeit erwächst und ohne die das ›Lebenswerk‹ der Rettung untergehenden Kulturgutes, worauf Garbers Bemühungen letztlich hinauslaufen, nicht zu erreichen wäre.

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Ein politisches Buch

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Fast zeitgleich mit der Festschrift zu seiner Emeritierung 4 ist nun ein Band mit Aufsätzen von Klaus Garber erschienen, der – mit Ausnahme zweier bislang unpublizierter Beiträge – wissenschaftliche Studien und (in wenigen Fällen) Zeitungsartikel, die in den Jahren seit 1980 erstmals publiziert worden waren, vereinigt. Es geht in allen Fällen um die Situation der Überlieferung frühneuzeitlicher Texte, teilweise aus dem Blickwinkel der bibliographischen bzw. bibliothekarischen Praxis, meist aber aus der Perspektive des ›reisenden Kulturwissenschaftlers‹ – womit gesagt sein soll, daß Garbers notorischer Hang zu ausgedehnten Bibliotheksreisen nicht in erster Linie bibliophilen Neigungen, sondern dem durch die Forschungssituation legitimierten Wunsch nach Wiederauffindung, Sicherung und überlieferungsgeschichtlicher Verortung von schriftlichen Zeugnissen aus dem alten deutschen Kulturraum geschuldet ist.

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Da die Beiträge sich zu einem großen Teil mit dem Schicksal von Bibliotheken und Archiven der ehemaligen deutschen Gebiete in Ostmitteleuropa (Breslau, Danzig, Königsberg usw.) beschäftigen, die Situation des Kalten Krieges wie die nach der Wende von 1989/90 reflektieren und in Fragen der institutionellen Zugehörigkeit des älteren deutschen Kulturgutes Position beziehen, liegt es auf der Hand, daß Garbers Buch ein politisches Buch ist. Das spezifische Interesse des Autors für die Dokumente gerade der deutschen Kultur wird durch die solide wissenschaftliche Fragestellung der (virtuellen und realen) Erkundungsfahrten ebenso legitimiert, wie die Schuld der Deutschen an der – von Garber gleichwohl inkriminierten – Zerstörung ihrer eigenen Kulturstätten im Zweiten Weltkrieg immer wieder in angemessener Form betont wird.

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Garber, der sich in anderen Arbeiten durchaus als ›Europäer‹ positioniert, 5 verbirgt nicht seine Trauer über den ›Verlust‹ deutschen Kulturgutes, doch ist diese in erster Linie auf das vollkommene Verschwinden von Teilen der Überlieferung, erst in zweiter Linie auf die heutige Aufbewahrung der Kulturgüter in fremden, osteuropäischen Bibliotheken bezogen. Die Rückführung der Bücher nach Deutschland wird gelegentlich als erwünscht bezeichnet, doch nie aus einem Geist des Revanchismus heraus, sondern weil die Rekonstruktion historisch zusammenhängender Komplexe dem Forscher am Herzen liegt. Auf der einen Seite äußert Garber pragmatische Erwägungen wie die folgende:

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Alles kommt darauf an, aus Königsberg stammende kulturelle Dokumente zu entdecken, zu beschreiben, zu sichern; gar nichts aber ist zumindest gegenwärtig an ihrer Versetzung aus ihren heutigen Verwahrungsorten gelegen. Bekanntmachung der in der Mehrzahl immer noch nicht aufgespürten Dokumente ist das vorrangige Gebot der Stunde, und zwar auf seiten der verwahrenden Institutionen nicht anders als auf seiten der Wissenschaftler. Die internationale Forschergemeinschaft muß so gut wie angängig in den Stand gesetzt werden, quellenbezogene Arbeit durchzuführen. Damit ist Königsberg mehr gedient als mit Proklamationen um Rückführung, die ohnehin in erster Stelle an Rußland selbst zu richten wären, durchweg hier wie anderwärts aussichtslos bleiben dürften und mit Gewißheit nur dazu führen würden, daß das Geschäft der Spurensicherung behindert und womöglich definitiv verhindert wird. Ihm gebührt im Falle Königsbergs aus vielerlei Gründen uneingeschränkte Priorität. (S. 579)
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An anderer Stelle – wenn der regionale Bezug von Bibliotheksbeständen oder die Vision einer ›Deutschen Nationalbibliothek‹ in Berlin im Mittelpunkt der Argumentation steht – vertritt Garber freilich auch die Position, das Kulturgut sei, so seine unmißverständliche Formulierung, »den rechtmäßigen Besitzern zurückzuerstatten« (S. 666).

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Die Staatsbibliothek zu Berlin aber ist wie keine andere Bibliothek in der Bundesrepublik gehalten, ihre nationale bibliothekarische Aufgabe, wie sie ihr seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugewachsen war und in der Nazi-Ära abrupt unterbrochen wurde, wieder aufzunehmen und nach Maßgabe des Möglichen fortzuführen. […] Darum kann es keine Lösung auf Dauer sein, Bestände aus Berlin in Polen, Rußland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zurückzuhalten (S. 633). 6
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Nationalbibliothek
und Nationalbibliographie

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Eröffnet wird Garbers Band von einigen programmatischen Aufsätzen, die sich mit den Forderungen nach einer deutschen Nationalbibliothek bzw. einer Nationalbibliographie beschäftigen. Die größeren Beiträge in diesem Abschnitt sind bereits älteren Datums und müssen vor dem Hintergrund veränderter politischer Konstellationen und völlig neuartiger Recherche- und Reproduktionsmöglichkeiten neu gelesen werden. Der 1986 zuerst publizierte Aufsatz »Deutsche Nationalbibliothek und Deutsche Nationalbibliographie« (S. 21–47) stellt das Konzept einer ›dezentralen‹ Nationalbibliothek vor, also einer verpflichtenden Schwerpunktbildung einzelner großer Staats- und Universitätsbibliotheken.

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1991 verfaßte Garber für eine bibliothekarische Fachzeitschrift einen auch von Literaturwissenschaftlern viel beachteten Beitrag mit dem Titel »Schmelze des barocken Eisberges? Das Verzeichnis der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts« (S. 54–86); es wäre zu überprüfen, welche seiner zahlreichen, sehr detaillierten Kritikpunkte bei der Überarbeitung des Konzeptes für das VD 17 inzwischen Beachtung gefunden haben. Lesenswert sind auch zwei kurze Stellungnahmen, die das (damals) noch im Aufbau befindliche VD 16 kommentieren (S. 49–53; Erstdruck 1984) bzw. ein Plädoyer für ein die Erschließung der frühneuzeitlichen Textproduktion komplettierendes VD 18 formulieren (S. 87–90; Erstdruck 2004).

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Abenteuerliche Reisen
in das Reich der alten Bücher

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Eine Trias von Berichten über Reisen in ostdeutsche bzw. osteuropäische Bibliotheken erhält eigene forschungsgeschichtliche Relevanz dadurch, daß die Texte 1980, 1989 und 1993 erstmals gedruckt wurden und so den Wandel der Möglichkeiten eines westdeutschen, im Auftrage der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« reisenden und die Bibliotheksbestände vor Ort inspizierenden Wissenschaftlers dokumentieren. Die »Kleine Barock-Reise durch die DDR und durch Polen« (S. 97–123), eigentlich dem Spezialprojekt einer Bibliographie der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts gewidmet, gab zur Zeit des Kalten Krieges einen ersten Einblick in einen seit Jahrzehnten nahezu verschlossenen Bereich literarischer Überlieferung. Die einschlägigen Bibliotheken in Gotha, Erfurt, Weimar, Jena, Leipzig, Halle, Zwickau, Dresden, Breslau, Posen, Warschau, Thorn, Danzig und Stettin werden ganz knapp vorgestellt, der Bericht ist durchzogen von der Bekundung von Dankbarkeit gegenüber Kollegen, die dem Forscher in einer fremden, gefährlichen Welt zur Seite stehen (so über Marian Szyrocki in Breslau: »Er hat an alles gedacht, an die Tram-Billetts ebenso wie an das polnische Geld für die ersten Gänge …«; S. 116).

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Ganz eindeutig den Charakter eines Reiseberichts trägt auch der – anmerkungslose – Artikel, der 1989 in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht wurde: »Eine Bibliotheksreise durch die Sowjetunion« (S. 125–149). Über die Schätze in den Bibliotheken in Moskau, »Leningrad«, Tallinn, Riga, Vilnius und Lemberg erfährt man in dem Bericht über die Kontaktaufnahme »im Zeichen Gorbatschows« (S. 126) nur wenig, und doch wurden auf diesen frühen Reisen Garbers, wie er selbst immer wieder betont, die Grundlagen geschaffen für die breit angelegte, mit Hilfe ganzer Forschergruppen realisierte und von großen wissenschaftlichen Tagungen begleitete Erschließung der alten deutschen Buchbestände in den osteuropäischen Bibliotheken. Eine Ergänzung dazu bildet der nachfolgende Artikel »Auf den Spuren verschollener Königsberger Handschriften und Bücher« (S. 151–182), in dem – wiederum ohne Anmerkungen, aber mit einigen Bestandshinweisen im Text – eine Reise nach Königsberg, Vilnius und St. Petersburg im Jahre 1992 dokumentiert wird.

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Das Herzstück des Bandes: Glanz und Elend
(ehemals) deutscher Bibliotheken

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Unter der Überschrift »Verlust des kollektiven städtischen Gedächtnisses. Der Untergang kommunaler Bibliothekslandschaften« vereint Klaus Garber sechs Beiträge aus den Jahren 1993 bis 2005, in denen er in der für ihn typischen Weise Bedauern (über den Verlust an Tradition) mit Begeisterung (über die oft unerwarteten Funde), Berichte über persönliche Begegnungen mit minutiöser Dokumentation von Quellenbeständen und literarhistorische Befunde mit liebevoll gezeichneten Porträts von Büchersammlern, Bibliothekaren und lokalen Geschichtsforschern kombiniert. Ein wenig aus der Reihe fällt der Aufsatz »Zur Krisis reichsstädtischer Überlieferung. Die Bibliothek des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg und die verschollenen Handexemplare Sigmund von Birkens« (S. 285–312; Erstdruck 1997), da es hier nicht um das Schicksal der Nürnberger Stadtbibliothek insgesamt geht, sondern um den sehr speziellen Fall der »Handexemplare der Birkenschen Werke selbst, die mit seinem Nachlaß in den Besitz des Ordens kamen« (S. 291).

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Dagegen enthalten die beiden umfangreicheren Studien »Elegie auf die Straßburger Stadtbibliothek« (S. 185–236; Erstdruck 1995) und »Der Untergang der Hamburger Stadtbibliothek im Zweiten Weltkrieg« (S. 237–283; Erstdruck 1993) umfangreiche Darstellungen zu Entstehung, Geschichte, Aufbau, wissenschaftlichem Profil und Zerstörung dieser großen kommunalen Bibliotheken. Die Schwerpunkte der sehr präzise dokumentierten Untersuchungen sind unterschiedlich: Werden im Beitrag über die Straßburger Bibliothek, die 1870 völlig unvorbereitet der völligen Zerstörung preisgegeben war, der Akt der Verwüstung selbst sowie die politisch motivierten Reaktionen auf beiden Seiten ausführlich referiert und kommentiert, so kann in dem Aufsatz über die Hamburger Bibliothek, deren Bestände – wie es im Zweiten Weltkrieg meist der Fall war – zumindest teilweise noch rechtzeitig ausgelagert werden konnten, auch über das Schicksal der in Rußland verwahrten Bücher zumindest in einigen Andeutungen berichtet werden.

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Das zentrale Interesse Garbers an der Bibliothek seiner Heimatstadt gilt freilich der Hamburgensien-Sammlung, die er – manche mögen es als Kuriosum verbuchen – anhand des alten Kataloges minuziös und mit der Leidenschaft des auch um Alltagsquellen bemühten Kultur- und Sozialhistorikers rekonstruiert. Insbesondere die Kasualdrucke (vielfach »Unikate«), denen sein Interesse ja bis in das jüngste Katalogisierungsgroßprojekt hinein gilt (vgl. Anm. 3), werden im Rückblick als besonders schützenswerte Objekte (»von gleichem Status wie viele der geretteten Handschriften«; S. 272) gewürdigt.

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Der ausführlichste Beitrag des Bandes ist Breslau gewidmet, der »Bücherhochburg des Ostens« (S. 313–438; Erstdruck 2005). »Keiner anderen Bibliothek auf der Welt hat der Verfasser so viel Zeit widmen können« (S. 313), und es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, den Ertrag allein dieses Aufsatzes angemessen zu würdigen. Nicht nur wird hier die außerordentlich komplexe Geschichte der alten Breslauer Bibliothekslandschaft – mit der Rhedigeriana, der Bibliothek der Maria-Magdalenen-Kirche sowie der Bibliothek des Bernhardiner-Klosters als Keimzellen – aufgerollt, darüber hinaus werden namhafte Bibliothekare und Sammler in hervorragend dokumentierten Exkursen präsentiert und ausgewählte Bestandsgruppen wie etwa die Briefhandschriften der Rhedigeriana (S. 408–413) charakterisiert. Sehr wertvoll ist auch der Abschnitt über die Neugründung der Breslauer Universitätsbibliothek nach dem Zweiten Weltkrieg, in die zahlreiche schlesische Regionalbibliotheken integriert wurden, die Garber gleichfalls vorstellt.

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Einen vergleichbaren Anspruch vertreten die ebenfalls den aktuellen Kenntnisstand reflektierenden Beiträge über »Die alte Danziger Stadtbibliothek als Memorialstätte für das Preußen Königlich Polnischen Anteils« (S. 439–489; Erstdruck 2005) sowie über Geschichte, Zerstörung und Bestandzerstreuung im Falle Königsbergs (»Apokalypse durch Menschenhand. Königsberg in Altpreußen – Bilder einer untergegangenen Stadt und ihrer Memorialstätten«, S. 491–596; Erstdruck 2001). Fazinierend ist in all diesen geradezu monographischen Studien nicht zuletzt der weitgespannte historische Blick, der etwa im Falle Königsbergs die katalysatorische Funktion der Reformation im herzoglichen Preußen ausführlich mit Blick auf die lokale Buchproduktion und so mittelbar auf das Relief der späteren Bibliothekslandschaft analysiert. Wie schon im Breslau-Kapitel liefert Garber treffende Charakteristiken historisch gewachsener Bestände, wie exemplarisch am Fall der Wallenrodtschen Bibliothek (S. 560–566) zu studieren ist, die in ihrer entstehungsgeschichtlich bedingten Faktur erkennbar wird und deren immer wieder geforderte (virtuelle) Rekonstruktion nach diesen Ausführungen als kulturgeschichtlich lohnende Aufgabe gesehen werden kann. 7

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Europäische Perspektiven
und Aufgaben der Forschung

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Zwei weitere Aufsätze, von denen der längere und gewichtigere (»Der Zweite Weltkrieg und seine bibliothekarischen Spätfolgen«, S. 611–663) bislang unpubliziert war, reflektieren die fortbestehende Teilung historischer Büchersammlungen im vereinigten bzw. sich vereinigenden Europa. In paarweiser Zuordnung (Berlin – Krakau, Breslau – Berlin, Dresden – Moskau, Hamburg – St. Petersburg) wird das Schicksal ausgewählter Bibliotheken noch einmal aus der Perspektive der Bestandszerteilung rekapituliert, dabei steht generell das Postulat der Rückführung (s.o.) im Vordergrund – übrigens auch im Falle der ehemaligen Breslauer Bestände, die also von Berlin nach Polen zu transferieren wären (S. 641).

[25] 

Neben zwei kleineren Artikeln, die ebenfalls das Problem der Rückgabe ausgelagerter Buchbestände thematisieren, steht am Ende des Bandes ein umfangreicher Beitrag mit dem Titel »Der alte deutsche Sprachraum des Ostens. Stand und Aufgaben der literatur-, buch- und bibliotheksgeschichtlichen Forschung am Beispiel des Kleinschrifttums« (S. 679–748; Erstdruck 1997). Der Beitrag faßt die Ergebnisse von Garbers vielfältigen Bibliotheksreisen im Hinblick auf die an den verschiedenen Orten aufbewahrten Gelegenheitsschriften zusammen, deren Ermittlung, Verfilmung und katalogische Dokumentation Gegenstand eines 1990 begonnenen und heute bereits mit erstaunlichen Erfolgen aufwartenden Großprojektes ist (vgl. Anm. 3).

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»Das alte Buch im alten Europa«
als Nachschlagewerk

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Bei einem Umfang von 765 Seiten und unzähligen, oft seitenlangen Fußnoten darf man abschließend fragen, ob das Buch neben seiner kulturhistorischen und kulturpolitischen Bedeutung auch eine Funktion als Nachschlagewerk erfüllt. Der Literaturwissenschaftler, der bei der Lektüre den Spuren etwa eines Sigmund von Birken, Simon Dach, Paul Fleming oder Martin Opitz nachgeht, wird gelegentlich über spektakuläre Quellenfunde, häufiger über Einzelheiten der Überlieferungsgeschichte informiert, die durchweg forschungsrelevant sind. So enthält das monumentale Breslau-Kapitel Hinweise auf den Verbleib zeitgenössischer Abschriften von Gedichten und Briefen von bzw. auf/an Opitz (S. 413), und die Abhandlung über die Handexemplare Sigmund von Birkens erschließt gleichsam monographisch einen bislang unbeachteten Quellenfundus.

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Einzelne Funde wie der bislang verschollene Erstdruck von Opitzens Ekloge Daphnis (S. 375) oder ein Widmungsgedicht Simon Dachs für die Grammatica Lituanica von Daniel Klein (S. 173) führt der Verfasser teilweise nur beiläufig an, weist aber auf künftige Forschungen zu den betreffenden Stücken hin. 8 Der Schlußbeitrag über die anstehenden Forschungsaufgaben geht summarisch, aber auch mit vereinzelten präzisen Angaben auf die in litauischen, polnischen und russischen Bibliotheken aufbewahrten Drucke der Schriften von Simon Dach und den übrigen Mitgliedern des Königsberger Dichterkreises ein (S. 730–735), während zur »Entdeckung eines Fleming-Konvoluts in Riga« (S. 736) auf eine nicht in diesem Band wieder abgedruckte Studie verwiesen wird. 9

[29] 

Handbuchcharakter erhält der Band daneben durch die – leider nicht im Inhaltsverzeichnis reproduzierte – Gliederung der längeren Beiträge, durch die man sich gezielt über das Schicksal der Bestände einzelner Bibliotheken informieren kann; zuweilen sind Bestandsgruppen etwa der alten Hamburger Stadtbibliothek (S. 254–272) oder der Berliner Staatsbibliothek (S. 622–632) sogar nach Signaturen erfaßt und analysiert.

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Die eigentlichen Helden des Bandes sind freilich die Bibliothekare, Büchersammler und Buchhistoriker, denen Garber allerorten liebevolle Denkmäler setzt. Dabei werden so unterschiedliche Figuren vorgestellt wie der Breslauer Bibliotheksstifter Thomas Rhediger (S. 317–328), der Königsberger Lokalforscher und Bibliotheksdirektor Michael Lilienthal (S. 554–557) oder der Historiker Rodolphe Reuss (S. 224–236), der die Zerstörung der Straßburger Stadtbibliothek und die dafür Verantwortlichen ebenso engagiert anprangerte, wie er zu ihrem Wiederaufbau beitrug. Wer sich mit dieser Spezies der ›Bibliophilen‹ (das Wort gibt den Umfang ihrer Leistung freilich nicht angemessen wieder) näher beschäftigen möchte, findet in Garbers Buch reiche Anregungen; ihnen gehört, neben den Büchern selbst, seine entschiedene Zuneigung.

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Resümee

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Der eine oder andere Leser mag sich zuweilen an dem seraphischen Ton stoßen, mit dem Garber seine durch und durch detailgetränkten, historisch penibel recherchierten Ausführungen vorträgt. Die absolut gebrauchten Superlative, das antiquierte ›allererst‹ oder ›wenn anders‹ und mancherlei liebenswerte Manierismen nehmen sich allerdings gar nicht so schlecht aus in einem Buch, das nicht nur von Leidenschaft für seinen Gegenstand getragen ist, sondern diese Leidenschaft erst erwecken muß bei einem Publikum, das angesichts prall gefüllter Universitätsbibliotheken und nahezu unbegrenzter Möglichkeiten der Internet-Recherche von der Relevanz der hier benannten Forschungsdesiderate, der zu leistenden Basisarbeit und der logistischen Probleme zunächst überhaupt einmal Kenntnis nehmen muß.

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Klaus Garber verfügt in souveräner Weise über kultur- wie ereignisgeschichtliche Kenntnisse, große Kompetenz in Fragen des Buch- und Bibliothekswesens, ein enormes Engagement in Fragen der Bewahrung kulturwissenschaftlich relevanter Überlieferung und den nötigen klaren Blick für wissenschaftliche Desiderate sowie deren praktische Umsetzung. Diese Kombination dürfte zumindest unter den Literaturwissenschaftlern im deutschen Kulturbereich einmalig sein, und das vorliegende Buch ist ein anschaulicher Beleg dafür.

 
 

Anmerkungen

Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 1) Tübingen 1989; [zusammen mit Heinz Wissmann:] Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. (Frühe Neuzeit 26–27) Tübingen 1996; [zusammen mit Stefan Anders und Thomas Elsmann:] Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 39) Tübingen 1998.   zurück
[zusammen mit Manfred Komorowski und Axel E. Walter:] Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 56) Tübingen 2001; [zusammen mit Martin Klöker:] Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. (Frühe Neuzeit 87) Tübingen 2003; [zusammen mit Sabine Beckmann:] Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 103) Tübingen 2005; Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. (Frühe Neuzeit 111)Tübingen 2005.   zurück
Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Bd. 1 ff. Hildesheim u.a. 2001 ff. (die einzelnen Bände werden von Mitarbeitern der Forschungsstelle verantwortet). Der Georg Olms Verlag, in dem die Katalogbände erscheinen, veranstaltet auch die Mikrofiche-Ausgabe. Vgl. zum Katalogwerk demnächst meine Rezension in der »Zeitschrift für Germanistik«.   zurück
Axel E. Walter (Hg.): Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. (Chloe 36) Amsterdam, New York 2005.   zurück
Unter seinen Frühneuzeit-Studien seien hier nur zwei einschlägige Beispiele angeführt: Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy. In: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hg.): Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14) Wiesbaden 1987, S. 71–92; Sozietät und Geistesadel: Von Dante zum Jakobinerclub. Der frühneuzeitliche Diskurs ›de vera nobilitate‹ und seine institutionelle Ausformung in der gelehrten Aristokratie. In: Europäische Sozietätsbewegung (wie Anm. 1), S. 1–39.   zurück
Wer Garbers Integrität und seinen gleichzeitigen Hang zu pathetischer Darstellung nicht kennt, könnte die Grenze der ›political correctness‹ gestreift sehen in Passagen wie der folgenden: »Darum kann auch im Falle Dresdens nicht Frieden einkehren, bevor nicht das letzte aus der Hofbibliothek stammende Buch seinen Rückweg aus Moskau in die sächsische Memorialstätte angetreten hat« (S. 654). Es sei – ungeachtet aller Empfindlichkeiten, die manche Äußerungen des Verfassers bei gewolltem Mißverstehen erregen könnten – darauf hingewiesen, daß seine Argumente aus der Perspektive wissenschaftlicher Nutzungsinteressen durchweg berechtigt sind.   zurück
Zu Königsberg vgl. einen von Garbers produktivstem Schüler edierten Sammelband, in dem eine Fülle buchkundlicher Forschungsprojekte (und -desiderate) ausgebreitet wird: Axel E. Walter (Hg.): Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte. (Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 1) Köln u.a. 2004.   zurück
An dieser Stelle sei bemerkt, daß das den Band beschließende Namensregister leider nicht immer zuverlässig ist.   zurück
Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte der Sammlung Gadebusch. In: Norbert Honsza / Hans-Gert Roloff (Hg.): Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. (Chloe 7) Amsterdam 1988, S. 255–308. Der Aufsatz wird zusammen mit zwei noch umfangreicheren, bisher nicht publizierten Beiträgen zu Martin Opitz und Simon Dach demnächst in Buchform erscheinen. Es steht zu erwarten, daß Garber am Beispiel der Überlieferung von dreien der prominentesten deutschen Barocklyriker die Relevanz der von ihm seit Jahrzehnten propagierten, oftmals geradezu detektivischen Spurensuche in den Bibliotheken Osteuropas aufweisen wird.   zurück