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Erzählstruktur und Subjektkonstitution in Hölderlins Hyperion-Texten

  • Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. (Frühe Neuzeit 105) Tübingen: Max Niemeyer 2005. X, 518 S. Leinen. EUR (D) 124,00.
    ISBN: 3-484-36605-2.
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Erzählstruktur und Subjektkonstitution
in Hölderlins Hyperion-Texten

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Seit dem epochemachenden Buch von Lawrence Ryan, Exzentrische Bahn und Dichterberuf (1965), galt die Erzählstruktur des Hyperion als erschöpfend behandelt und hinreichend bekannt. 1 Die Doppelung von erlebendem und erzählendem Hyperion sowie die Entwicklung des Protagonisten auf der Ebene der erzählten Begebenheiten sind Allgemeingut der Forschung geworden und aus keinem Kommentar wegzudenken. Seit 1965 hat sich in der Hölderlin-Forschung viel getan. Die seit den 1970er Jahren vor allem von Dieter Henrich initiierte Forschung, die Hölderlins eigenständige Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie erarbeitet hat, konnte Ryan freilich nicht kennen. 2 Aus dieser Konstellation ergab sich nun eine Forschungslücke: Es galt, die Erzählstruktur des Hyperion unter Berücksichtigung von Hölderlins philosophischem Denken einer erneuten Analyse zu unterziehen.

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Diese Forschungslücke hat Gideon Stiening mit seiner Dissertation Epistolare Subjektivität (2005) geschlossen. Die Arbeit stellt sich der Probleme auf höchstem Niveau und kann als großer Gewinn für die Hölderlin-Forschung gelten. Der Autor analysiert die Hyperion-Texte sehr genau. Satz für Satz, bisweilen Wort für Wort, bettet er sie in die Philosophie um 1800 ein und vernetzt sie mit anderen Texten Hölderlins, die in zeitlicher Nachbarschaft zum Hyperion-Projekt stehen. Eine Besonderheit der Arbeit besteht darin, dass sie Hölderlins Prägung durch die Philosophie Kants, und zwar vor allem durch die Moralphilosophie, sehr stark betont. Die Spinoza-Rezeption tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund. 3

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Die Fragestellung

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In der »Einleitung« (S. 1–44) erläutert Stiening seine Vorgehensweise. Die zentrale These seiner Studie besteht darin, »Hölderlins Entscheidung für die Form des Briefromans aus seinem transzendentalphilosophischen Credo zu begründen« (S. 27). Erst durch »die spezifisch epistolare Erzählsystematik des Romans« erhielten »die politischen Ereignisse der Revolution, die kantische und nachkantische Philosophie und die Prosaform des Romans« ihren »systematischen Zusammenhang« (S. 38), so der Autor. Die Studie ist in zwei große Teile gegliedert. »Teil A« behandelt die Vorfassungen (S. 45–264), »Teil B« die Endfassung des Hyperion-Romans (S. 265–491).

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Die Vorfassungen: Werther-Nachfolge…

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Stiening interessiert bei seiner Analyse der Hyperion-Vorstufen vor allem die Verquickung der »zentrale[n] Gehalte des Romans« mit der sich verändernden erzählerischen Darstellung (S. 47). Mit diesem Ansatz gelingt es ihm, die von der Forschung im Allgemeinen vernachlässigten frühen Hyperion-Fassungen in ein neues Licht zu rücken.

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Kapitel I behandelt die Tübinger und Waltershauser Hyperion-Texte (S. 48–123). Im frühesten Bruchstück, An Kallias (1792 / 1793), schreibe der Erzähler aus der »unmittelbaren Nähe zum Erlebten« (S. 58). Diese »Werther-Variante« des Briefromans bleibe auch für die Erzählsystematik des Thalia-Fragments (1794) gültig (S. 61). Aus der Analyse der »Vorrede« gehe hervor, warum der Roman in diesem Stadium »nicht anders denn als aktualistischer Briefroman gestaltet werden« konnte (S. 84): Den anzustrebenden »Zustand der höchsten Bildung« (I, S. 489) 4 interpretiert Stiening als das »von Kant als höchstes Gut bezeichnete Ideal der moralischen Gesinnung« (S. 75). Die Annäherung an dieses nie vollkommen zu erreichende Ideal verknüpfe Hölderlin mit der Konzeption eines ethischen Staates, also einer Übereinstimmung freier Individuen (ebd.). Die Entscheidung für die Ausrichtung der eigenen Handlungsmaximen am moralischen Gesetz habe nach Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) als »eine einmalige, nachgerade plötzliche und daher kompromisslose ›Revolution in der Gesinnung‹«zu erfolgen, die in der Erinnerung des vergangenen Lebens nicht angemessen hätte dargestellt werden können (S. 84). Die Figur des Hyperion bleibe allerdings hinter dem auf der Autorebene vorgeführten Programm zurück, eine Entwicklung dieses Charakters durch die Briefe hindurch sei nicht festzustellen (S. 122).

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…Autobiographie…

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In Kapitel II (S. 124–218) analysiert Stiening die Jenaer Hyperion-Fassungen der Jahre 1794 / 95, in denen Hölderlin die Form des Briefromans aufgibt. Auch in den Jenaer Fassungen bleibe Hölderlin der praktischen Philosophie Kants verpflichtet, selbst wenn er sie in der Auseinandersetzung mit Fichteschen und Schillerschen Konzepten modifiziere (S. 126 und S. 169). Die wichtigste Modifikation betreffe die transzendental begründete »Einigkeit« (I, S. 517 und I, S. 523) von Natur und Geist, die sich sowohl in der Harmonie des Schönen als auch in den Dissonanzen mit ihr realisieren solle (S. 143).

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Eben diese Einigkeit von Natur und Geist begründe der »weise Mann« (I, S. 515) zu Beginn der beiden hier analysierten Hyperion-Texte ausführlich. Dem Prozess der Reflexionsentwicklung, hin zu dieser Position, durch das Erzählen selbst, komme dagegen keine eigene Bedeutung zu (S. 217). Daraus lasse sich der Wechsel der Erzählsystematik erklären, so Stiening: Die autobiographische Erzähltechnik ermögliche es, den weisen Mann abgeklärt, aus einer großen zeitlichen Distanz, mit Autorität sprechen zu lassen (ebd.).

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…Selbstkritik

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In Kapitel III (S. 219–264) rekonstruiert Stiening, so gut es eben der fragmentarisch überlieferte Text erlaubt, die Handlungs- und Schreiberebene der vorletzten Hyperion-Fassung (dies hat zuletzt Zinkernagel vor fast 100 Jahren geleistet) und analysiert die Ebene des Autors, also die berühmte »Vorrede«. 5 Die »entscheidende Veränderung« gegenüber den Waltershauser und Jenaer Fassungen leiste Hölderlin »in der Gestaltung der Erzählerfigur« (S. 241). Dieser Erzähler berichte seine eigene Vergangenheit, zu der er sich in ausführlichen Kommentaren kritisch verhalte, aus einem gewissen zeitlichen Abstand (S. 247).

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Auf die Frage, warum Hölderlin erneut zum Erzählsystem des Briefromans greife, gibt Stiening folgende Antwort: Die in der »Vorrede« entwickelte Grundlagenkonzeption Hölderlins verstärke den »unabschließbaren Prozeßcharakter menschlicher Existenz deshalb, weil nicht nur im Handeln, sondern auch in Denken bzw. Wissen [...] aller Widerstreit niemals überwunden werden könne« (S. 263). Diese Ausweitung der Unabschließbarkeit lasse die Gestaltung eines aus großem zeitlichen Abstand berichtenden wissenden Erzählers »falsch werden«, der Brief dagegen könne die »Prozessualität endlicher Reflexion« angemessen umsetzen (S. 264). Angesichts des fragmentarischen Charakters der vorletzten Hyperion-Fassung sei diese These jedoch nicht abschließend zu überprüfen, wie der Autor einräumt (ebd.). Dennoch sollte die hier erbrachte Interpretationsleistung nicht gering geschätzt werden.

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Die Endfassung:
Die Naturvision als intellektuale Anschauung…

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In Kapitel IV (S. 270–295) wird Hyperions ekstatisches Naturerlebnis analysiert. Stiening deutet den Naturhymnus als literarische Umsetzung einer intellektualen Anschauung, die eine »außergewöhnliche Form von Einsicht« präsentiere (S. 294), die zur Voraussetzung habe, dass das »Denken entschlummerte« (I, S. 759). Damit ist gleich zu Beginn der Interpretation des endgültigen Hyperion ein deutlicher Akzent gesetzt – ist es doch in der Forschung äußerst umstritten, ob Hölderlin über seine brieflichen und theoretischen Äußerungen hinaus zu einer dichterischen Umsetzung der intellektualen Anschauung gelangt sein soll. 6

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Die Analyse von Hyperions Naturerlebnis ergibt, dass hier eine »gesellschaftslose Natureinheit« vorgestellt (»ich hab’ ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum«; I, S. 760) und »zum eigentlichen Ganzen erhoben« werde (S. 274, Hervorhebung G. S.). In dieser Funktion solle die Natur »die von ihr abgefallenen Menschen untergehen lassen, um sie in den übergreifenden Naturkreislauf zu reintegrieren« (ebd.). In diesen »übergreifenden Organismus« der Natur wolle auch Hyperion eingehen – und zugleich »die eigenen Subjektqualitäten« erhalten (S. 275). Mit seiner Hingabe an die Natur verbinde Hyperion also »keine vollständige Negation seiner Subjektivität und Individualität«, zumal er plötzlich um die »reale Gemeinsamkeit mit Diotima – trotz ihres Todes« wisse (S. 277, Hervorhebung G. S.).

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Diesen Widerspruch von Entsubjektivierung einerseits und der Erhaltung der Subjektivität andererseits findet Stiening auch in Schellings Konzeption der intellektualen Anschauung: In den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus (1796) führt Schelling aus, dass in der intellektualen Anschauung eines absoluten Objekts der Widerspruch auftrete, dass das Subjekt im eigenen Aufgehen in der Fülle der Welt stets auf das eigene Selbst bezogen bleibe. Genau diese Aporie zeige sich, so Stienings Interpretationsthese, in der Naturvision Hyperions am Ende des Romans (S. 293).

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Mit den berühmten Worten »So dacht’ ich. Nächstens mehr« (I, S. 760) distanziere sich der Erzähler der Schlussvision von den in ihr vorgetragenen Gedanken (S. 295). Der »Prozeß epistolarer Erinnerung des eigenen Lebensweges«, der diese Distanzierung ermögliche (S. 295), wird nun in einem zweifachen Gang durch den Roman rekonstruiert. Kapitel V (S. 296–408) analysiert die Ebene des erlebenden Hyperion, Kapitel VI (S. 409–486) die des schreibenden Eremiten.

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…Hyperions Geschichte:
Ideal und Wirklichkeit

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Grundlegend für Hyperions Lebensweg ist seine Freundschaft zu seinem Lehrer Adamas. Die Erziehung des Adamas ziele auf eine »ideale Gemeinschaft« (S. 302), die sich – mit Kant – aus moralisch bestimmten Individuen zusammensetze. In der Antike sehe Adamas diese ideale Gemeinschaft verwirklicht, die Gegenwart Neugriechenlands erscheine in Gegensatz dazu als »verwahrloste Vielheit« (S. 305). Das Ideal moralischer Vollkommenheit sei in der »moralisch präformierten Natur« aufbewahrt (S. 302).

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In der Begegnung mit Diotima erlebe Hyperion, dass das Ideal der »schöne[n] Harmonie« tatsächlich vorhanden sei (S. 331). Analog dazu verstehe der Protagonist die demokratisch organisierte Athener Gesellschaft als »die Garantie einer an sich möglichen ›schönen Menschheit‹«(S. 361, Hervorhebung G. S.).

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Im – bekanntlich scheiternden – Revolutionsversuch weite Hyperion sein »Ideal der Menschheit« auf die neugriechische Wirklichkeit aus (S. 363). Stiening weist nachdrücklich darauf hin, dass der Text weder das Ziel, die Errichtung eines Freistaats zum Zweck einer schönen Gemeinschaft, noch der Weg, die Beseitigung der türkischen Fremdherrschaft, einer Kritik unterziehe (S. 373).

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Mit dem Scheitern des Revolutionsversuchs scheitern auch Hyperions persönliche Beziehungen: Alabanda endet im Freitod, Diotima stirbt hinein in das »Leben der Natur« (I, S. 749). Den Tod Alabandas hat Hyperion mit zu verantworten, und am Tod Diotimas trägt er die alleinige Schuld, wie Stiening zu Recht betont (S. 391 und S. 398). Nach dem Tod der Freunde flüchte Hyperion »vor der eigenen Vergangenheit« (S. 404). Endpunkt der »Suche nach der Flucht vor sich selbst« sei die Naturvision (S. 407).

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Der schreibende Eremit

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In Kapitel VI, »Formen und Stufen epistolarer Erinnerung« (S. 409–486), erfolgt eine sehr genaue Lektüre der »Beschreibung der empirischen Realität«, der »kommentierende[n] Einschübe zu den Darstellungen des Erlebten und der damaligen Überzeugungen« sowie des »sprachlichen Stil[s]« der Lebensschilderungen (S. 409), die der vereinzelt auf sich selbst zurückgeworfene Hyperion, zunächst in Korinth, später auf Salamis, seinem Freund Bellarmin mitteilt. In diesem Kapitel bringt die Studie ihre besten Argumente vor.

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1. Band, 1. Buch:
Beginn des Erzählprozesses

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In den ersten beiden Briefen des Romans versucht der Eremit nochmals eine Flucht vor sich selbst, indem er »in die Arme der unschuldigen Vergangenheit« versinken möchte (I, S. 616), um darin, wie ins »All der Natur«, in »seliger Selbstvergessenheit« aufzugehen (I, S. 614 f.). Im dritten Brief kommt der Prozess des Schreibens in Gang, als Bellarmin Hyperion bittet, von sich »zu erzählen« (I, S. 616). Aus dem Anstoß Bellarmins ergebe sich die Notwendigkeit, eine »Distanz schaffende epische Darstellung, die zwischen Dargestelltem und Darstellendem« zu unterscheiden habe, zu beginnen (S. 419).

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Dank der sehr genauen Lektüre gelingt es Stiening, die im und durch den Prozess des Erzählens langsam stattfindenden Veränderungen zwischen den Auffassungen Hyperions in der Schlussvision bzw. zu Beginn der Eremitage und den neu erlangten Einsichten zu Beginn des Schreibprozesses aufzuzeigen (S. 427–431). Diese Veränderungen ergeben sich dadurch, dass sich der schreibende Eremit in den Briefen sich selbst sich gegenüberstelle (S. 438) – analog zum Prozess der Selbstbewusstwerdung der Athener (1. Band, 30. Brief). Damit deute sich eine »Geschichte des Selbstbewußtseins« an, die an dieser Stelle allerdings dem Schreibenden selbst noch nicht bewusst sei (ebd.).

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1. Band, 2. Buch:
Subjektkonstitution im Erzählen von Diotima

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Die Erzählung seiner Liebe zu Diotima stürze den Eremit in eine Krise des Schreibens (ebd.). Damit, so Stiening, sei zugleich der Wendepunkt des Erinnerungsprozesses markiert (S. 449). Die »Zuflucht vor dem eigenen Ich«, die Hyperion zu Beginn der Eremitage gesucht habe, erweise sich angesichts »der schmerzvollen und schuldbeladenen Erlebnisse, mit denen seine Liebe zu Diotima endete, als unsinniges, irrationales Bemühen« (S. 449). Hyperion verlasse an dieser Stelle den Standpunkt »bewußtloser Erinnerung« und erkenne den Status der Reflexion an, die dem Erinnerungsprozess »als unhintergehbare Struktur von Subjektivität« immanent sei (S. 449). Die Erinnerung des eigenen Lebens entpuppe sich damit »aufgrund ihres – in der epistolaren Form exponierten – sukzessiven Charakters als Subjektivität konstituierende Reflexion« (S. 449). Das Versinken »in die Arme der unschuldigen Vergangenheit« (I, S. 616) falle mit dem Beginn des Erzählens von Diotima »zugunsten einer nun bewussten Differenz von erinnerndem ›Subjekt‹ und erinnertem ›Objekt‹«auseinander (S. 450). Der Eremit wolle von nun an im Prozess des Schreibens seine »bestimmte Individualität zurückgewinnen« (S. 451).

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Die episch-epistolare Darstellung des Athen-Erlebnisses kommt ohne Erzählerkommentare aus. Stiening interpretiert dies folgendermaßen:

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Eine gelungene epische Darstellung der eigenen Vergangenheit konstituiert im Eingedenken sowohl der Identität des Erzählers mit sich als auch der Differenz zu den von sich erzählten Begebenheiten eine sich zugleich zeitlich bestimmende Subjektivität des Erinnernden, die sich mit dem Bezug auf ihr Anderes, d.h. hier ihre vergangene Identität, auf sich selbst bezieht. Dieser vermittelte Bezug auf sich selbst als Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis überhaupt kann sich aber nur in einer sich im Schreiben objektivierenden Tätigkeit des Subjekts vollziehen, das sich damit ›sich gegenüberstellen will‹ [...], wie es in den Athengesprächen hieß. (S. 456, Anm. 101)
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2. Band, 1. Buch:
Reflektierende Erinnerung

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Im 7. Brief des 2. Bandes unterbricht der Eremit wieder seine lange Phase der epischen Darstellung und thematisiert seine aktuelle Situation. Hier wisse er nun »die endgültig erreichte Form reflektierter Erinnerung in ihrer systematischen Bedeutung zu begründen« (S. 458). Der eingeblendete Briefwechsel zwischen Hyperion und Diotima, den der Erzähler nur abschreibt, zeige, dass der Erzähler soviel »reflektierende Distanz« gewonnen habe, dass er in der Lage sei, die Vergangenheit unmittelbar sprechen zu lassen, ohne in ihr aufgehen zu wollen und ohne von ihr überwältigt zu werden (S. 461).

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2. Band, 2. Buch:
Das Problem des Romanschlusses

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Die Ruhe des Erzählers wird noch einmal angefochten, als er von Diotimas Tod berichtet. Stiening deutet die in der Forschung kaum berücksichtigte Tatsache, dass der Eremit die Abschrift von Diotimas Abschiedsbrief insgesamt viermal unterbricht, als Ausdruck seiner »abermals verlorenen Souveränität und Ruhe« (S. 463).

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Der berühmte Erzählerkommentar »Bester! ich bin ruhig, denn ich will nichts besser haben, als die Götter« (I, S. 751) gilt in der Forschung gemeinhin als der Endpunkt der Entwicklung des Eremiten: Hyperion erkenne Leiden und Tod als notwendig zum Leben gehörig an. Stiening wendet dagegen jedoch – zu Recht – ein, dass mit einer solchen Interpretation Hyperions Schuld am Tod der Diotima durch »die allgemeinen Todes-, Leid- und Schmerzensmeditationen« verschleiert und Hyperion selbst »von der moralischen Verantwortung eines tödlichen Verhaltens suspendiert« wäre (S. 471).

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Infolgedessen deutet der Autor den Brief über die Deutschen als eine weitere Station in der Entwicklung des Eremiten, der die moralische Depraviertheit der Deutschen anprangere, die alle Werte für empirische Zwecke instrumentalisierten (S. 477). Indem Hyperion gegenüber den Deutschen eine moral- und kulturkritische Haltung (Kant!) an den Tag lege, löse er den Auftrag ein, den Diotima ihm ihrem Abschiedsbrief auferlegt habe: »o nimmt die allesversuchenden Menschen, nimmt die Flüchtlinge wieder in die Götterfamilie, nimmt in die Heimath der Natur sie auf, aus der sie entwichen!« (I, S. 749) Eine schöne Interpretation des Romanendes, die neue Wege geht!

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Doch auch damit sind nicht alle Fragen hinsichtlich des Todes der Diotima und Hyperions Einsicht, »werth ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen« (I, S. 751), beantwortet. Wie Stiening zu bedenken gibt, bedarf es zu dieser Einsicht nicht des – von Hyperion verschuldeten – Todes der Diotima (S. 483). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die in der Hölderlin-Forschung oftmals anzutreffenden Lösungsvorschläge zur Interpretation des Romanschlusses scheinen mir diese Schwierigkeit allzu sehr einzuebnen. Anders dagegen liest sich Stienings Kommentar:

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Wollte Hölderlin tatsächlich darstellen, daß es für die Einsicht in die ontologische Universalität des Leidens eines schuldhaften Leidens bedarf, oder ging es ihm darum zu zeigen, daß trotz und gegen alle Niedergeschlagenheit durch Schuld am Leiden anderer bewußte Subjektivität und handlungsfähige Personalität möglich bleibt? Die Interpretation dieses Todes dürfte, ja sollte die Forschung auch weiterhin beschäftigen. (S. 484)
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Endlich wird dieses Problem einmal offen benannt. Über das Ende des Romans gilt es also weiterhin nachzudenken. Es wäre schön, wenn dies auf dem Reflexionsniveau des hier rezensierten Buchs geschehen würde.

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Fazit

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Im »Schluß«-Kapitel bezieht Stiening nochmals den Gehalt des Romans auf die Form des Erzählens (S. 487–491). Der Roman inszeniere die Gewinnung eines reflektierten Bewusstseins qua Erinnerung als »eine Geschichte des Selbstbewußtseins« (S. 488). Der Briefform komme hierbei aus mehreren Gründen eine besondere Bedeutung zu. Zum einen komme in den Briefen die Dynamik der Erkenntniskonstitution im Prozess des Schreibens zum Ausdruck (S. 487). Zum zweiten sei der Brief an die konkrete Individualität Hyperions gebunden (S. 488). Zum dritten könne der interpersonale Bezug des Briefes (Hyperion schreibt an Bellarmin) als ein Vorschein der »Herzensvereinigung« eines »ethischen gemeinen Wesens« (nach Kant) gelten (ebd.). Das monoperspektivische Kompositionsprinzip (Bellarmin antwortet nicht) ermögliche es, das sich in der Erinnerung konstituierende Selbstbewusstsein in seiner selbstreflexiven Struktur zu konturieren (S. 489).

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Kurz gesagt: Nur so und nicht anders konnte der Hyperion komponiert werden. Wer wissen möchte, warum, muss Stienings langen Weg mitgehen. Es lohnt sich.

 
 

Anmerkungen

Lawrence Ryan: Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf (Germanistische Abhandlungen 7) Stuttgart: Metzler 1965.    zurück
Exemplarisch seien genannt: Dieter Henrich: Hegel und Hölderlin. In: ders.: Hegel im Kontext (Edition Suhrkamp 510) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 9–40; ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795) Stuttgart: Klett-Cotta 1991; ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795) Stuttgart: Klett-Cotta 1992.    zurück
Vgl. dazu Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion« (Studien zur deutschen Literatur 112) Tübingen: Max Niemeyer 1990; dies.: Markstein Spinoza. Schönheit als »Nahme deß, das Eins ist und Alles«. In: Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege zu Hölderlin (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft 18) Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 361–385; dies.: Hölderlins Spinoza-Lektüre und Kritik der Subjektphilosophie. In: Eva Schürmann / Norbert Waszek / Frank Weinrich (Hg.): Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas (1942–1997) (Spekulation und Erfahrung, Abt. 2, 44) Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002, S. 459–475.    zurück
Die Hölderlin-Zitate werden in den laufenden Text eingefügt und beziehen sich auf folgende Ausgabe: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. 3 Bände. München, Wien: Carl Hanser 1992–1993. Die römische Ziffer bezeichnet die Band-, die arabische die Seitenzahl.    zurück
Franz Zinkernagel: Die Entwicklungsgeschichte von Hölderlins »Hyperion« (Quellen und Forschungen zur Spach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 99) Straßburg: Trübner 1907.    zurück
Vgl. dazu Doris Feil: Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes »Werther« und Hölderlins »Hyperion« (Beiträge zur Kulturwissenschaft 7) Oberhausen: Athena 2005. Doris Feil sieht – auf der Ebene der Erkenntnistheorie – die entscheidende Differenz zwischen Werther und Hyperion in Hölderlins Konzeption der intellektualen Anschauung. Diese sieht sie im Hyperion an verschiedenen Textpassagen poetisch umgesetzt.    zurück