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Goethe als kreativer Archivar

Wissenstransformation in Faust II

  • Steffen Schneider: Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes »Faust II«. (Hermaea 108) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VI, 246 S. Kartoniert. EUR (D) 36,00.
    ISBN: 3-484-15108-0.
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»Und dies geheimnisvolle Buch«

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»Da steht es nun, wie es auch geraten sei«, schreibt Goethe an Boisserée über den zweiten Teil seines Faust (8.9.1831) und fährt fort: »Und wenn es noch Probleme genug enthält, keineswegs jede Aufklärung darbietet, so wird es doch denjenigen erfreuen, der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht. Er wird sogar mehr finden, als ich geben konnte.« Das Erkennen der »Probleme«, das Bemühen um »Aufklärung« und das Enträtseln der »Miene[n]«, »Wink[e]« und – nicht nur »leisen« – »Hinweise« kennzeichnen die Forschungsliteratur zu Goethes Faust II. Auch Schneider betont gleich zu Beginn seiner »Einleitung« (S. 1–20), dass der Dramentext ein »Archiv« sei, »in dem Spuren von Prätexten und literarischen, musikalischen und ikonographischen Formen, aber auch von wissenschaftlichen und technischen Abhandlungen aufbewahrt sind« (S. 1), die bereits »in minutiösen Studien« (S. 1) aufgedeckt und erklärt seien. Ein Desiderat sei nach Schneiders gründlicher Bestandsaufnahme der Forschung eine eingehende Untersuchung über die poetologischen Funktionen der im Drama so zahlreich eingearbeiteten Wissensbestände. Bisher seien auch die großen Kommentare von Albrecht Schöne (1994) und Ulrich Gaier (1999) über eine »Gegenüberstellung von Text und Kommentar« (S. 2) und eine umfassende »Diskursrekonstruktion« (S. 3) nicht hinausgekommen.

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Goethe, so Schneiders These, eigne sich das Wissen seiner Zeit in Faust II nicht nur an, um es in Zitaten und Anspielungen widerzuspiegeln (S. 15), sondern gebe mit der Verarbeitung des Wissens und einer bewussten Transformation eine poetische (und gleichzeitig poetologische) Antwort auf die epistemologische Krise um 1800, die es (auch) der Literatur verwehrt, Totalität von Wissen und Welt abzubilden (S. 21–24, 47). Für die Rekonstruktion der poetologischen Spuren, die die verschiedensten Wissensbestände in Faust II hinterlassen haben, müsse der Blick in der Analyse nicht nur auf die Wiedergabe, sondern besonders auf die poetischen Verfremdungstechniken gelenkt werden (S. 4). Diesen Transformationsprozess, der zur »Ästhetisierung« (S. 231) des Wissens führt, indem es im Drama poetisch neuformuliert (»Recodierung«, S. 229) wird und sich in der Rede und Kommunikation der Figuren neu anordnet, könnten rein intertextuelle Verfahren, wie sie Schneider in der bisherigen Forschung sieht, nicht aufdecken. 1

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»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie«

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Die Thesen und die den Textanalysen zugrunde gelegte Theorie, die Definition(en) des zentralen Begriffs der »Archivpoetik«, methodisches Vorgehen und – so viel sei vorweggenommen – letztlich auch die Ergebnisse (»Schlußbetrachtungen«, S. 229–233) von Schneiders Studie sind nicht leicht zusammenzufassen. Den theoretischen Präliminarien ist neben der »Einleitung« das gesamte, 55 Seiten umfassende zweite Kapitel »Elemente einer Archivpoetik« (S. 21–76) gewidmet, in dem Schneider Goethes Archivbegriff untersucht, in seiner Funktion als »Komplexitätsreduktion« (S. 36) darstellt, die »Archivfiktion« (S. 47) in Goethes Spätwerk zunächst an den Wanderjahren 2 erläutert und schließlich gattungsspezifische Merkmale der »Archivpoetik« bei der Übertragung vom Roman zum Drama erörtert. Schneider betont zwar, es gehe ihm nicht um eine »Gesamtinterpretation« (S. 19), Begriff und Anwendung der »Archivpoetik« erscheinen jedoch in der theoretischen Darlegung so absolut, dass sie als grundlegendes poetisches Verfahren in Faust II und nicht nur für einzelne Szenen Gültigkeit haben sollen: »Die Archivpoetik meint eine Poetik, die sich nur aus dem Formprozeß des Dramas als Transformation vorausliegender Diskurse erkennen läßt« (S. 18). Die Hinführung zur eigentlichen Textarbeit, die erst auf Seite 77 beginnt (bei einem Gesamtumfang der Arbeit von 233 Seiten), ist wenig stringent, von mehrfachen Neu- und Umformulierungen sowie Präzisierungen der Thesen und Vorgehensweise durchsetzt (vgl. z.B. Formulierung der These S. 5, ihre Präzisierung S. 12), und »nähere Bestimmungen« (S. 76) der »Archivpoetik« werden dem Leser schließlich doch erst in den Analysen versprochen.

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»Den Weg dahin wüßt’ allenfalls zu finden« –
Zielvorgaben und Vorgehen

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Die Darstellung der poetischen und poetologischen Umgestaltung der Wissensbestände in Faust II ist Absicht und Ziel der Untersuchung. Den Analysen zugrunde gelegt sind die »Klassische Walpurgisnacht« mit Schwerpunkt auf der Figur der Erichtho und des Chiron, der 3. und der Beginn des 4. Aktes sowie die »Rittersaalszene«, Akt 1. Schneider rechtfertigt seine Auswahl damit, dass für seine Untersuchung, mit der er den Nachweis zu bringen versucht, wie sich ausgewählte Wissensdiskurse in die Poetik des Textes eingeschrieben haben, nicht die »Thematisierung der Poetik« (S. 20) im Ganzen, »sondern nur die selbstreferentiellen Beobachtungen im Medium zeittypischer Wissensformen« (ebd.) relevant seien.

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Die exemplarischen Analysen konzentrieren sich auf vier Ebenen, auf denen die Wissensintegration und -transformation, also Schneiders »Archivpoetik«, erkennbar werden:

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1. das bewusste Zitieren und Kommentieren der Figuren,

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2. das unbewusste, d.h. nicht reflexive Zitieren und Kommentieren,

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3. das Wissen der Figuren um ihre Geschichte und ihre Herkunft im Vergleich zu ihren Aussagen und

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4. Kontexte der Archive, wie »Nebentexte, Schauplätze, Requisiten und Attribute, sowie metrische und musikdramatische Formen« (S. 70 f.).

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Zentral für Schneiders Interpretation ist der von Niklas Luhmann übernommene Begriff der »Beobachtung zweiter Ordnung« (S. 9 ff., passim), mit dem die selbst- und fremdreferentiellen Aussagen, das Reflektieren der Figuren über ihre Bedeutung, über ihr Wissen, dessen verschiedene Deutungsmöglichkeiten und dessen Rezeptionsbedingungen und ‑verschränkungen benannt werden, denn der »epochale Umbruch um 1800« (S. 24), zeige, dass »aus einem Wissen, das im wesentlichen beobachterunabhängige Repräsentation von Wirklichkeit war, ein beobachterabhängiges Wissen wird« (ebd.).

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»Der Dichter bringt sie wie er’s braucht zur Schau« –
Transformation der Archivbestände

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Nach den (zu) langen theoretischen Vorgaben wird der Leser jedoch mit textnahen Analysen belohnt, in denen es Schneider gelingt, die These und das Modell der »Archivpoetik« Goethes inhaltlich zu füllen. Leitbegriffe wie Historisierung, Relativierung (des Wissens), Kommentierung, Transformation und Poetisierung führen durch die Untersuchung einzelner Szenen in drei Hauptkapiteln. Kap. II, »Thessalien – Das Gedächtnis einer Landschaft« (S. 77–118), und Kap. IV, »Das Wissen der Geister« (S. 119–188), zeichnen Übernahme und Änderung von Prätexten nach und spüren Intertextualitätsmerkmale und -signale auf. Hier greift Schneider allerdings auf traditionelle Verfahren zurück. So arbeitet er intertextuell und vergleichend, wenn er z.B. in der Gegenüberstellung ausgewählter Passagen von Lucans Epos Pharsalia mit Goethes Schauplatz »Thessalien« in der »Klassischen Walpurgisnacht« (S. 79–107) Vorgaben und Änderungen der Referenztexte beschreibt. Ebenso widmet er sich ausführlich der Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse (ein Verfahren, das er noch in der Einleitung bei Gaier kritisiert, S. 3), indem er anhand prominenter Vertreter und Stellungnahmen die geologische und mythologische Debatte und die kunstästhetische »Querelle des Anciens et des Modernes« (S. 197–200) darstellt.

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Das kreative Verfahren im Umgang mit den »Wissensarchiven« wird in Schneiders Analysen besonders an der Figur der Erichtho (S. 80–88, 100–107), des Chiron (S. 174–177) und Fausts (in der »Beschwörungsszene« im 1. Akt) vorgestellt (S. 194 ff.). Schneider zeigt, dass diese »poetologischen Schlüsselfigur[en]« (S. 19) nicht nur über die neue Anordnung, Gewichtung und (zeitgenössische) Rezeption des Wissens (S. 107) kommunizieren und diskutieren, sondern in ihrem Handeln und Reden auch als Zeugen der »neue[n] Beobachterabhängigkeit der Wirklichkeit« (S. 144) fungieren und somit Goethes Textverfahren widerspiegeln (S. 195 ff.). Die im Zusammenhang mit kunsttheoretischen und ästhetischen Fragen um 1800 vorgenommene Analyse der »Beschwörungsszene« zeigt, wie sehr der Wissensfundus und die verschiedenen theoretischen Diskurse sich in Faust II nur noch als ein aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommenes Rezeptionsphänomen fassen lassen.

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»Bewundert viel …«

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Durch den scharfen Blick auf das kommunikative Handeln der Figuren gelingt es Schneider, Spuren des poetologischen Verfahrens Goethes in Faust II freizulegen. Die zum Teil minutiöse Aufbereitung von Kontexten und Quellen in ihrer Funktion als intertextuelles Material erlaubt Einblicke in die Änderungen, die Goethe an den Prätexten vornimmt und somit gleichzeitig deren unterschiedliche Rezeption und Relevanz im wissenschaftlichen Diskurs kommentiert. Einsichtig sind die Nachweise des reflexiven Umgangs der Figuren mit dem wissenschaftlichen und ästhetischen Theorieangebot, das (Natur-)Wissenschaft, Mythologie und Rezeptionsästhetik um 1800 ihnen bereitstellt, und das Aufdecken ihrer doppelten Funktion als Gegenstand der Dichtung und als Kommentatoren ihrer eigenen Geschichte und Überlieferung.

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»… und viel gescholten«

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Trotz der Perspektive auf die Modifikationen der Prätexte im Drama ist auch Schneiders Vorgehen über weite Strecken traditionell intertextuell. Wünschenswert wäre hier eine nähere Auseinandersetzung mit der Intertextualitätstheorie und -terminologie gewesen. 3 Denn es ist literarischer Intertextualität inhärent, dass sie Referenztexte nicht nur aufruft, sondern gleichzeitig durch Verwendung in anderem Ko- und Kontext verfremdet und ändert. Ebenso nützlich wären innerhalb von Schneiders vielfältigem Theorieangebot im ersten Kapitel 4 auch eine Diskussion über Methoden und Begriffe der Sprechakttheorie und Gesprächsanalyse gewesen, deren Kategorien für die Analyse der kommunikativen Ebenen hätten fruchtbar gemacht werden können.

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Die Lesbarkeit der Arbeit hätte durch eine gründliche stilistische Überarbeitung gewonnen. Störend sind nicht nur zahlreiche Wiederholungen (»Präsenz« ist eines der Lieblingswörter des Verfassers, das er inflationär verwendet), sondern auch ›Neologismen‹ wie z.B. »Exemplarizität« (S. 40), »Immanentisierung« (S. 202), »Innovativität« (S. 98), um nur einige Beispiele zu nennen, ein insgesamt von gesucht wissenschaftlicher Terminologie geprägter, sich immer wieder in kryptische, geschraubte Formulierungen verlierender Jargon sowie ein zum Teil zu selbstbewusster Umgang mit Ergebnissen und Erkenntnissen der Forschungsliteratur (vgl. z.B. S. 81, Anm. 18; S. 164, Anm. 143). Leider vermisst man auch ein Sach- und/oder Namensregister – eine Orientierungshilfe, die gerade in einer Untersuchung zu Faust II nicht fehlen sollte.

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Fazit

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Teilweise mangelnde Stringenz in der theoretischen Hinführung zur Textanalyse und leider auch eine wenig konzise Zusammenführung der Ergebnisse erschweren es dem Leser, Theorie und Argumentation nachvollziehbar verfolgen zu können. Davon ausgenommen sind jedoch die Textanalysen, die mit einem zwar nicht neuen, doch schärferen Blick das intertextuelle Verfahren Goethes nachzeichnen, das im Vergleich zum Roman (Wanderjahre) im Drama auf einer höheren Ebene stattfindet, weil es sich ausschließlich in die Rede der Figuren einschreibt. Angesichts der Ergebnisse der Analysen ist der Titel der Studie zu weit gefasst. Schneider bleibt den Nachweis schuldig, ob die von ihm beschriebene »Archivpoetik« als grundlegendes Verfahren in Faust II oder nur für die von ihm interpretierten Szenen gelten kann.

 
 

Anmerkungen

Schneider knüpft mit dieser These deutlich an einen Aufsatz von König an, auf den er in einer Fußnote verweist (S. 4, Anm. 10); Christoph König: Wissensvorstellungen in Goethes Faust II. In: Euphorion 93 (1999), S. 227–249 (bes. S. 246 ff.).    zurück
Vgl. zu Goethes Wanderjahren auch die neue Studie von Safia Azzouni: Kunst als praktische Wissenschaft. Goethes »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und die Hefte »Zur Morphologie«. Köln u.a.: Böhlau 2005, in der u.a. auch die Funktionen des zeitgenössischen Wissensarchivs und dessen Umsetzung innerhalb der Literatur analysiert werden. Vgl. dazu die Rezension von Ulrich Breuer: Gesammelte Form. Typus und Kollektiv in Goethes Wanderjahren. In: IASLonline (25.04.2006). URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Breuer3412177040_1392.html. Datum des Zugriffs: 10.08.2006.   zurück
An einigen wenigen Stellen bezieht sich Schneider auf Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/M. 1990. In der Darstellung der verschiedenen intertextuellen Bezüge wäre die Terminologie Gérard Genettes zur Strukturierung der Ebenen hilfreich gewesen.   zurück
Zum Teil werden theoretische Konzepte zwar genannt, aber nicht näher ausgeführt. So z.B. S. 5 der Hinweis auf die Relevanz der Diskursanalyse für literarische Texte, ohne dass die inzwischen zahlreichen neuen Arbeiten zur Diskurstheorie in Sprach- und Literaturwissenschaft diskutiert oder überhaupt nur genannt werden.   zurück