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Die Trauer des Erwachenden

  • Jakob Hessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns. Göttingen: Wallstein 2005. 293 S. Gebunden. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 3-89244-958-9.
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Einen bösen Traum beschreibt ein Gedicht von 1822, welches Heine als 64. Stück des Lyrischen Intermezzos in sein Buch der Lieder aufgenommen hat. Darin sieht sich der Träumende als Toter: »Mit starrem Hirn und Herzen / Lag ich im Grabesgrund.« 1 Doch da pocht es an den Sarg und das Ich vernimmt eine Stimme, die sich als die der einst untreuen Geliebten erweist: »Willst du nicht aufstehn, Heinrich? / Der ewge Tag bricht an, / Die Todten sind erstanden, / Die ewge Lust begann.« 2 Der Angesprochene muss die Aufforderung ablehnen, denn er kann nicht aufstehen. Er sei »durch Weinen« blind geworden und sein Herz und sein Kopf bluteten noch immer, das Herz von der Verwundung mit »einem spitzgen Wort« und der Kopf aus der Schusswunde, die sich »Heinrich« selbst aus Liebeskummer zugefügt hat. Die Geliebte spricht ihm aber »so sanft, so lieblich« zu, sie würde seine Wunden heilen und den Schmerz auslöschen, dass er sich schließlich zum Aufstehen aus dem Grab entschließt. »Da brachen auf die Wunden, / Da stürzt’ mit wilder Macht / Aus Kopf und Brust der Blutstrom, / Und sieh! – ich bin erwacht.« 3 Das geträumte Erlösungsversprechen kann der Traum nicht einlösen, in dem Moment, in dem der Tod aufgehoben werden sollte, erweist sich auch die Verwundung als unaufhebbar und dem Erwachenden bleibt nur ein »Blutstrom«, eine nicht zu stillende Trauer über die Unerlöstheit der Welt. Erstaunlich sind die christologischen Bilder, die der getaufte Jude Heinrich Heine hier verwendet. Für das Gedicht trifft zu, was Jakob Hessing über Heines Werk im Allgemeinen schreibt: »Der Messias ist sterblich geworden [...]« (S. 20).

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Eschatologie und Exil

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Das Gedicht könnte ohne weiteres das Motto für Hessings Lektüren zu den Motiven Traum und Tod bei Heinrich Heine abgeben. Jakob Hessing, der als Schriftsteller, Publizist und Professor für deutsche Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem tätig ist, fügt der gerade im Heine-Jahr 2006 ins Unermessliche anschwellenden Sekundärliteratur zu Heine ein Buch an, welches die »melancholische Tiefe« (S. 20) von Heines Werk auf außerordentlich inspirierende Weise durchmisst.

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Träume, Gespenster und wiederkehrende Tote sind in Heines Lyrik und Prosa von den frühen Traumbildern bis zu den späten Geständnissen sich beinahe obsessiv wiederholende Motive. Hessing geht es jedoch nicht um eine reine Motivgeschichte, denn »die Auferstehungen sind nur der Ausdruck einer unerfüllten Sehnsucht, und unser Verständnis des Werks bleibt in dem Motivpaar von Traum und Tod verankert: Immer versucht Heine eine Erlösung zu träumen, und immer muss er dabei scheitern – der Traum kann den Tod nicht überwinden« (S. 20). Jede religiöse und in zunehmender Weise auch moderne Eschatologie erscheint zweifelhaft und »in ein ironisches Licht« (S. 21) gerückt. Die Feststellung, dass dieser Vorgang die Produktivkraft von Heines Schreiben ausmacht, ist der Ausgangspunkt der zu besprechenden Untersuchung. Anhand einer knappen, doch angenehm zurückhaltenden Lektüre von Heines wohl bekanntestem Gedicht, der Loreley, zeigt Hessing in der Einleitung, wie »Heine im namenlosen Schiffer [...] ein Leben und Sterben im Exil gestaltet hat« (S. 14). Im Unterschied zu Odysseus, der nach langer Irrfahrt schließlich in seiner Heimat Ithaka landet, kennen wir bei Heines Schiffer »weder seine Herkunft noch sein Ziel – er kommt aus dem Nichts und fährt in das Nichts« (S. 14). »Diese ins Bild gefasste Exilsituation ist ein Knotenpunkt in Heines gespaltener Identität« (S. 14).

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Hessing liest den Topos des Exils »als Ausdruck einer Doppelexistenz« (S. 15). Die für Heine grundlegende Situation der Unbehaustheit fügt Hessing in einem ersten Teil (»Gelebter Text«) in den Rahmen der (deutschen) Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ein, die sich zwischen revolutionärer Utopie, deren Scheitern und konservativer Heimatsuche bewegt. Zweitens aber, und das ist der sicher interessantere und brisantere Teil, steht Heine als moderner deutscher Jude im Zentrum (»Moderner Jude«). Die Chiffre vom Exil verliert ihre universelle Applizierbarkeit und wird als Ausdruck einer spezifisch jüdischen Verfasstheit gedeutet. Heine »fühlt, dass die moderne Welt für die Juden zur Sackgasse zu werden droht« (S. 22). In den so genannten Hep-Hep-Unruhen kommt nach den napoleonischen Kriegen ein neuer, weniger religiös, als sozial und zunehmend national-rassistischer Antisemitismus zu einer ersten Entladung und die religiöse Konversion zum Christentum verliert an Bedeutung. »Den Optimismus der jüdischen Hegelianer« jedoch, die sich für knappe zwei Jahre von 1821–1823 um den Juristen Eduard Gans und den Historiker Leopold Zunz im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden sammeln und dieser neuen Bedrohungslage ein wissenschaftliches Konzept entgegenstellen, »kann er nicht teilen« (S. 22). Mit den Reisebildern schreibt Heine eine »Satire auf die Assimilation«, jenem historisch dramatisch misslungenen Versuch der Juden, eine Heimat als Europäer zu finden. Anfang der dreißiger Jahre meint Heine den »Weltgeist« in der säkularen Geschichte zu entdecken, doch angesichts der gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848 und des körperlichen Zusammenbruchs würde Heine sein Werk »schließlich in ein Bekenntnis zum Judentum münden« (S. 22) lassen. Erst in den »postum erschienen Memoiren schließlich geht er in seine lange verschwiegene jüdische Kindheit zurück und legt die Zwiespältigkeit einer Emanzipation bloß, der er immer das Wort geredet hatte« (S. 282). Endet hier, im Rückblick auf die Kindheit, das Exil?

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Dichtung als verborgene Autobiographie

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Da das Buch auch für eine hebräische Leserschaft konzipiert ist und gleichzeitig auf Deutsch und Hebräisch erscheint, beschränkt sich Hessing in seiner Analyse beinahe ausschließlich auf die Heinesche Prosa. Leserfreundlichkeit ist erfreulicherweise auch stilistisch und formal seine Devise; das Buch ist in einem für wissenschaftliche Literatur auffällig nüchternen Ton und in einfacher Syntax gehalten, Hinweise auf Forschungsliteratur sind sehr sparsam eingestreut. Hessing verweist öfters auf den Kommentar von Klaus Briegleb 4 , auf Brieglebs Buch Bei den Wassern Babels 5 und seltener auf den Kommentar der Düsseldorfer Ausgabe. Konsequenterweise wird denn auch auf ein Literaturverzeichnis verzichtet, was dem Buch den täuschenden Anschein von Enthobenheit aus der wissenschaftlichen Debatte verleiht. Dass Hessing aber sehr wohl um die literaturwissenschaftlichen Diskussionen weiß, zeigt seine Abgrenzung von einer naiv verfahrenden »biographisch orientierte[n] Heineforschung« (S. 48), die im Werk chiffrierte Gestalten aus dem Leben des Dichters sucht, und sein hermeneutischer Ansatz, der diese Bewegung umkehrt. Heine beschreibe nicht, »wie die Welt das Ich zerbricht, sondern er geht umgekehrt vor: An den Brüchen der Welt bildet er die Formen des Ichs aus« (S. 52). Das führt Hessing zu einer Entzifferung der Motive und Figuren in Heines Texte »als Spur einer inneren Lebensgeschichte« (S. 119), die im Text poetisch transformiert enthalten sei. »Hier geht es nicht um die Biographie, sondern um das Werk des Dichters« (S. 137). Trotzdem bilde die Autobiographie »das eigentliche Genre seiner Kunst« (S. 212).

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Mit großen Schritten eilt Hessing durch Heines Werk und stellt die Motive Traum und Tod und deren textuelle Verstrickungen, die ihm zufolge eine »Poetik des Scheiterns« darstellen, als kryptische Lebensgeschichte heraus. Nachdem in einem ersten Kapitel die »Aufspaltung des Ichs« (S. 43) als Signatur der literarischen Romantik gezeichnet wird, die jedoch noch einmal versucht – indem sie dem Text einen quasi heiligen Status zuschreibt – die Bodenlosigkeit der modernen Wahrnehmung aufzuheben, belegen Heines gebrochene Texte nun die endgültige Trostlosigkeit der Epoche. Hessing beginnt seinen Rundgang mit einem frühen Gedicht von 1821 (Schöne Wiege meiner Leiden), behandelt das Projekt der Reisebilder, das sich durch die ganzen zwanziger Jahre zieht und Heine frühen Ruhm und gewichtige Gegner verschafft, setzt die Spurensuche in den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski von 1834 und den Florentinischen Nächten von 1835 fort, wendet sich der 1837 als Gelegenheitsarbeit entstandenen Einleitung zum Don Quixote zu und leitet dann zur skandalösen Börne-Denkschrift und zu journalistischen Texten, die 1840–1843 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienen, über. Hessing liest die Texte überzeugend als Kontinuum einer fortschreitenden Desillusionierung. War für den Hellenen am Anfang der zwanziger Jahre der »Austritt in die Moderne« noch »ein Gesundungsprozess« (S. 91) der dem vergeistigten Nazarenertum anheim gefallenen Welt, so gestaltet sich diese Dialektik gegen Ende der dreißiger Jahre nicht mehr so einfach. Die Ironie, Heines prominentes Stilmittel, das ihm als Kampfmittel gegen ästhetische und politische Reaktion diente, wendet er schließlich gegen sie selbst:

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Immer ist Heine bemüht, hinter den Sündenfall zurückzugehen; und deshalb – das ist die tiefste Ironie dieser Ironie – denunziert er sein eigenes Stilmittel. Es sei, so sagt er, ein Teil der bösen Welt, aber man müsse sich seiner bedienen, weil die Rückkehr ins Paradies in Wirklichkeit nie stattfinden werde und weil der Verlust nur so, in der Ironie, erträglich sei. (S. 116)
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Diese Selbst-Ironie fehlt den linken Revolutionären. Börne sei ein verkappter Nazarener und seine Radikalität Ausdruck eines transformierten Philistertums. Der Traum von der Befreiung verkehrt sich in den Alb von Börnes »terroristischen Expektorationen« (zitiert nach Hessing, S. 119).

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Diese neue Dialektik funktioniert auch in die andere Richtung; »nicht im monotheistischen Gottesbegriff liegt das Unglück, sondern nur in seiner nazarenischen, unnatürlichen Vergeistigung« (S. 129). Mehrmals wurde in der Forschung festgestellt, dass Heine in seinem letzten Lebensjahrzehnt ein anderes Verhältnis zu seinem Judentum gewann. Wie jedoch dieses Verhältnis genau ausgesehen hat, darüber herrscht keine Einigkeit. Hessing stellt fest, dass Heine zu Gott zurückkehrt, »aber er tut dies nicht in blinder Unterwerfung« (S. 151), sondern erlaube »sich das Privileg des Hofnarren, der seinen Herrn straflos kritisieren darf« (S. 152).

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Kritische Anmerkung zur Lektüre
von Heines autobiographischen Texten

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Diese Positionierungen, ob nun mehr ironisch oder pathetisch gewichtet, gewinnt Hessing aus den autobiographischen Äußerungen Heines. Dementsprechend werden dann die literarischen Texte auf Indizien dieser hier angenommenen »Wende« abgesucht. Das ist erstens nicht neu 6 und beruht zweitens auf einer fehlenden theoretischen Reflexion, die in der Heine-Forschung schon Tradition hat. 7 Wenn angenommen wird, dass jeder literarische Text eine verborgene Autobiographie ist 8 und Hessing für die Reisebilder feststellt, dass sich »Fiktion und Autobiographie in einer kaum zu entwirrenden Mischung verbinden« (S. 99), dann muss ebenso gelten, was eine etwas avanciertere Autobiographie-Theorie schon lange festgestellt hat, dass auch der autobiographische Text »sich [...] zunächst als ein literarischer Text« 9 präsentiert. Und als solcher ist er genau so rhetorisch und typologisch strukturiert wie der primär literarische Text und muss auch als solcher gelesen werden. Das heißt nicht, dass Heines autobiographische Texte keine Authentizität beanspruchen können. Heine selbst schreibt zwar in den Geständnissen, dass »mit dem besten Willen der Treuherzigkeit« 10 kein Mensch über sich selbst die Wahrheit sagen kann. Trotzdem muss mit Lejeune festgehalten werden, »dass das letzte Element der Wahrheit [...] nicht mehr das Ansichsein der Vergangenheit sein kann (falls es so etwas überhaupt gibt), sondern das im Präsens der Äußerung manifestierte Fürsichsein. Falls der Erzähler in seinem Umgang mit der [...] Geschichte seines Protagonisten lügt, sich täuscht, Dinge vergisst oder verzerrt – so werden diese Lügen, Irrtümer, Auslassungen oder Verzerrungen einfach zu weiteren Aspekten einer Äußerung, die als solche authentisch bleibt.« 11

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Eine Bestimmung der Beziehung Heines zu seinem längst abgestreiften und nun wieder erinnerten Judentum kann sehr wohl von dessen autobiographischen Texten ausgehen, müsste sich aber zuerst des unsicheren Status dieser Texte gewahr werden. Die erst von den Herausgebern so betitelten Memoiren zum Beispiel, die ja gar keinen in sich geschlossenen Text bilden, sondern ein von Heine – ähnlich den nachgelassenen Texten Kafkas –nicht autorisiertes Fragment, könnten dann endlich mit literaturwissenschaftlichen Mitteln 12 darauf hin gelesen werden, wie dieser Text Elemente des Jüdischen zur Sprache bringt. Eine solche Untersuchung würde vielleicht an den Tag bringen, dass es in diesen so genannten Memoiren weniger um das Erinnerte an sich, sondern viel mehr um die Frage geht, wie das Memorieren literarisch organisiert ist.

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Der Rabbi von Bacherach

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Diese Einwände entwerten freilich nicht Hessings Beobachtungen an den Texten. Wo er länger bei einem einzelnen Text verweilt, wie im vorletzten Kapitel beim Fragment gebliebenen Roman Der Rabbi von Bacherach, zeigt sich die Stärke dieser »jüdischen Lektüre«, die vor allem darin besteht, dass sie der Autor »nicht zur Eindeutigkeit gerinnen« lässt. (S. 151) Für Hessing versucht Heine im Rabbi »die Urgeschichte des Judentums noch einmal unter den Bedingungen der Moderne zu rekonstruieren; und dieser Versuch, so wird man urteilen müssen, ist gescheitert« (S. 227). Einerseits scheitere der Dichter an der Darstellung selbst, für Hessing ist der Rabbi nicht Heines bestes Stück Literatur, andererseits könne daraus eine Poetik des Scheiterns gewonnen werden, die als Poetik des modernen Galut-Judentums lesbar wird. Der Rabbiner Abraham aus Bacherach, eine späte Verkörperung des biblischen Stammvaters, kann sich zwar retten, doch lässt er seine Gemeinde im Augenblick der höchsten Not im Stich. Damit deutet Hessing »den Text [...] als eine historisch verschobene Abrechnung mit der jüdischen Elite seiner Zeit«, die »in der Krise ihrer Aufgabe untreu geworden ist« (S. 235). Doch »die Abrechnung kann freilich nicht an ihr Ende kommen, weil der getaufte Dichter sich selbst zu dieser gescheiterten Elite zählen muss« (S. 235). Als Gegenfigur zu Abraham erscheint dessen Ehefrau Sara, aus deren Perspektive Heine auffallend oft erzählt. Auf der Flucht im ersten Kapitel wie später im zweiten Kapitel in der Frankfurter Synagoge, schläft Sara ein, beziehungsweise sinkt in Ohnmacht. Beim Aufwachen aus ihren Träumen bleibt ihr »nur noch eine tiefe Trauer« (S. 236) über den Tod ihrer Verwandten. Sie scheint die einzige zu sein, die das Gespenstische der jüdischen Situation begreift, auch in der Synagoge ist es nur sie, die das Kaddisch des Rabbiners hören kann, doch »die Erfahrung des Leids bleibt in ihrem Innern verschlossen« (S. 254).

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Fazit mit Shylock

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In einem Text, der eigentlich Shakespeares Mädchen und Frauen (1839) gewidmet ist, sucht der Erzähler bewusst die Konfrontation mit einer Figur jüdischen Leidens. Heine beschreibt seinen eigenen Besuch in Venedig, bei dem er sich prompt – am Jom Kipur – auf die Suche nach Shylock macht. Zuerst kann er ihn nirgends sehen, aber:

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gegen Abend, wo, nach dem Glauben der Juden, die Pforten des Himmels geschlossen werden und kein Gebet mehr Einlass erhält, hörte ich eine Stimme, worin Tränen rieselten, wie sie nie mit den Augen geweint werden ... Es war ein Schluchzen, das einen Stein in Mitleid zu rühren vermochte ... es waren Schmerzenslaute, wie sie nur aus einer Brust kommen konnten, die all das Martyrtum, welches ein ganzes gequältes Volk seit achtzehn Jahrhunderten ertragen hat, in sich verschlossen hielt ... Es war das Röcheln einer Seele, welche todmüde niedersinkt vor den Himmelspforten ... Und diese Stimme schien mir wohlbekannt, und mir war, als hätte ich sie einst gehört, wie sie ebenso verzweiflungsvoll jammerte: ›Jessika, mein Kind!‹ (zitiert nach Hessing, S. 277)
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Wie im Rabbi geht hier Heine auf einen Ewigen Juden zurück, »der nicht sterben kann und weinend vor den Himmelspforten niedersinkt, die ihm keinen Einlass gewähren« (S. 277). Schon für Briegleb markiert dieser Text eine Schwelle; hier würde sich der Schmerz des von seinem Gott nicht mehr gehörten orthodoxen Juden mit dem eigenen Abfall von der Gemeinschaft der Väter durchkreuzen. 13 Für Hessing stellt Heine der Satire der Reisebilder nun die von Shakespeare als Komödie entworfene »Tragödie Shylocks entgegen« (S. 274) und allegorisiert in der Shylock-Figur seine Zweifel am Kulturprojekt der Emanzipation.

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Die Begegnung mit Juden und mit jüdischer Tradition gestaltet Heine aber, wie Hessing richtig zeigt, in seinen Texten erst nach 1848 ganz offen. Hessing liest diese Begegnungen größtenteils als Identifizierungen, Heine würde seine »Maske« fallen lassen (S. 280) und sich »der Sehnsucht nach einem persönlichen Gott mit allen Attributen der Überlieferung« (S. 284) anheim geben. Doch diese Sehnsucht als »Bekenntnis zum Judentum« (S. 22) zu deuten, scheint mir nicht schlüssig. Vielmehr ist sie möglicherweise Heines letzte Maske, zwar eine alles andere als willkürliche, aber die letzte Verkleidung, die diese Texte aufbieten um sich selbst rhetorisch als Texte von Jenseits des Grabes auszuweisen. Der zum Text-Gespenst gewordene Autor Heine 14 kann wie sein Shylock am Versöhnungstag keine Versöhnung erfahren; zurück bleibt die Trauer.

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Auch das Fazit des Rezensenten ist gespalten. Zwar liegt mit dieser Publikation eine hervorragend und brilliant geschriebene Einführung in das Werk Heines vor, die Motive Traum und Tod erweisen sich als höchst tragfähig für eine Lektüre des gesamten Œvres. Der doppelte Durchgang ist mit dessen Einbettung in die deutsche Literaturgeschichte einerseits und in die deutsch-jüdische Sozial- und Geistesgeschichte andererseits überzeugend angelegt. Doch bleiben Zweifel hinsichtlich der theoretischen Erfassung des Autobiographischen und damit verbunden auch an der Konsequenz von Hessings Lektüren. Nicht einen endlich zum Glauben erwachten Heine haben wir meines Erachtens in seinen letzten Äußerungen zum Judentum vor Augen, sondern einen, der noch die Verzweiflung des Erwachens als Maske benutzt.



Anmerkungen

Heinrich Heine: Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 1975 ff., Bd. I/1, S.199, (= »Düsseldorfer Heine Ausgabe«, im Folgenden zitiert als DHA mit Band- und Seitenangabe).   zurück
Ebd, S. 201.   zurück
Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in sieben Bänden. Hg. von Klaus Briegleb. München: Hanser 1968 ff.   zurück
Klaus Briegleb: Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne. München: Hanser 1997.   zurück
Vgl. nur drei Titel, denen man noch weitere anfügen könnte: Ludwig Rosenthal: Heinrich Heine als Jude. Frankfurt/M.: Ullstein 1973. Hartmut Kircher: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn: Bouvier 1973. Ruth Lisband Jacobi: Heinrich Heines jüdisches Erbe. Bonn: Bouvier 1978.   zurück
Text-Blindheit und Theorie-Vergessenheit charakterisieren die Suche nach dem, was Heines Judentum genannt wird. Als jüngeres und besonders ratloses Beispiel sei genannt: Anne Maximiliane Jäger: »Ich bin jetzt nur ein armer todkranker Jude...« – Zu Heines Judentum. In: Joseph A. Kruse (Hg.): Heine-Jahrbuch 2005. Stuttgart / Weimar: Metzler 2005, S. 67–80.   zurück
Vgl. auch Paul Peters: Vorwort. Herodias und Lorelei. Heines Judentum als offenbares Geheimnis. In: Heinrich Heine: Prinzessin Sabbat. Über Juden und Judentum. Hg. und eingeleitet von Paul Peters. Bodenheim: Philo 1997, S. 7–28, hier S. 15.   zurück
Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (1975), S. 7. Eine theoretisch reflektierte Lektüre müsste auch Paul de Mans epochemachenden Text Autobiographie als Maskenspiel berücksichtigen, der die Autobiographie nicht als Gattung oder Textsorte begreift, sondern als »Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt«: »Wenn wir aus diesem Grund behaupten wollen, alle Texte seien autobiographisch, dann müssen wir aufgrund desselben Merkmals auch sagen, kein Text sei autobiographisch.« Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: P. d. M.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. von Christoph Menke. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 131–146, hier S. 134.   zurück
10 
DHA 15, 13 (Anm. 1).   zurück
11 
Philipe Lejeune (Anm. 9), S. 44.   zurück
12 
Paul de Man weist bekanntlich die Figur der Prosopopöie als »Trope der Autobiographie« aus. Seine Formulierungen in Bezug auf Wordsworth erscheinen wie auf Heine gemünzt: »Bei unserem Thema, der Autobiographie, geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration.« Paul de Man (Anm. 9), S. 140. Die Prosopopöie als »Fiktion der Stimme-von-jenseits-des-Grabes« (Paul de Man, S. 141) beschreibt genau Heines Figur des zurückkehrenden Toten.   zurück
13 
Klaus Briegleb, Bei den Wassern (Anm. 5), S. 90–95.   zurück
14 
Vgl. Olaf Briese: Exil auf Erden. Facetten einer Zumutung in Heines Spätwerk. In: Joseph A. Kruse (Hg.): Heine-Jahrbuch 2003. Stuttgart / Weimar: Metzler 2003, S.14–36. »Der Autor selbst ist ein unsterblicher, dem Text der Weltgeschichte unauslöschlich eingeschriebener Nachfahre ihrer religiösen, mythischen und poetischen Schöpfungen. Sein Weltverlust läutert sich zu Textlust. Sein Leben ist Zitat, Chiffre und Hyeroglyphe, ist Nachvollzug und Fortschritt vorgefundenen textuellen Materials.« (S. 33).   zurück