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Plädoyer für ein kontextrelatives Kunstverständnis

Tasos Zembylas will mit einem praxisorientierten Kunstbegriff die Ästhetik über Bord werfen. Er hat sich etwas überhoben.

  • Tasos Zembylas: Kulturbetriebslehre. Grundlagen einer Inter-Disziplin. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 373 S. 7 Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-531-14314-X.
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Ästhetischer Theorie eine Absage zu erteilen, ist ein gewagtes Unterfangen. Man überwirft sich allzu leicht mit Kollegen der eigenen Zunft. Erst recht, wenn Argumentationen für den Leser nicht zufriedenstellend verlaufen. Das ist in Tasos Zembylas’ Werk Kulturbetriebslehre. Grundlagen einer Inter-Disziplin teilweise der Fall, nämlich dort, wo es um begriffsgeschichtliche Zusammenhänge und methodologische Zugänge geht. Nichtsdestotrotz gibt der Autor dem Kunstbegriff mit einer praxistauglichen Definition einen zeitgemäßen Schliff. Denn die Kulturbetriebslehre, definiert als Disziplin, deren Grundlagen der Philosoph am Institut für Kulturmanagement und Kulturwissenschaft (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien im Sinne eben dieses Instituts zusammengefasst hat, verspricht eine Synthese kultursoziologischer und kulturökonomischer Ansätze für die Erklärung jener Aspekte rund um das Kulturgut, die für seine Konstitution und Vermarktung wesentlich sind. Eine Handlungstheorie soll die Synthese meistern. Kulturbetriebslehre wird von den Vertretern des IKM verstanden als »institutioneller Rahmen«, in dem sich kulturelle Praktiken und Diskurse entfalten, und umfasst Produktion, Distribution, Vermittlung, Rezeption, Konservierung, Erhaltung. Die Kulturbetriebslehre ist aus der Kulturmanagementlehre entstanden, das IKM hat letztere um Einsichten der Cultural Studies und der Kulturtheorie bereichert.

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Zembylas’ Werk ist eine ausführliche Kompilation der interdisziplinären Einflussfaktoren in drei Teilen, wobei es jedoch nicht um Anlehnung an Kulturmanagement als Betriebswirtschaftslehre geht: Im ersten Teil referiert der Autor Kulturbegriffe, wie sie in der Grundlagenforschung verwendet werden. Gerade die Rezeption von Fragestellungen aus der Grundlagenforschung bildet aber einen Schwachpunkt der Studie. Zembylas richtet sein Augenmerk nämlich auf eine wenig fundierte Kritik am von ihm lapidar bezeichneten »Text-Paradigma« (damit meint er strukturalistische und poststrukturalistische Theorien). Im zweiten Teil übt er Kritik an kunstphilosophischen Zugängen zum Kunstbegriff. Hier bleiben begriffsgeschichtliche Fragen offen. Es wird auch nicht ersichtlich, wie die historische Anbindung der Grundlagenproblematik des ersten Teils an die Fragestellungen des zweiten Teils gewährleistet wird, was für die Begründung einer heuristischen Zugangsweise zum Untersuchungsgegenstand − bei Zembylas ist das eine handlungstheoretische Zugangsweise, die sich interpretativer, genauer: hermeneutischer Mittel bedient − aber notwendig wäre. So findet beispielsweise die Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion keine Erwähnung. Sie ist allerdings für Zembylas’ Werk relevant, gilt es doch, ein hermeneutisch-interpretatives Verfahren zugunsten der Handlungstheorie gegen ein dekonstruktives zulasten der »Text-Metapher« zu verteidigen.

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Der zweite Teil integriert auch ein Kapitel über Kunst als evaluatives Konzept. Hier wird der Künstler als Kenner, als Fachmann vorgestellt, und Zembylas macht Anleihen bei Michael Polanyis Theorie des impliziten Wissens in den 50er Jahren, ohne sich Rechenschaft über neuere Aspekte der Erforschung impliziter Informationsverarbeitung zu geben oder gar spartenbezogen zu überlegen, ob der Begriff »implizites Wissen« heute standhalten kann. Das bekommt dem Buch nicht unbedingt gut, aber das Thema »implizites Wissen« sei an dieser Stelle beiseite gelassen, denn der Einwand beeinträchtigt Zembylas’ Hauptanliegen nicht (und in erkenntnistheoretischer, kognitionswissenschaftlicher Hinsicht bedarf es hier einer eigenen Untersuchung).

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Die Stärken des Buches liegen im siebenten Kapitel über Kunstkonflikte. Der Autor bespricht spannende Fragestellungen, so u.a. hermeneutische Probleme bei der Analyse von Kunstkonflikten, die Sozialität von Qualitätsurteilen, das Problem der staatlichen Kontrolle. Der Autor schlägt einen schönen Bogen zum dritten Teil. In diesem wird die Methodologie der »Kulturbetriebslehre« als handlungstheoretische begründet, behandelt wird Handlungsrationalität, nicht zuletzt ökonomische, so dass der Bogen zur Lehre vom Kulturmanagement wiederum schön zurück geschlagen wird.

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Die interdisziplinären Zusammenhänge treten im Buch deutlich und verständlich hervor, und deswegen ist es durchaus lesenswert − vergisst man nicht den Hinweis, dass der Autor die tiefere Auseinandersetzung mit dem (Post-)Strukturalismus und wichtigen historischen Marksteinen ästhetischer Theorien gescheut hat. An einigen Stellen erhärtet sich nämlich der Eindruck, solche Theorien werden, wo sie tauglich für die eigene Arbeit sind, auf sie zu- bzw. abgeschnitten. Der Strukturalismus etwa passt nicht unter die Decke der Kulturbetriebslehre, glaubt der Autor. Strukturalistische Ansätze seien ungeeignet, die institutionellen Bezüge zu erhellen. Argumente von Kontrahenten nennt er jedoch nicht, vieles bleibt unausgegoren und thetisch, manches ist schlichtweg falsch.

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Auseinandersetzung mit ästhetischer Theorie

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Zembylas versucht − das ist ein richtiger Ansatz, den auch heute, wo sich der erweiterte Kulturbegriff durchgesetzt hat, viele vertreten − den metaphysischen Ballast abzuwerfen, der Mitte des 20. Jahrhunderts noch in einigen philosophischen Theorien rehabilitiert wurde, wo das Augenmerk lediglich auf Kunst, nicht aber Kultur allgemein gelegt wurde. Man erinnere an die Wiederkehr des Kantischen »Erhabenen« oder an die Rede von »ästhetischer Wahrnehmung« als ontologisches Konstrukt (der Autor beschäftigt sich in seinem Kapitel über ästhetische Wahrnehmung mit keinem einzigen der ästhetischen Standardwerke des 20. Jahrhunderts, die »ästhetische Erfahrung« prominent behandeln).

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Zembylas mag man bald als oberflächlichen Leser wahrnehmen: Während es längst ein gängiger Zug ist, auf die Begrifflichkeit »ästhetische Wahrnehmung« als erkenntnistheoretisches Konstrukt zu verzichten, verzichtet er aber auf Begriffsschärfe, wo er sich mit Argumenten seiner Kontrahenten nicht befasst, die er alle über einen Kamm schert. Theorien des Undarstellbaren kritisiert er als aus der Romantik abgeleitete (die Quelle Habermas bleibt unbenannt, folglich auch die Moderne / Postmoderne-Debatte), und er hält Kunsttheorien, die sich mit Abweichung und Subversion beschäftigen, für selbstbezogen. Autoren wie Jean-François Lyotard, Wolfgang Welsch oder Theodor W. Adorno würden subversive Kraft einzig aus der Kunst als »epistemischen Ausnahmezustand« beziehen wollen. Auch hier referiert Zembylas nicht auf die Argumente der Philosophen. Dass er gerade diese drei Philosophen anführt, ist jedoch verwunderlich, denn sie beziehen die subversive Kraft der Kunst nicht einfach aus Kunstwerken als rein autonom abgekapselte Einheiten im epistemischen Sinne Kants. Das sind eher Zembylas’ begriffliche Gespenster, gegen die er kämpft. Kunst sei nicht autopoietisch (Anm: ich gehe davon aus, dass Zembylas Autopoiesis meint, er selbst schreibt allerdings »autopoetisch«); der Autor wittert eine hermetische Abriegelung des Kunst-Diskurses gegen andere Diskurse, die derartig plakativ auch in der Systemtheorie doch gar nicht stattfindet, geschweige denn in den Kunstwissenschaften. Wo Zembylas sich gegen Autopoiesis abschirmt, fehlt wieder der Bezug auf den Kontrahenten. Er schreibt, er möchte die Unterscheidung »kunstintern« und »kunstextern« aufheben − dann bedarf es aber unbedingt wenigstens einer knappen Auseinandersetzung mit jenen Begriffen und historischen Kategorien, welche die Grenze zwischen dem Kunstsystem und anderen Systemen umfassend behandelt haben: Die Autonomie der Kunst auf der historischen Seite und ihre methodologische Behandlung auf der systemtheoretischen. Zembylas denkt nicht daran, seine Gedankengänge begriffsgeschichtlichen Entwicklungen und Gegenargumenten auszusetzen. Für den Anfänger, den jungen Studenten, bleibt das Buch eine Verteidigungsgeste gegen Unbekannt, bleibt thetisch.

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Am Beispiel Lyotard, der mit dem nicht passenden Etikett »Poststrukturalist« versehen wird, wird die »Absage an die Ästhetik« nachgezeichnet: Bei Lytoard spielt (Avantgarde-)Kunst auf Erhabenes als Nichtdarstellbares an. Das ist aber schon alles, was er von Kant übernimmt. Einen von Kant postulierten Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Urteils der Kunstbetrachter gibt es bei Lyotard nicht, er wehrt sich gegen Allgemeingültigkeit, und damit entgeht er auch dem Metaphysik-Vorwurf, denn dieser Aspekt der Kantischen Theorie ist erkenntnistheoretisch problematisch. Genauigkeit jedoch ist Zembylas' Sache nicht. Seiner eigenen Theorie kommt der Aspekt der Allgemeingültigkeit eher zupass: Aufgrund der Tatsache, dass, um das Fällen von Urteilen zu ermöglichen, soziale Hintergrundpraktiken erworben werden mussten, versucht er die Erfahrung des Erhabenen lediglich als transzendental (im negativen Sinne von orientierungslos) darzustellen, statt die epistemologische Komponente ins Auge zu fassen. So referiert Zembylas immer wieder auf das alte und selbstverständliche Argument von Sprache als kollektivem Gut und – unterschwellig – als gelingender Verständigung (im anderen Fall wäre nicht klar, wieso er sich gerade gegen Lyotard wendet).

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Als epistemologische Komponente kann man das »qualitative« Erleben, die subjektive, non-sprachliche Erfahrungskomponente eines jeden Wahrnehmungsvorgangs gegen Zembylas anführen, wo es um das Erhabene bei Lyotard geht: Eine Rotwahrnehmung ist ungeteilt subjektiv. Das Erhabene bei Kant besitzt keinen ontologischen Status, sondern einen begrifflichen und bezieht sich auf ausgesprochen überwältigende und ungleich komplexere Naturerlebnisse, die nicht einfach sinnlich erfasst werden, sondern ganzheitlich, und gleichsam abstrahiert werden und natürlich sprachlich nicht optimal vermittelbar sind. Lyotard wiederum hat eine Synthese der Bestimmung des Ästhetischen und des Erhabenen bei Kant vorgenommen. »Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt«, schrieb Kant in der Kritik der Urteilskraft und bezog sich ausschließlich auf Naturschönes.

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Die Tatsache, dass Lyotard sich auf schöne Kunst bezieht und dabei auf abstrakte Avantgarde-Kunst, die eben wie gegen das »Interesse der Sinne« gefällt – wobei es der Zustand des Desinteresses ist, der heute psychologisch angezweifelt werden könnte, nicht aber das Faktum, dass auf Undarstellbares verwiesen wird –, zeigt: Es muss, gerade in der Kunst, von einem subjektiven Erlebniszustand ausgegangen werden. Unterschiedliche Lesarten verweisen auf unterschiedliche Rezeptionsvorgänge. Dass nur eine Sprechergemeinschaft mit geteiltem Hintergrundwissen die Disposition besitzt, solche Kunst zu erleben, widerspricht dem nicht. Und auch Zembylas’ Behauptung, das Ready-Made würde das Konzept der ästhetischen Wahrnehmung unterlaufen, widerspricht dem nicht und kann zudem in Frage gestellt werden, weil sie von der jeweiligen Theorie über ästhetische Wahrnehmung abhängt, mit der einer argumentiert, und weil diejenige Eigenschaft eines Objekts, die neben »Erhabenheit« als Sinnbild des Ästhetischen gilt, nämlich die Aura, bekanntermaßen auch dem Ready-Made im Museum anhaftet.

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Zembylas’ Argumentation gegen Lyotard und Kant wird dann überflüssig. Es mag einem der Verdacht kommen, sie wird überhaupt nur angebracht, weil Kant zuerst die Subjektivität ansetzt, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erst hegt. Zembylas würde wohl eher sagen: Ein Urteil ist immer schon kollektiv geteilt und in diesem Sinne zuerst allgemeingültig. Er müsste dann aber vom erfüllten Anspruch an Allgemeingütigkeit ausgehen, immer von der Möglichkeit des Konsens, er scheint unbewusst »geteilte Hintergrundpraxis« und »Konsens« zu vermischen (anderenfalls ist nicht klar, weshalb er sich etwa gegen Lyotard wendet). Die Notwendigkeit des zweiten »immer« bleibt verborgen. Zembylas’ Begriff der Kunst gemahnt eher an den der Mode, die auf einen allgemeingültigen Code setzt. Es fehlt die klare begriffsscharfe Differenzierung, die in der Kunstgeschichte doch so oft vorgeführt wurde, am deutlichsten vielleicht von den Systemtheoretikern beziehungsweise fehlt die Auseinandersetzung mit der Diskussion um sie.

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»Praxistauglichkeit«

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Zembylas schreibt von einer »praxeologischen« als kultureller Gemeinschaft. Man gewinnt den Eindruck, der Begriffsstamm »Praxis« muss gegen Kunst abgeschirmt werden, die sich als eigentümliche gibt (hier fällt Bourdieus Kritik an symbolistischer Dichtung ein), mehr noch, gegen einen Autonomie-Anspruch der Kunst herhalten oder noch mehr: gegen Ästhetisieren als Theoretisieren generell. Zembylas’ Ansicht nämlich, Kunst sei nicht autonom, wird nicht durch Auseinandersetzung mit dem Begriff, und das heißt in seiner dialektischen Bedeutung, begründet. Falls mit »Praxeologie« auf »Praxis« angespielt werden soll, und dieser Eindruck drängt sich auf, mag das jedenfalls bedeuten: Kunstproduktion soll ästhetisch im Einklang mit den Theorien der Cultural Studies erfolgen und integrierbar in eine Kulturbetriebslehre sein. Der Entstehungskontext eines Werks soll nicht unterbewertet werden. Aber allen Ernstes: Wer unterbewertet schon den Entstehungskontext in der Kunstkritik? Der Kunstkritiker eines Werkes setzt sich in der Regel mit dem Künstler und den Entstehungsbedingungen des Werkes auseinander, der Ausstellungskritiker mit dem institutionellen Kontext der Ausstellung, etc.

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Zembylas Absicht könnte es allerdings sein, das Primat auf institutionelle Herstellungsfaktoren zu legen, diese also stärker als üblich zu gewichten. So lässt sich die Absicht der Vertreter der Kulturbetriebslehre benennen. Zembylas affirmiert die Öffnung des Kunstbegriffs gegenüber der Soziologie sehr stark. Der Status der Ästhetik soll maximal marginalisiert werden, der Philosoph schreibt von der Aufhebung kunstinterner und kunstexterner Grenzen. Das Problem ist, dass er ästhetische Theorie nicht als einen Kontextfaktor thematisiert, sondern ausschließlich als unterschwellige »antagonistische« Disziplin, mit der die Soziologie und die Kulturbetriebslehre um den Gegenstand Kunst (gemeint ist hier nicht: Kultur im weitesten Sinne) zu konkurrieren scheinen, wie Zembylas suggeriert. Ästhetische Theorie selbst ist ein gewichtiger Kontextfaktor der Kunstproduktion.

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Das bedeutet aber wiederum nicht, dass soziologische Werke wie Bourdieus Die Regeln der Kunst in Funktion und Gehalt weniger wichtig wären. Auf Bourdieu bezieht sich Zembylas so gut wie nicht, was verwunderlich ist, denn Zembylas verdankt Bourdieu viel. Zembylas’ Theorie unterscheidet sich von der Bourdieuschen allerdings insofern, als Bourdieu Poetik / Ästhetik gerade nicht auszuschließen sucht, sondern kritisch von ihr ausgeht, zumal sein Untersuchungsgegenstand nicht Kunst / Kultur allgemein ist, sondern exemplarisch die Avantgardekunst um 1900 (wiewohl auch in Boudieus Auseinandersetzung mit der Autonomie der Kunst als Institution die Dialektik, die dem Begriffs ja inhärent ist, nicht zur Sprache kommt). Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Bourdieu die Autonomie der Institution Kunst nicht leugnet. Sein Werk Die Regeln der Kunst geriert sich geradezu offen gegenüber systemtheoretischen Ansätzen.

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Im Grunde haben wir es mit der Frage zu tun, aus welcher Perspektive Disziplinen wie Ästhetik betrachtet werden oder betrachtet werden sollen. Als LeserIn gewinnt man den Eindruck, Kunsttheorie, wie sie bei Zembylas dargestellt wird, trachte, sich als gigantisches, arrogantes, geschlossenes System darzustellen. Der Autor affirmiert also die kultursoziologische Sprengung der kunsttheoretischen Grenzen. Im anderen Fall könnte die »Kulturbetriebslehre« auch nicht als Sammelbecken für alle mit dem Untersuchungsgegenstand befassten Disziplinen herhalten, die damit zu Subdisziplinen werden (sollen).

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Kontextrelativität

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Das Zauberwort, das die Offenheit der Grenzen gewährleisten soll, lautet – so Zembylas recht hat – kontextrelative Begriffsanwendung. Natürlich kann ein Kunstwerk oder ein Kulturgut ausschließlich relativ zu den Aspekten des Kontexts, seinen Produktionsmöglichkeiten und -dispositionen bestimmt werden. Die Faktoren sind eben die unterschiedlicher institutioneller Sphären: Herstellungsbedingungen und Rezeptionsgewohnheiten (Ökonomie), soziale Stellung und Ausbildung des Künstlers (Soziologie), Kulturförderungssystem (Politik) etc. Aber es kommt doch auf die Größe, auf die Relevanz des Kontextaspekts als Maßstab an. Dass die Gewichtung der Kontextaspekte, je nach Kunstwerk, das eigentlich wichtige ist, übersieht Zembylas. Kunsttheorie als enorm wichtigen Kontext der Kunst zu betrachten, ist das so schlimm? Dieser Kontext ist so groß, dass er eine eigene Institution bildet. Und da will Zembylas Abweichung und Subversivität (historische Konstrukte) als marginale Faktoren dieser Disziplin betrachten. Aber die Kunsttheorie selbst entsteht ja erst durch Auseinandersetzung mit dem nicht-ästhetischen Diskurs. Es muss auch so sein, wenn der von einem Philosophen gewählte Untersuchungsgegenstand »Avantgarde«-Kunst ist. Vielleicht haben wir es hier einfach nur mit einem Konkurrenzkampf der Disziplinen zu tun. Jedenfalls gelingt es dem Wiener Philosophen nicht, seine Vorwürfe gegen die ästhetische Disziplin überzeugend vorzubringen.

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Die Berücksichtigung des Kontexts zeigt eines sehr deutlich, was Zembylas herausstellt: Kunst ist unter Vorzeichen einer nicht notwendig nutzenorientierten Ökonomie zu betrachten, weil die Kontexte der Betrachtung des Menschen als homo oeconomicus und als Teilhaber an kulturellen Praxen sich nicht notwendig überschneiden: Regelkonformes Verhalten muss nicht ökonomisch-rational sein. Seine hier geglückte Montage handlungstheoretischer und kulturökonomischer Aspekte mündet im Verweis auf die Kontingenz der Übereinstimmung von Tauschwert und kulturellem Wert, der im Kulturmanagement gängigen und glücklicherweise auch schon standardisierten Kritik am Modell des homo oeconomicus.

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Auseinandersetzung mit dem (Post-)Strukturalismus

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Für Zembylas folgt im Zuge der Öffnung anders als für die Cultural Studies nicht die Hinwendung zum Strukturalismus. Strukturalisten beziehen den Kontext eines Werks als textuelle Vielstimmigkeit, als herrschende Diskursordnung mit ein. Hier werde das Kunstwerk zwar schon offen, könne aber nur einseitig wirken, da nicht alle Bezüge des Textes wiederum auf Texte gerichtet seien. Dass Poststrukturalisten alle Kunstwerke als (Wort-)Text verstehen wollen, wie Zembylas an mehreren Stellen glaubhaft machen will, ist freilich unrichtig (und naiv), ein Missverständnis dessen, was im übertragenen Sinne mit »Text« gemeint ist. Und dass der − ja auf der Semiotik aufbauende − Strukturalismus nur auf synchroner Ebene agiere (also nicht diachron), ist so falsch wie die Behauptung, dass er den Kontext nur als Simulakrum behandele und unbewusste Prozesse außer Acht lasse.

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Historische Einordnung problematisch

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Der Wiener Philosoph hält es trotz der Abspaltung des Strukturalismus selbst zwar auch mit der Sprachphilosophie, nämlich mit dem späten Wittgenstein: »Kultur ist deshalb etwas öffentliches, weil Bedeutung etwas öffentliches ist«, Kunstpraxis würde ausschließlich auf geteilten Lebensformen und Sprachspielen beruhen. Mit der Ablehnung des (Post-)Strukturalismus folgert er jedoch, dessen Vertreter würden die entgegengesetzte Position in bezug auf Wittgenstein einnehmen. Nicht-diskursive Hintergrundpraktiken würden ignoriert, behauptet Zembylas, und begründet diese These in keiner Weise. Gerade die Semiotik und die Dekonstruktion sind abhängig von Kontextaspekten und beziehen sich auf sie.

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Nun stellt sich allerdings auch eine andere Frage: Wie lässt sich die Theorie zwischen Cultural Studies und Wittgenstein dann philosophiegeschichtlich einordnen? Niemand geringerer als Lyotard selbst war es, der sich in Der Widerstreit ebenso auf Wittgenstein bezog und der sein Werk Wittgenstein widmete. Keine Erwähnung, keine Auseinandersetzung mit dem Werk im Text von Zembylas, obwohl es im Literaturverzeichnis aufscheint. Während er mit dem Sprachspiel geltend macht, alles kulturelle Verhalten geschehe regelgeleitet, hebt Lyotard die Widerstreite zwischen den Sprachgemeinschaften hervor. Deutlich bewegt sich Zembylas in der Tradition von Jürgen Habermas. Aber nicht deutlicher als Lyotard in der von Wittgenstein. Und Habermas und Lyotard sind wie Feuer und Wasser. Die unklare historische Einordnung seines eigenen Werks, sein wenig auf analytische Weise erhellter historischer Kontext unterstreichen den Verdacht auf oberflächliche philosophische Lektüren und Fehlauslegungen.

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Das Flickenwerk, dem man interessante Informationen entnehmen kann, zeigt eine saubere Naht und anwendbares Wissen in den Abschnitten zur praktischen Philosophie. Dass es aus vielen Flicken besteht, macht es interessant, dass der Kenner die Flicken nicht übermäßig gut kennt, enttäuscht nicht nur, sondern belastet es sehr. Es lädt zur Überprüfung ein, wo an falschen Stellen zusammengenäht wurde.