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Ein Hölderlin-Kompendium

  • Johann Kreuzer (Hg.): Hölderlin-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2002. XV, 558 S. Gebunden. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 3-476-01704-4.
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Zu lesen »wie ein Compendium«

[2] 
Die Bedeutung von Hölderlins Dichtung und die Auseinandersetzung mit ihr verlangt ein verlässliches Set an Informationen zu Leben, Werk und Wirkung auf der Basis des derzeitigen Wissens- und Forschungsstandes. (S. XIV) 1
[3] 

So beschreibt Johann Kreuzer den Anspruch und die Zielsetzung des von ihm herausgegebenen Hölderlin-Handbuchs, das, mit einiger Spannung erwartet, im Oktober 2002 in der Reihe der Metzler Autoren-Handbücher erschienen ist. Das Handbuch, an dem 29 namhafte Beiträger mitgewirkt haben, widmet sich, beinahe tollkühn, dem »ganzen« Hölderlin und – im Spiegel repräsentativer Deutungsansätze – dem gesamten Spektrum der seinen Texten und deren Kontexten gewidmeten Forschung. Eine Tendenz, die in der Hölderlin-Philologie seit den 1990er Jahren zu beobachten ist, hat damit einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, nämlich das Bemühen, »Forschungsergebnisse zu sichern« 2 und ›neue Wege‹ der Annäherung an Hölderlin zu dokumentieren. 3 Kreuzers Handbuch ist ausdrücklich als ein »Arbeitsinstrument« (S. XIV) konzipiert; der Herausgeber scheint nicht zu »fürchten«, sondern zu wünschen, dass man es lese »wie ein Compendium«. 4 An dieser »Pflanze« bloß zu »riechen«, wird freilich auch niemandem einfallen.

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Hölderlin-Editionen und Homburger Folioheft

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Die einzelnen Beiträge des Handbuchs sind sieben thematischen Abteilungen unterschiedlichen Umfangs zugeordnet: ›Editionen‹; ›Zeit und Person‹; ›Voraussetzungen, Quellen, Kontext‹; ›Poetologie‹; ›Werk‹; ›Rezeption‹; ›Nachwirkungen‹. Deren Abfolge korrespondiert der im Untertitel benannten Trias ›Leben – Werk – Wirkung‹, die sich dem Reihenkonzept der Metzler Autoren-Handbücher verdankt. Da jedoch dem historisch-biographischen Teil ›Zeit und Person‹ (S. 13–59) der Abschnitt ›Editionen‹ (S. 1–12) vorangestellt ist, wird das Handbuch nicht mit Hölderlins Vita eröffnet, sondern mit einem Thema, das keineswegs nur innerhalb der spezialisierten Forschungsdiskussion von grundlegender Bedeutung ist. Die Kenntnis der editorischen Probleme, die Hölderlins Werk aufwirft, sowie die Vertrautheit mit den unterschiedlichen Ausgaben und ihren divergierenden Editionsmodellen ist für jede ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Dichter unerlässlich; daher ist es zu begrüßen, dass das Handbuch eingangs einen Überblicksartikel zu diesem Thema bietet.

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In dieser (mit zwölf Seiten kürzesten) Abteilung des Handbuchs behandelt Stefan Metzger zunächst die zu Lebzeiten des Autors erschienenen Drucke, dann die von fragwürdigen, editorisch unzureichenden Auswahlprinzipien bestimmten Ausgaben des 19. Jahrhunderts; anschließend rückt mit den konkurrierenden Editionen Hellingraths und Zinkernagels der Ausgangspunkt jener bis heute fortdauernden Diskussion ins Blickfeld, »wie Hölderlins Oeuvre, insbesondere sein lyrisches Spätwerk, adäquat herauszugeben und zu interpretieren sei«. 5 Beißners Große Stuttgarter Ausgabe (StA) und Sattlers Frankfurter Ausgabe (FHA) werden jeweils auf ihre Prämissen und Probleme, ihre Meriten und Defizite befragt, wobei der Vergleich – im Hinblick auf den Anspruch, mit dem die FHA einst angetreten war – zu einem ernüchternden Fazit führt: »Insgesamt teilt die FHA mit der StA ein deutlich teleologisches Element, das sich hermeneutisch an einer prätendierten ›letzte[n] Intention‹ (FHA E, 19) orientiert.« (S. 9) Diese Einschätzung hat ihren Grund vor allem im revidierten Editionskonzept der 2001 erschienenen Bände 7 / 8 der FHA (gesänge I / II), für deren Würdigung Metzger nur wenige – kritische – Sätze benötigt (S. 8); angesichts der hohen Erwartungen, die die Forschung diesem Kernstück der FHA im Vorfeld entgegengebracht hatte, wirkt diese Knappheit vielsagend. 6

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Im Ganzen gelingt es Metzger, einen unparteiischen Blick auf dieses von leidenschaftlichen Kontroversen geprägte Problemfeld zu werfen, worauf bereits die Tatsache hinweist, dass seine Ausführungen zur StA und FHA sowie zu den Studienausgaben von Knaupp und Schmidt jeweils annähernd denselben Raum einnehmen. Vor diesem Horizont soll sich der Benutzer wohl ein eigenes Urteil über die Editionslage bilden, wobei Metzger leider darauf verzichtet, am Ende seines Überblicks eine zusammenfassende Bilanz zu ziehen. Vielleicht ließe sich eine solche Bilanz einfach in Gestalt einer (rhetorischen) Frage formulieren:

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Verweisen die [...] seit 80 Jahren, seit der ersten Ausgabe von Norbert von Hellingrath anhaltenden Diskussionen, die zu immer wieder anderen Konstitutionen führten, nicht auf die prinzipielle Unmöglichkeit einer letztgültigen Edition? 7
[9] 

Einem wichtigen Spezialthema der Hölderlin-Editorik, dem Homburger Folioheft (HF), ist im Handbuch ein eigenes, von Emery E. George verfasstes Kapitel gewidmet (S. 379–394), und zwar innerhalb der Abteilung ›Werk‹. Diese Platzierung ist an die strittige Prämisse gebunden, dass es sich beim HF nicht bloß um einen »ohne konzeptionellen oder kompositorischen Zusammenhang sich präsentierenden Überlieferungsträger« 8 handelt, sondern um eine Werkeinheit, die durch zahlreiche »[t]hematische und strukturelle Zusammenhänge« (S. 383) bestimmt wird. So weist George selbst darauf hin, dass

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die Möglichkeit der Deutung eines Konvoluts wie des HF davon ab[hängt], ob wir es als ein einheitliches literarisches Phänomen ansehen wollen oder ob wir die Hs. als eine lose Sammlung von hymnischen Dichtungen und Ansätzen betrachten, die alle einzeln Aufmerksamkeit als fertige oder zumindest ernst zu nehmende dichterische Werke bzw. Pläne H.s verlangen. (S. 382)
[11] 

George, der zusammen mit D. E. Sattler das Begleitheft zum 1986 erschienenen Supplement III der FHA (Faksimile des HF) bearbeitet hat, favorisiert die »relativ unorthodoxe Annäherungsweise an das Gesamtkonzept HF« (S. 383); für ihn ist das Konvolut »in H.s Leben und Werk die letzte Bühne, auf dem [sic!] sich die Vielschichtigkeit hymnischen Sprechens in seiner ganzen Breite und Tiefe wie Fülle artikuliert.« (S. 384) Leider bleiben jedoch die Ausführungen zur »Analyse und Deutung« (S. 382–384) des HF auf einige skizzenhafte, den Forschungsstand diskutierende Hinweise beschränkt; der entsprechende Abschnitt umfasst gut drei Spalten, während die – freilich informative – Darstellung der Editionsgeschichte zehn Seiten einnimmt (S. 384–394). Die zentrale These vom Werkcharakter des HF bleibt damit ein Postulat, das kaum durch interpretatorische Befunde gestützt wird. So verspricht der Beitrag schon durch seine bloße Platzierung innerhalb des Handbuchs mehr, als er inhaltlich einlösen kann.

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Hölderlins Zeitgenossenschaft:
biographisch, poetologisch, philosophisch

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Die Abteilungen ›Zeit und Person‹ (S. 13–59) sowie ›Voraussetzungen, Quellen, Kontext‹ (S. 61–116) vermitteln ein aspektreiches Bild von den historischen Zusammenhängen, die für Hölderlins »entschiedene Zeitgenossenschaft« ausschlaggebend sind, d.h. für »sein rasches und bewußtes Antworten auf Neuerscheinungen und aktuelle Tendenzen in Literatur, Philosophie, Theologie, Geschichte seiner Zeit«. 9 Im Abschnitt »Epoche« (S. 14–19) betrachtet Valérie Lawitschka zunächst die Französische Revolution und ihre geopolitischen Folgen, wobei sie im Hinblick auf Napoleon, den Rastatter Kongress und die politische Situation in Württemberg zu zeigen sucht, »wie sehr H. am aktuellen Geschehen beteiligt war.« (S. 18) Im anschließenden Kapitel »Kloster – Stift – Beruf« (S. 20–30) geht es um Hölderlins familiäre Herkunft, die prägenden Bedingungen und Erfahrungen seiner Klosterschul- und Studienzeit (Denkendorf, Maulbronn, Tübingen), seinen Dichter- und Freundschaftsbund mit Neuffer und Magenau sowie um seine erste Hofmeisterstelle in Waltershausen. Das von Michael Franz verfasste Kapitel »Schule und Universität«, mit dem die Abteilung ›Voraussetzungen, Quellen, Kontext‹ eröffnet wird (S. 62–71), bietet – den historisch-biographischen Überblick Lawitschkas gleichsam vertiefend – fundierte Informationen zu den Inhalten von Hölderlins Schulbildung sowie seines Philosophie- und Theologiestudiums am Tübinger Stift; es empfiehlt sich daher, die beiden Kapitel im Zusammenhang zu lesen.

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Es ist begrüßenswert, dass das Handbuch bei der »Exposition der Biographie Hölderlins im Kontext der Epoche« (S. XIV) auf die bloße Schilderung lebensgeschichtlicher Phasen weitgehend verzichtet und stattdessen einige Erfahrungskomplexe bündelt, die für Hölderlins Dichtung wichtig sind. »Wie steht es mit der Idealisierung des Frauenbildes in der Literatur und dem Verhältnis von Literatur und Lebenswirklichkeit?« (S. 31) Diese Frage diskutiert Lawitschka im Abschnitt »Liaisons – Imago und Realität« (S. 31–36), worin zunächst die Episode seiner mutmaßlichen Verbindung mit Wilhelmine Marianne Kirms zur Sprache kommt, bevor ausführlicher die Liebesgeschichte mit Susette Gontard behandelt wird, der »Einschnitt in H.s Leben und Schreiben schlechthin« (S. 33). Poet(olog)isch bedeutsam – und damit eines eigenen Kapitels würdig – sind auch die Freundschaften Hölderlins seit der Tübinger und Jenaer Zeit (Niethammer, Hegel, Schelling, Sinclair und Böhlendorff; S. 37–44) sowie die Erfahrungen der Frankreich-Reise und des Aufenthaltes in Bordeaux, wie sie der späte Gesang Andenken in dichterischer »Rückschau« vergegenwärtigt (Jean-Pierre Lefebvre, S. 45–50). Im Kapitel »Die Jahre 1806–1843« (S. 51–55) weist Gregor Wittkop u.a. auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass »bis heute kein Forschungsbericht [existiert], der die verschiedenen pathographischen Bemühungen im Falle H.s zusammenfaßt und bewertet.« (S. 54) Mit einem kurzen Abschnitt zur Überlieferungsgeschichte des Hölderlinschen Nachlasses (Volker Schäfer, S. 56–59) endet die Abteilung ›Zeit und Person‹.

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Gegenstand der Sektion ›Voraussetzungen, Quellen, Kontext‹ (S. 61–116) ist die intellektuelle Zeitgenossenschaft Hölderlins im Umfeld der geistesgeschichtlichen ›Konstellationen‹ um 1800, genauer: in den 1790er Jahren. Damit rückt die philosophische Dimension seiner Dichtung ins Blickfeld, wie sie in den letzten drei Jahrzehnten vor allem von Dieter Henrich und seinen Schülern (u.a. Manfred Frank) mit Nachdruck und leidenschaftlicher Akribie erschlossen worden ist. »Ohne Hölderlin«, so Johann Kreuzer im Vorwort, »bliebe das Bild von den Problemstellungen, auf die der Deutsche Idealismus als Antwort zu begreifen ist, einseitig und unvollständig«. (S. XIII) In diesem Sinne beleuchten die vier Kapitel dieser Abteilung die für Hölderlin als Dichter wie als Philosoph – d.h. als Dichter »aus philosophischer Einsicht« (Gaier, S. 468) – konstitutiven Einflüsse und Diskurskomplexe: Zunächst werden, wie schon erwähnt, die Inhalte seiner Schul- und Universitätsbildung dargestellt (Michael Franz), danach geht es um die maßgeblichen Anregungen, die Hölderlin von Rousseau, Schiller, Herder und Heinse (Ulrich Gaier, S. 72–89) sowie von Kant, Fichte und Schelling (Violetta L. Waibel, S. 90–106) empfangen hat, sowohl durch Textrezeption wie auch im persönlichen – und zwar wechselseitigen – Austausch.

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Denn wie die neuere Forschung gezeigt hat, war Hölderlin für die »wahrhaft großen Geister« an der Universität Jena (Brief an Neuffer, Nov. 1794) ein wichtiger Gesprächspartner und Impulsgeber:

[17] 
H., von November 1794 an in Jena, machte Schiller [...] mit seiner Kritik an Fichtes gerade im Erscheinen begriffenen Wissenschaftslehre vertraut, die Fichte wie auch Schiller zu Korrekturen und begrifflichen Verschiebungen veranlasste. 10
[18] 

Was die Frühromantiker (Friedrich Schlegel und Novalis) anbetrifft, so hat es zwischen ihnen und Hölderlin zwar »keinen gedanklichen Austausch« (S. 107) gegeben, doch weisen ihre theoretischen Positionen »auffällige Ähnlichkeiten« auf, da ihre Arbeiten »aus derselben historisch-geistigen Situation heraus entstanden« sind, sich auf »gleiche Quellen und Anknüpfungspunkte« beziehen sowie »vergleichbare theoretische Interessen und Ambitionen« (ebd.) verfolgen. Hiermit befasst sich Bärbel Frischmann im Kapitel »Hölderlin und die Frühromantik« (S. 107–116).

[19] 

Zwischen Kontextanalyse und Werkinterpretation:
Hölderlins Poetologie

[20] 

Durch die Platzierung der Abteilung ›Poetologie‹ (S. 117–174) zwischen den Sektionen ›Voraussetzungen, Quellen, Kontext‹ und ›Werk‹ räumt das Handbuch der Hölderlinschen Poetologie eine relative Eigenständigkeit gegenüber geistesgeschichtlichen Kontextanalysen einerseits und Problemen der Werkinterpretation andererseits ein. In diesem räumlichen wie sachlichen Dazwischen spiegelt sich die Herausforderung, mit der die Leser von Hölderlins Dichtung angesichts seiner poetologischen Schriften konfrontiert sind: Die Betrachtung der Dichtungstheorie darf sich gegenüber der Lektüre der poetischen Texte nicht verselbständigen, weder in dem Sinne, dass »man sich [...] auf die wirkliche Poesie gar nicht erst beziehen muß«, wenn man etwa die Homburger poetologischen Fragmente »im Horizont der Frühgeschichte des deutschen Idealismus« liest (Holger Schmid, S. 118), noch in dem Sinne, dass man einzelne Werke in ein »Prokrustesbett der Deutung« 11 zwingt, indem man sie als bruchlose Umsetzung poetologischer Denkfiguren auffasst. Die Schwierigkeit, diese Balance angemessen zu wahren, ist wohl der Hauptgrund dafür, dass die Forschung »[i]n der Frage der poetischen Konkretion des Tonwechsels im einzelnen Gedicht H.s [...] seit der bahnbrechenden Arbeit von Ryan nicht wesentlich fortgeschritten« ist, wie Holger Schmid im Kapitel »Wechsel der Töne« zu Recht bemerkt (S. 125).

[21] 

Ein deutlicher Schwerpunkt der Abteilung ›Poetologie‹ liegt – den Forschungsinteressen des Herausgebers entsprechend – auf der Analyse des Problemkomplexes von (tragischer) Zeit- bzw. Geschichtserfahrung, dichterischer »Zeitlogik«, Sprache und Erinnerung. Die thematisch eng verwandten bzw. einander ergänzenden Beiträge Kreuzers (S. 147–161) und Volker Rühles (S. 128–137, 138–146) stellen vor allem jene Perspektiven von Hölderlins Poetologie heraus, die für seinen »Übergang zu einer nachidealistischen Auffassung des Bewußtseins« (S. 156) kennzeichnend sind.

[22] 

Zum Abschluss der Abteilung ›Poetologie‹ erörtert Ulrich Gaier die Frage, welche Gattungsbezeichnung für die freirhythmischen Gedichte des Hölderlinschen Spätwerks angemessen und mithin in der Forschung zu verwenden sei (»Späte Hymnen, Gesänge, Vaterländische Gesänge?«, S. 162–174). 12 Die durch Hellingrath eingeführte und kanonisierte Bezeichnung ›Hymnen‹ lasse, so Gaier, die historisch-kulturellen Bedingungen der späten Gesänge – die enttäuschenden »politischen Tatsachen [...] zwischen 1800 und 1806« (S. 169) – außer Acht und verfehle damit das eigentliche dichterische Anliegen Hölderlins. Von ›Hymnen‹ könne bei diesen Texten nicht gesprochen werden, »denn dazu fehlen alle Bestandteile: die von allen präsent geglaubten oder stellvertretend herbeizurufenden Gottheiten, ihre heiligen Namen, ihr Mythos und ihre Kultgemeinde«. (S. 173) Es handele sich vielmehr um den »Gesang eines Einzelnen«, der (letztlich vergeblich) darauf hoffe – und im Medium »konjekturale[r] Argumentationsformen« (ebd.) daran arbeite –,»daß ihm der Chor der Gemeinde, durch seinen Gesang erst konstituiert, antworten wird« (ebd.). Gaiers Vorschlag, die späten Gesänge künftig nicht mehr ›Hymnen‹ zu nennen, ist im Handbuch selbst an entsprechender Stelle schon beherzigt worden, worauf noch einzugehen sein wird.

[23] 

Werkanalysen

[24] 

Im Zentrum des Handbuchs stehen die »ausführlichen Werkanalysen, die Hölderlins gesamte poetische Arbeit umgreifen« (S. XIV); sie bilden die mit Abstand umfangreichste, schlicht betitelte ›Werk‹ Abteilung (S. 175–419). Im Vorwort des Herausgebers werden die Gegenstände dieser Werkanalysen in (annähernd) chronologischer Folge benannt:

[25] 
von den Frühen Hymnen über den Hyperion-Roman, die Arbeit am Empedokles-Projekt, die Pindar- und Sophokles-Übersetzungen bis zu den ›großen‹ Elegien, den Gesängen und Entwürfen sowie den spätesten Gedichten, die im Tübinger Turm entstanden sind. (S. XIV)
[26] 

Davon abweichend werden die einzelnen Werke und Werkgruppen Hölderlins nicht (bzw. nicht primär) in chronologischer Folge abgehandelt, da in dieser Abteilung eine nicht eigens gekennzeichnete – geschweige denn begründete – Einteilung nach Gattungen vorherrscht: Zunächst werden die nicht-lyrischen Werkkomplexe dargestellt, vom Hyperion über das Empedokles-Projekt, die theoretischen Schriften, die Sophokles-Anmerkungen, die Pindarfragmente bis zu den Übersetzungen. Im Anschluss daran wird das lyrische Schaffen Hölderlins behandelt, differenziert nach Formen und Werkeinheiten im chronologischen Längsschnitt: von den Frühen Hymnen über die Oden, die Elegien, den Zyklus der Nachtgesänge, die Gesänge, das Homburger Folioheft und die (so genannten) Entwürfe bis zu den spätesten Gedichten. Abschließend, gleichsam als Anhang zu den Werkanalysen, folgt noch ein Kapitel über Hölderlins Briefe, die freilich mit der gesamten biographischen und poetischen Existenz des Autors verwoben sind und damit einen Sonderstatus einnehmen.

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Wer mit Hölderlins Poetik, seiner Werkchronologie sowie den Genres seiner poetischen Produktion noch nicht vertraut ist und das Handbuch als Orientierungshilfe verwenden will, mag diese Anordnung der werkanalytischen Kapitel teilweise als verwirrend empfinden. Warum folgt das Kapitel zu den Frühen Hymnen unvermittelt auf jenes zu den (im Wesentlichen späten) Übersetzungen, und warum geht das letztere, worin ausführlich die Sophokles-Übersetzungen behandelt werden, dem Kapitel über die Sophokles-Anmerkungen, in denen »H. sein Verständnis der beiden von ihm übersetzten Tragödien« vermittelt (S. 247), nicht voraus? Warum wird die ›Werk‹-Abteilung mit dem Hyperion eröffnet, da doch am Ende des Kapitels zu den Tübinger Hymnen erklärt wird, dass Hölderlins Arbeit am Roman zeitlich sowie im Sinne einer »dichterische[n] Umorientierung« (S. 307) an die Stelle des früheren Hymnenprojekts getreten ist?

[28] 

Es mag durchaus einleuchtende Gründe für diese Kapitelabfolge geben; zu monieren ist jedoch, dass diese Gründe nirgends explizit gemacht werden, dass also eine Begründung (zumindest eine kurze Erläuterung) jener Gliederung ebenso fehlt wie deren Kennzeichnung im Inhaltsverzeichnis, wo die Kapiteltitel schlicht nacheinander aufgereiht werden. Dabei mag es – auch unabhängig von dem impliziten Gliederungsprinzip ›nicht-lyrische‹ vs. ›lyrische Werkkomplexe‹ – sinnvoll erscheinen, mit dem Hyperion zu beginnen; schließlich hatte Hölderlin, wie Hellingrath einst treffend bemerkte,

[29] 
im Hyperion seine größte Breite und quellendste Blüte erreicht. [...] es gibt kaum ein Motiv seiner früheren Dichtung, das nicht im Hyperion erst seine wahre Form fände, kaum eines der späteren, das nicht vorgebildet wäre. 13
[30] 

Der Roman steht demnach nicht nur werkgeschichtlich, sondern auch poetologisch in der Mitte von Hölderlins Oeuvre, und zwar als ein ›Schwellentext‹, in dem »ein Durcharbeiten des Autors zu seiner dichterischen Sprache am Werk« 14 ist.

[31] 

Das »Hyperion«-Kapitel (S. 176–197) stammt aus der Feder Lawrence Ryans, dem das Verdienst gebührt, der Forschung im Hinblick auf die komplexe Erzählstruktur von Hölderlins Briefroman wegweisende Impulse vermittelt zu haben. In seinem Handbuch-Beitrag bietet Ryan eine Zusammenfassung der Erträge seiner einschlägigen Arbeiten, d.h. seiner Studie »Exzentrische Bahn und Dichterberuf« (1965) sowie seiner Aufsätze »›Hyperion‹: ein romantischer Roman?« (1970) und »›So kam ich unter die Deutschen‹. Hyperions Weg in die Heimat« (Hölderlin-Jahrbuch 1998 / 99). 15 Wer sich in Ryans Hyperion-Interpretation einarbeiten oder bestimmte Detailaspekte »auffrischen« möchte, wird von diesem Beitrag profitieren; wer jedoch Informationen zu neueren Ansätzen sucht, die Ryans Lesart weiterführen oder sich kritisch an ihr abarbeiten, wird hier enttäuscht.

[32] 

Denn Ryan blendet rezeptions- wie forschungsgeschichtliche Aspekte konsequent aus und verzichtet damit auch auf eine Positionierung seiner Deutung im Kontext der aktuellen Forschungsdiskussion, 16 die in jüngster Zeit vor allem durch die Arbeiten von Hansjörg Bay belebt wurde. Bays perspektivenreicher Sammelband »Hyperion« – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman (1998) wird zwar im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags genannt, jedoch nicht inhaltlich einbezogen. Auffallend an Ryans Literaturhinweisen ist deren geringe Zahl: Neben den erwähnten drei eigenen Arbeiten des Verfassers werden nur sieben weitere Titel angeführt, was insofern zu bedauern ist, als die Bibliographie am Ende des Handbuchs ebenfalls nur eine schmale Auswahl (zehn Titel) zum Hyperion nennt. Dass es durchaus anders geht, beweist das von Theresia Birkenhauer verfasste »Empedokles«-Kapitel (S. 198–223): Dort wird am Ende des Beitrags ein ausführliches und zugleich – aufgrund der Gliederung in sechs thematische Schwerpunkte – übersichtliches Literaturverzeichnis geboten, wobei die Bibliographie am Ende des Handbuchs noch 29 weitere Titel zum Empedokles anführt. Der Hyperion ist somit – (nicht nur) im Verhältnis zu Hölderlins Trauerspielprojekt – bibliographisch im Handbuch deutlich unterrepräsentiert.

[33] 

Zu loben ist das »Empedokles«-Kapitel auch dafür, dass Birkenhauer sich in ebenso engagierter wie informativer Weise mit der Forschungsliteratur auseinandersetzt, um dem althergebrachten »Verdikt vom gescheiterten dramatischen Versuch« (S. 222) ihre Deutung von »H.s Verständnis der dramatischen Form« entgegenzustellen: »[N]icht der Tod und dessen Rechtfertigung ist Thema des Trauerspiels, sondern Empedokles – die Darstellung eines extremen Charakters.« (S. 203) Der Anspruch des Handbuchs, nicht nur Resultate, sondern auch Prozesse der Forschung zu dokumentieren, wird von Birkenhauer überzeugend eingelöst.

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Die benutzerfreundliche Einbeziehung einschlägiger Forschungsarbeiten ist auch ein Vorzug der von Bernhard Böschenstein verfassten Kapitel zu den »Sophokles-Anmerkungen« (S. 247–253) und den »Übersetzungen« (S. 270–289), werden doch hier im Literaturverzeichnis jeweils knappe, kritisch-kommentierende Hinweise zu den einzelnen Titeln geboten. Hölderlins Arbeit als Übersetzer griechischer und lateinischer Dichtungen wird in ihrer ganzen Bandbreite vorgestellt, wobei Böschenstein eine Einteilung in drei »Untergruppen« vornimmt: »Arbeiten vor 1800« (1788–1799; S. 270 ff.), »Um 1800: Pindar: olympische und pythische Oden« (S. 275 ff.), »Bis 1805: Sophokles« (S. 278 ff.). Diese Einteilung verleiht dem Kapitel »Übersetzungen« eine klare Struktur und verweist zugleich auf Böschensteins Interpretationsanliegen, das von der These bestimmt wird: »Jede dieser Gruppen hat ihre eigenen Voraussetzungen, ihre eigentümlichen Verfahrensweisen und ihren besonderen Stellenwert innerhalb von H.s Entwicklung.« (S. 270) Böschenstein betont zu Recht, dass ohne die Berücksichtigung dieser »eigentümlichen« Voraussetzungen und Verfahrensweisen vor allem die späten Sophokles-Übersetzungen unverstanden bleiben und – wie einst bei Hölderlins Zeitgenossen (vgl. S. 283) – Unverständnis hervorrufen müssen. So sei es etwa

[35] 
notwendig, über die bloße Verwechslung von Wörtern oder Verbformen hinaus H.s Auffassung vom Vorgang der Tragödie, wie wir sie in seinen Anmerkungen vor uns haben, beizuziehen, um die Richtung seiner übersetzerischen Umdichtung genauer zu begreifen. (S. 283)
[36] 

Anhand ausgewählter Textbeispiele aus den Chorliedern des Oedipus und der Antigonä gelingt Böschenstein eine philologisch wie poetologisch differenzierte Würdigung der »Eigenart von H.s Übersetzung« vor dem Hintergrund ihrer charakteristischen

[37] 
Spannweite [...] zwischen unzähligen deutlich am Tage liegenden Verständnismängeln und dem originären Eindringen in eine selbsterfahrene Dimension religiöser Auseinandersetzung zwischen dem Menschen und dem Gott, deren innige Verbindung und schroffe Getrenntheit gleichermaßen nachzuvollziehen sind. (S. 280)
[38] 

Was die Handbuch-Beiträge zu den lyrischen Werkkomplexen angeht, so mag sich mancher Leser wundern, dass der Gattungsbegriff ›Hymne‹ im Inhaltsverzeichnis nur einmal auftaucht, nämlich zur Kennzeichnung der Tübinger Hymnik im Kapitel »Frühe Hymnen« (S. 290–308). Die freirhythmischen Gedichte des Spätwerks, also die großen »Hymnen in freien Strophen«, wie Hellingrath sie einst nannte, 17 werden nicht ›späte Hymnen‹ betitelt, sondern (wie in FHA 7/8) ›Gesänge‹. Das Handbuch setzt damit den erwähnten Vorschlag Gaiers, diese späten Gedichte nicht mehr als ›Hymnen‹ zu bezeichnen, sogleich in die Praxis um, 18 auch wenn Bart Philipsen, der Verfasser des Kapitels »Gesänge« (S. 347–378), 19 die gewählte Terminologie nicht konsequent durchhält; so wird das »Urmodell der Gesänge« (S. 351), Wie wenn am Feiertage..., immer wieder – wohl der Einfachheit zuliebe –»Feiertagshymne« genannt (S. 351, 356 ff.), und für die Gesänge Der Einzige, Friedensfeier und Patmos behält Philipsen –»wenn auch nicht ohne Bedenken« (S. 363) – den Titel »Christushymnen« bei. Die etablierte Nomenklatur scheint sich gegen den problematischen Versuch, einen neuen Sprachgebrauch zu instituieren, zu sperren.

[39] 

Philipsens »Gesamtüberblick« (S. 351–356) und seine teils recht knappen Einzelkommentare zu Wie wenn am Feiertage..., Germanien, Der Rhein – Die Wanderung, den »Christushymnen«, Andenken und Mnemosyne (S. 356–378) beinhalten eine Theorieperspektive, die auf Adornos Parataxis-Essay sowie auf eine dekonstruktivistische Sprach- und Subjektkonzeption verweist.

[40] 
Ohne zur Sprache sich zu entäußern, wäre die subjektive Intention überhaupt nicht. Das Subjekt wird es erst durch Sprache. [...] Indem die Sprache die Fäden zum Subjekt durchschneidet, redet sie für das Subjekt, das von sich aus – Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte – nicht mehr reden kann. 20
[41] 

Dieser Gedanke Adornos klingt bei Philipsen deutlich nach, wenn es hier (weitaus umständlicher) heißt:

[42] 
Das Programm der Gesänge drängt [...] das Ich als substantielles Subjekt der Sprache zurück zugunsten einer Reihe von vermittelnden Instanzen, welche die Identität einer allein vorausgesetzten und in der Sprache dann nur noch repräsentierten Subjektivität dissoziieren [...], um sie durch Sprache allererst zu konstituieren. (S. 348)
[43] 

Oder einige Seiten später:

[44] 
Die grundsätzliche Mittelbarkeit, Exteriorität und Mehrstimmigkeit der Sprache setzt sich nicht nur dem Absolutheitsanspruch der idealistischen Subjektivität entgegen, der die Welt dem Apriori der Interiorität unterwirft; die Apriorität der Sprache stemmt sich auch wider die Sehnsucht des individuellen Ichs nach einer Unmittelbarkeit des Göttlichen bzw. nach einer identifikatorischen Vermittlung des Heiligen. (S. 352)
[45] 

Die Kritik am »Absolutheitsanspruch der idealistischen Subjektivität« ist freilich schon seit Hölderlins Jenaer Fichte-Kritik für sein Schreiben konstitutiv (hierzu im Handbuch: Violetta L. Waibel, S. 94 ff.; Bärbel Frischmann, S. 110 f.); was nach Philipsen – bzw. nach Adorno und Haverkamp, die hier Pate gestanden haben – in den Gesängen hinzutritt, ist die »Tendenz des Spätwerks zum absoluten Zeichen« (S. 375) als Resultat der »einschneidende[n] Einsicht in die ursprüngliche und unaufhebbare Sprachlichkeit des Seins« (S. 348).

[46] 

Dem Kapitel »Gesänge gehen erhellende Werkkommentare zu den unterschiedlichen Phasen von Hölderlins Odendichtung (Andreas Thomasberger, S. 309–319), zu den Elegien (Wolfram Groddeck, S. 320–335) und dem Zyklus der Nachtgesänge (Anke Bennholdt-Thomsen, S. 336–346) voraus. Ihm folgen noch zwei weitere Beiträge zur hymnischen Spätlyrik: Emery E. George behandelt, wie erwähnt, aus editionsphilologischer Sicht das Homburger Folioheft; Anke Bennholdt-Thomsen befasst sich mit den »sogenannten hymnischen Fragmenten in freien Rhythmen [...], die im Homburger Folioheft (= HF) so wie auf Einzel- oder Doppelblättern bis 1806 überliefert sind (StA 2.1, 199–258)« (S. 395). Ihre instruktiven Ausführungen tragen den Titel »Entwürfe«, der an Beißners Bezeichnung ›hymnische Entwürfe‹ erinnert, wobei die Weglassung des Attributs ›hymnisch‹ offenbar einen doppelten Zweck erfüllen soll: Zum einen wird hier wiederum – dem Vorschlag Gaiers folgend – das Gattungsmerkmal des ›Hymnischen‹ getilgt, zum anderen wird der Beißnersche Titel nicht einfach unverändert übernommen, eingedenk der Tatsache, dass die in der StA praktizierte Unterscheidung von ›hymnischen Entwürfen‹ und ›Plänen und Bruchstücken‹»heute aufgrund der Faksimile-Editionen überholt« ist (S. 395; dazu auch George, S. 387). Es fragt sich jedoch, ob anstelle des allzu vagen Begriffs »Entwürfe« nicht ein Titel zu favorisieren wäre, der den zweifachen Vorzug hätte, editionsphilologisch weniger strittig und zudem aussagekräftiger zu sein; in Frage käme etwa die Bezeichnung ›hymnische Fragmente‹, wie sie von Bennholdt-Thomsen selbst verwendet wird, oder auch der Burdorfsche Terminus ›späte Gedichtfragmente‹. 21

[47] 

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

[48] 

Die beiden letzten Sektionen des Handbuchs beleuchten in übersichtlicher, zum Nachschlagen einladender Form die wissenschaftliche und künstlerische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Hölderlins, sowohl im deutschsprachigen wie auch im internationalen Raum. Die informativen, wenngleich recht knapp gehaltenen Einzelbeiträge der Abteilung ›Rezeption‹ (S. 421–465) befassen sich mit Norbert von Hellingrath, mit der jüdischen Rezeption, mit Heidegger, dem Dreigestirn Benjamin – Adorno – Szondi, mit Nationalsozialismus und Exilrezeption, mit der deutschen Germanistik der BRD und der DDR, der Rezeption im Westen (Europa und USA) sowie in Japan. Die Abteilung ›Nachwirkungen‹ (S. 467–512) besteht aus drei längeren Kapiteln zur Wirkungsgeschichte Hölderlins im Bereich der Literatur – einschließlich eines Abschnitts zum Thema »Philosophen und Hölderlin« (Ulrich Gaier, S. 468 ff.) – sowie in der bildenden Kunst und der Musik (Valérie Lawitschka). Eine 12-seitige Zeittafel, eine 17-seitige Auswahlbibliographie – diese folgt der Gliederung des Handbuchs und führt aus Platzgründen »zu einzelnen Werk- und Themenbereichen« (S. 530) nur Titel auf, die in den Einzelbibliographien der jeweiligen Beiträge nicht enthalten sind – sowie ein hilfreiches Werk- und Personenregister schließen das Kompendium ab.

[49] 

Die Einheit von Hölderlins Gesamtwerk:
eine ausgesparte Streitfrage

[50] 

Ein Problemkomplex, der im Handbuch leider nicht eigens thematisiert wird, betrifft die alte Streitfrage nach der Einheit des Hölderlinschen Oeuvre. Welche Entwicklungslinien lassen sich innerhalb seines Werks und seiner Poetik ausmachen? Wo (d.h. an welchen lebensgeschichtlichen Orten und an welchen Punkten der Werkchronologie) ereignen sich entscheidende Akzentverschiebungen oder gar Brüche, und worauf sind diese Einschnitte jeweils zurückzuführen? Wie ließe sich – etwa auf thematischer oder poetologischer Ebene – das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen den einzelnen Werkphasen beschreiben, v.a. zwischen der Frankfurter Zeit, den ersten Homburger Jahren und dem Spätwerk? Welche Faktoren sind ausschlaggebend für den vieldiskutierten Wandel Hölderlins vom Wegbereiter der idealistischen Philosophie hin zum Dichter »jenseits des Idealismus«? 22

[51] 

Wer das Handbuch aufmerksam liest, stößt hier und da auf Hinweise zur Klärung dieser Fragen, die im Rahmen der intendierten Hölderlin-Gesamtschau von grundlegender Bedeutung sind. Valérie Lawitschka erblickt etwa in Hölderlins Ode Heidelberg »den Wendepunkt seiner Dichtung durch die Umsetzung einer neuen Naturerfahrung, die einhergeht mit der Abwendung von Schiller« (S. 32). Nach Lawrence Ryan steht der Hyperion »an der Pforte zu H.s späterem Werk, zu dem er in mancher Hinsicht die Grundlage abgibt« (S. 195). Theresia Birkenhauer sieht im Empedokles-Projekt die poetologische Voraussetzung für die späten Sophokles-Übersetzungen:

[52] 
Indem H. mit Empedokles die Struktur eines ›unreinen‹ Charakters entdeckt, erschließt sich ihm der problematische Status des Subjekts der griechischen Tragödie. H.s späte Übersetzungen des Sophokles haben in dieser Befragung ihre Voraussetzung.(S. 222)
[53] 

Nach Johann Kreuzer bereitet sich »[g]egen Ende von H.s erstem Aufenthalt in Bad Homburg [...] die entscheidende Peripetie in seinem Werk vor« (S. 150); Volker Rühle spricht dagegen mit Blick auf den Homburger Aufenthalt nicht von einem Wendepunkt, sondern einem zum Spätwerk hinführenden Wandlungsprozess, nämlich der

[54] 
tiefgreifende[n] Transformation der poetischen Verfahrensweise H.s, die sich im Verlauf seiner Arbeit am Trauerspiel über die poetischen Reflexionen bis hin zu den Sophokles-Übersetzungen und den sie begleitenden Anmerkungen vollzieht. (S. 143)
[55] 

Es wäre verdienstvoll gewesen, jene Fragen zur werkgeschichtlichen Entwicklung explizit zu stellen und die verstreuten Ansätze, die die Handbuch-Autoren zu ihrer Beantwortung bieten, in einem eigenen Kapitel zu bündeln. Wie hilfreich die Thematisierung werkgenetischer Phasen sein kann, zeigt das von Manfred Engel bei Metzler herausgegebene Rilke-Handbuch (2004), in dem der werkanalytische Hauptteil mit einem Überblickskapitel zu den einzelnen Schaffensphasen beginnt, durchaus eingedenk der Tatsache, dass

[56] 
die Unterteilung eines Oeuvres in Werkphasen ebenso künstlich [ist] wie die Unterteilung der Literaturgeschichte in Epochen: Hier wie dort gibt es keine abrupten Wechsel, sondern nur gleitende Übergänge, und Altes besteht neben Neuem weiter fort. 23
[57] 

Unordnung im Inhaltsverzeichnis

[58] 

Abschließend sei noch auf einen handwerklichen Schönheitsfehler des Handbuchs hingewiesen, der innerhalb der ›Werk‹-Abteilung für Unordnung und Verwirrung sorgt. In der groben Inhaltsübersicht (S. V) sowie im detaillierten Inhaltsverzeichnis (S. VII-XI) sind die sieben thematischen Abteilungen ebenso wie die Einzelbeiträge, die sie jeweils umfassen, nicht durch Nummerierung, sondern ausschließlich durch Hervorhebung im Druckbild kenntlich gemacht: Die Titel der Abteilungen (z.B. ›Zeit und Person‹) werden im Inhaltsverzeichnis durch Groß- und Fettdruck hervorgehoben, die Kapiteltitel (z.B. »Epoche«) nur durch Fettdruck. Dieses – im Prinzip – übersichtliche Verfahren gerät jedoch in der Abteilung ›Werk‹ durcheinander, da hier die Überschriften der Kapitel »Theoretische Schriften« und »Sophokles-Anmerkungen« durch Fett- und Großdruck hervorgehoben sind und somit als Abteilungstitel erscheinen.

[59] 

Im Inhaltsverzeichnis präsentiert sich daher auf S. VIII f. folgendes Bild: Die Abteilung ›Werk‹ umfasst den Hyperion und den Empedokles, und darauf folgt – das Druckbild will es so – eine neue, aus vier Kapiteln bestehende Abteilung ›Theoretische Schriften‹. Doch damit nicht genug: Das anschließende Kapitel »Sophokles-Anmerkungen« wird durch das große Druckbild ebenfalls als eigenständige Abteilung ausgewiesen, worin scheinbar die Kapitel »Pindarfragmente«, »Übersetzungen«, »Frühe Hymnen«, »Oden« (usw. bis zu den Briefen) enthalten sind. Da auf eine gestufte Nummerierung der Abteilungen und Kapitel verzichtet wurde, wirken sich diese Unstimmigkeiten im Druckbild geradezu verheerend aus. Zu beklagen ist somit nicht nur das Fehlen einer Begründung der Kapitelabfolge in der Sektion ›Werk‹, sondern auch, bedingt durch handwerkliche Fehler, eine unübersichtliche Kennzeichnung dieser zentralen Abteilung im Inhaltsverzeichnis.

[60] 

Diese Kritik schmälert indes nicht die inhaltliche Substanz des Handbuchs, das aufgrund seiner thematisch-methodischen Breite und der überzeugenden Qualität seiner Einzelbeiträge allen Lesern und Freunden Hölderlins empfohlen sei.



Anmerkungen

Zitate aus dem Handbuch werden im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen in Klammern belegt. Wird der Handbuch-Beiträger, von dem das Zitat stammt, nicht im Text genannt, so wird auch der jeweilige Name in Klammern angegeben.   zurück
Stephan Wackwitz: Friedrich Hölderlin. 2., überarb. u. erg. Aufl., bearbeitet von Lioba Waleczek. Stuttgart, Weimar 1997 (= Sammlung Metzler, Bd. 215), S. 182. Wackwitz betrachtet hier die »Rezeptionsgeschichte der vergangenen zehn Jahre« bzw. die Tendenzen der Forschung »[a]m Ende dieses [20.] Jahrhunderts«.   zurück
Von dieser Tendenz zeugen nicht nur einige Monographien, in denen namhafte Hölderlin-Forscher die Erträge ihrer Arbeiten zusammenfassen (z.B. Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Stuttgart 1992; oder Ulrich Gaier: Hölderlin. Eine Einführung. Tübingen, Basel 1993), sondern ebenso mehrere Sammelbände, die – teils mit einführender Absicht – innovative Zugänge zum Gesamtwerk bündeln; die Reihe Hölderlin Texturen (1995 ff.) ist hier ebenso zu nennen wie der von Gerhard Kurz herausgegebene Reclam-Band Interpretationen: Gedichte von Friedrich Hölderlin (1996), der Hölderlin gewidmete Sonderband der Reihe Text und Kritik (1996) oder die einschlägigen Sammelbände Neue Wege zu Hölderlin (hg. von Uwe Beyer, Würzburg 1994), Hölderlin und die Moderne (hg. von Gerhard Kurz u.a., Tübingen 1995) sowie Hölderlin: Neue Wege der Forschung (hg. von Thomas Roberg, Darmstadt 2003).   zurück
Vorrede zum Hyperion (Endfassung). In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde. Hg. von Michael Knaupp. München, Wien 1992–93. Bd. 1, S. 611.   zurück
Dieter Burdorf: Wie über Hölderlins Spätwerk zu reden sei. Bemerkungen zur publizistischen Praxis Dietrich Uffhausens. In: Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege zu Hölderlin. Würzburg 1994, S. 347–359, hier S. 350.   zurück
Als enttäuschend bewertet auch Emery E. George die Bände 7/8 in seiner Rezension im Hölderlin-Jahrbuch, Bd. 32 (2000 / 2001). Einleitend heißt es dort:
Wir fragen uns, ob dies es ist oder ob vielmehr unter der langwierigen editorischen Arbeit von D. E. Sattler dies es sein sollte, auf das wir über ein Vierteljahrhundert, seit Erscheinen des Einleitungsbandes im Jahr 1975, gewartet haben.
Am Ende lautet die nüchterne Antwort:
[Z]war ist FHA 7/8 kein bloßes Kuriosum der Hölderlin-Philologie, eine autoritative und brauchbare historisch-kritische Ausgabe sind die Bände aber auch nicht. Hölderlins Vermächtnis verdient bessere Behandlung. (E.E.G.: Das Tao der Unübersichtlichkeit. Über die Bände 7/8 (gesänge I, II) der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. In: HJb 32 (2000 / 2001), S. 345–365, hier S. 345 u. 365)
Dieter Burdorf sieht nach dem Erscheinen der Gesänge
die jahrzehntelang von vielen Befürwortern der FHA gehegte Hoffnung, Sattler werde in diesen Bänden den Königsweg der Edition von Hölderlins späten Hymnen finden, endgültig zerstoben. (D.B.: Wege durch die Textlandschaft. Zum Stand der Edition von Hölderlins später Lyrik. In: Wirkendes Wort 2 / 2004, S. 171–190, hier S. 190)
Vgl. außerdem Bruno Pieger: Hölderlin-Ausgaben – aus der Perspektive eines Lesers. In: Castrum Peregrini 54 (2005), H. 266–267: Friedrich Hölderlin. Zu seiner Dichtung. Hg. von Christophe Fricker u. Bruno Pieger. Amsterdam 2005, S. 154–180, bes. S. 168 ff.   zurück
Cori Mackrodt: Haltloser Entwurf, haltlose Konstitution: Die Nymphe / Mnemosyne in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. In: DVjs 77 (2003), S. 183–196, hier S. 184. Seit dem epochemachenden vierten Band der Hellingrathschen Ausgabe (1916) sind freilich mittlerweise nicht 80, sondern 90 Jahre vergangen.    zurück
So die (den Grundsätzen der StA verpflichtete) Position Jochen Schmidts, wie er sie in seiner Besprechung von Michael Knaupps Studienausgabe zum Ausdruck bringt (in: Arbitrium 13 (1995), S. 216–223, hier S. 218).    zurück
Ulrich Gaier: Hölderlin. Eine Einführung [s. Anm. 3], S. IX.   zurück
10 
Gaier, S. 80, hierzu auch Waibel, S. 96 sowie Gaier, S. 468.   zurück
11 
Karlheinz Stierle: Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins. In: Thomas Roberg (Hg.): Friedrich Hölderlin: Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2003, S. 19–34, hier S. 26 [zuerst in: K.S.: Ästhetische Rationalität: Kunstwerk und Werkbegriff. München 1997, S. 254–264, 280–281].    zurück
12 
Dieser Handbuch-Beitrag Gaiers fasst die Überlegungen zweier Vorträge zusammen, nämlich: U.G.: »Heilige Begeisterung«. Vom Sinn des Hymnischen um 1800. In: Hölderlin-Jahrbuch 32 (2000 / 2001), S. 7–49; sowie Ders.: »Bald sind wir aber Gesang«. Vom Sinn des Hymnischen nach 1800. In: Christoph Jamme u. Anja Lemke (Hgg.): »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. München 2004, S. 177–195.   zurück
13 
Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe [1910]. In: Ders.: Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen und Vorträge. Ein Gedenkbuch zum 14. Dezember 1936. Eingeleitet von Ludwig von Pigenot. München 1936, S. 15–93, hier S. 43 f.   zurück
14 
Rainer Nägele: Andenken an Hyperion. In: Thomas Roberg (Hg.): Friedrich Hölderlin: Neue Wege der Forschung [s. Anm. 11], S. 274–301, hier S. 279 [zuerst in: Hansjörg Bay (Hg.): Hyperion – terra incognita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 17–37]. Zum Status des Hyperion als ›Schwellentext‹ in Hölderlins Oeuvre vgl. Hansjörg Bay: ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins Hyperion. München 2003, S. 13 ff. u. 404 f.   zurück
15 
Vgl. die bibliographischen Nachweise im Literaturverzeichnis am Ende des Hyperion-Beitrags (S. 196f.).   zurück
16 
Nur an einer Stelle nimmt Ryan – qua Anspielung – auf eine abweichende Forschungsposition Bezug, nämlich auf die These Ulrich Gaiers, wonach der Text der Schlussvision »auf eine unerhörte Weise nur da« sei (Hölderlin. Eine Einführung [s. Anm. 3], S. 218). Hierauf spielt Ryan an, wenn er ausführt, die im Schlussbrief beschriebene ekstatische Naturerfahrung des erlebenden Hyperion sei »aus der Romankomposition motiviert; man kann nicht sagen, daß sie völlig unerklärlich ›nur da‹ wäre« (S. 193).   zurück
17 
Vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebaß besorgt durch Norbert von Hellingrath. München u. Leipzig / Berlin 1913–1923. Vierter Band (1916), S. IX.   zurück
18 
Kritisch dazu: Dieter Burdorf: Gibt es eine Geschichte der deutschen Hymne? In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XIV, 2 / 2004, S. 298–310, hier S. 303 f.   zurück
19 
Die Titelgebung ist leider nicht einheitlich: In der Inhaltsübersicht (S. V) sowie im Inhaltsverzeichnis (S. X) wird das Kapitel »Gesänge« genannt, während die Überschrift im Text lautet: Gesänge (Stuttgart, Homburg) (S. 347).   zurück
20 
Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins. In: Ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt a.M. 1965, S. 156–209, hier S. 193.   zurück
21 
Burdorf bezeichnet »alles sich im Folioheft findende Material, das sich nicht eindeutig einem der [...] weitgehend abgeschlossenen Gedichte zuordnen läßt, als Gedichtfragmente.« (D.B.: Hölderlins späte Gedichtfragmente: »Unendlicher Deutung voll«. Stuttgart, Weimar 1993, S. 49).   zurück
22 
Vgl. zu diesem Stichwort die wichtigen Tagungsbände: Jenseits des Idealismus: Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–1806). Hg. von Christoph Jamme u. Otto Pöggeler. Bonn 1988; sowie (daran ausdrücklich anknüpfend): »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hg. von Christoph Jamme u. Anja Lemke. München 2004.   zurück
23 
Manfred Engel: Dichtungen und Schriften: Vier Werkphasen. In: Ders. (Hg).: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 175–181, hier S. 175.   zurück