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Als das Sehen laufen lernte -

Reiseliteratur und Landschaftswahrnehmung

  • Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. (Rombach Litterae 122) Freiburg/Br., Berlin: Rombach 2006. 548 S. Kartoniert. EUR (D) 60,20.
    ISBN: 978-3-7930-9442-5.
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Entdeckung der modernen Landschaft auf Reisen

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Dass Landschaft erst erfunden werden musste, wenigstens aber als ästhetisches Muster erst zu entdecken war, ist seit Joachim Ritters grundlegendem Aufsatz zur Funktion von Landschaft in der Moderne ein Gemeinplatz in den Kulturwissenschaften. Die Frage jedoch, wann die Entdeckung der Landschaft zu datieren sei, 1 erweist sich als komplexer, eröffnet sie doch sogleich das Problem der medialen Konstruktion. Ob bereits mit Francesco Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux, mit den Stadtansichten in der niederländischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts oder erst mit der subjektiv überformten Naturwahrnehmung in der Empfindsamkeit von Landschaft im modernen Sinn gesprochen werden kann, lässt sich nicht ohne die Geschichte des Sehens 2 und der ästhetischen Vermittlung des Blicks beantworten.

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Die Studie von Erdmut Jost, eine bei Norbert Miller in Berlin entstandene Dissertation, leistet hierzu einen Beitrag, wenn sie die kurze, aber für die Ästhetik bedeutsame wie gut erforschte Zeitspanne der Epochenschwelle um 1800 herausgreift, um die Entstehung des modernen Landschaftsblicks historisch zu verstehen. Ausgehend von der Annahme, dass der Reisebericht zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem ›Avantgarde-Medium‹ für die literarische Diskussion von Kunst und Ästhetik aufstieg, zeichnet die Studie an Reisebeschreibungen von drei prominenten Autorinnen – Sophie von La Roche, Friederike Brun und Johanna Schopenhauer – exemplarisch nach, wie zwischen 1780 und 1820 die Wahrnehmung von Natur als Landschaft zwischen Rationalität und Erhabenheit kognitiv modelliert wurde.

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Weiblicher Blick und Reiseliteratur

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Der Ansatz, Reiseliteratur als zentrales Medium der Landschaftswahrnehmung zu untersuchen, erweist sich dabei in zweierlei Hinsicht als besonders fruchtbar. Zum einen galt die Reise seit den Apodemiken der Aufklärung als die vorzüglichste ›Schule des Sehens‹ und zum anderen war der Reisebericht die einzige Form, in der auch Frauen sich am ästhetischen Diskurs beteiligen konnten. Auf diese Weise auch die weiblichen Stimmen in den ästhetischen Landschaftsdiskurs integrieren zu können, mag begründen, warum die Verfasserin sich auf Autorinnen konzentriert, obwohl sie sich von der feministischen Reisekulturforschung distanziert (S. 35–54).

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Auf der anderen Seite verbindet sich mit der Gattung jedoch ein intuitives Vorurteil, dass sich nämlich die Wirklichkeit in den Augen und Texten der Reisenden ungebrochen spiegelt. Dieser »Mythos des empirischen Blicks« (S. 20) werde, so die Verfasserin, in der Forschung bis heute perpetuiert und habe dazu geführt, dass die naive Einheit aus Text und Bild, Reise und Beschreibung wie sie etwa in den Apodemiken der Aufklärung postuliert wurde, fortgeschrieben wird. Dieser Vereinfachung, die noch in Albrecht Koschorkes Geschichte des Horizonts als Reduktion des Sehens auf die Zentralperspektive nachwirke, setzt Jost die äußere und innere Bewegung des Blicks entgegen, die durch den »Strukturwandel der Wahrnehmung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« bewirkt worden sei. Gewährsmann für diese antiempirische, subjektive Konstruktion der Wahrnehmung auf Reisen ist Georg Forster. Dessen Korrespondenz-Ästhetik zwischen der Subjektivität des Reiseschriftstellers und der des Lesers fundiert die Analyse subjektiver Konstruktion von Landschaft im Medium der Reiseliteratur.

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Eingekleidet in die Kritik an der mutmaßlichen Objektivität von Reisebeschreibungen, am reduktionistischen Feminismus und an einem unzureichenden Landschaftsbegriff wird die Forschung engagiert und profunde in einer »stellvertretenden Auswahl« diskutiert (S. 20–54 und 67–72). Da die Forschung zur Reiseliteratur inzwischen gut dokumentiert und strukturiert ist, 3 stört an der Auswahl nur, dass dadurch die Forschungslücke lediglich unsystematisch erschlossen wird. Zumal die Wahl des Textkorpus nicht zwingend erscheint. Denn weder sind die Reisen der drei Schriftstellerinnen hinreichend repräsentativ noch beabsichtigt Jost, einen wie auch immer gearteten weiblichen Blick auf Landschaft zu bestimmen, so dass die Auswahl trotz der kurzen Einführung in Leben und Werk der drei Autorinnen (S. 54–66) letztlich kontingent bliebt. Das Vorhaben, einerseits »eine ausführliche wissenschaftliche Würdigung der besonderen literarisch-ästhetischen Leistung« dieser Autorinnen »auf dem Gebiet der Landschaftsdarstellung innerhalb der Gattung der Reisebeschreibung« (S. 54) vorzunehmen und diese andererseits mit einer allgemeinen Analyse der Landschaftsästhetik um 1800 zu verschränken, erscheint daher nicht in jeder Hinsicht stimmig.

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Von der Kunst des Sehens zum künstlerischen Sehen

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Ausgehend von einem weit gespannten Bild-Begriff, der jede Form der »Ins‑Bild‑Setzung« von Landschaft (S. 16), aber auch Wahrnehmungsregeln und ganze Diskurseinheiten umfasst, zeichnet die Studie in den ersten beiden allgemeinen Hauptteilen »Reiseliteratur als Medium von Landschaft« und »Landschafts›bilder‹ – Landschafts›texte‹« das Verhältnis von Reisen und bildhaftem Sehen nach. Sie zeigt, dass die ›Bilder‹ von Landschaft wie der Reisebericht insgesamt immer intertextuell konstruiert sind. Ergiebiger als der präzise philologische Nachweis, dass sich etwa auch Sophie von La Roche der Sprachbilder Albrecht von Hallers für ihre Schweizerreise bedient und dass literarische Motti nicht als ›Sehhilfe‹, sondern jeweils als Interpretament der literarischen Landschaftskonstruktion fungieren, ist jedoch die Feststellung, dass sich in der Naturwahrnehmung des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine »neue Sehweise des schweifenden Auges« (S. 75) herausgebildet hat. 4

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Dieser Sehweise wendet sich im Wechsel von systematischer Darstellung und Fallstudien der Hauptteil der Studie aus dem Blickwinkel verschiedener Medien zu. So wird präzise entwickelt, dass sich mit einem bewegten oder in Bewegung gedachten Betrachter die Landschaftswahrnehmung von kleinformatigen Bilderketten in Rahmenschau zu begehbaren Panoramen wandelt. Was für die Reise als Medium des bewegten Sehens evident ist, dass nämlich rezeptionsästhetisch das implizite Auge als ›bewegliches‹ angelegt ist, zeigt Jost analog auch für die Landschaftsmalerei (S. 73–88) und die Ästhetik des Landschaftsgartens (S. 89–111), dessen Staffelung verschiedener Blickachsen bereits vor der Reiseliteratur ein Laboratorium für die neue Sehweise bot. Ein solches von der Zentralperspektive emanzipiertes Sehen erscheint zugleich befreit von den Deutungsmustern der aufklärerischen Apodemiken und trifft sich in seiner Zweckfreiheit mit einer spielerisch befreiten Intertextualität wie sie sich sowohl für Johanna Schopenhauers Miss‑Lucy‑Satire wie für Friederike Bruns Beschreibung des Genfersees nachweisen lässt. Schließlich verweist das im Dialog mit den Prätexten ausgebildete Prinzip des »›Selbersehens‹ der Landschaft« (S. 230) ebenso wie der prozessuale Charakter des Sehens zunehmend auf den Betrachter als schöpferisches Subjekt und somit Künstler.

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Bewegte Blicke

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Die entgrenzte, rahmenlose Sehbewegung des autonomen Betrachters führt schließlich zu einer Verinnerlichung des bewegten Blicks, der, so Jost, mit Kants Begriff des Erhaben korrespondiere: »Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der Natur bewegt: da es in dem ästhetischen Urteile über das Schöne derselben in ruhiger Kontemplation ist« (S. 249). Insbesondere für Friederike Brun kann Jost plausibel zeigen, dass die rationalistische Rahmenschau zugunsten eines sukzessiven Schauens, das den »unstäten Blick« (S. 280) geradezu inszeniert, ersetzt wird. Dass die Rahmenschau eine für den Reisebericht gattungsspezifische Darstellungsform von Landschaft sei, wie es Koschorke nahe legt, erscheint somit fraglich. Die Ästhetisierung des Blicks brachte vielmehr auch die funktionale Suspendierung von Orientierungshilfen wie dem Rahmen mit sich und zeigt das Bemühen, die Landschaft gegen Widerstände der klassizistischen Ästhetik als eine eigenständige Kunstform aufzuwerten.

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Ein besonderer Vorzug der Studie besteht darin, dass ihre doppelte, produktions- wie rezeptionsästhetische Analyse nicht mit der empfindsamen Subjektivierung der Landschaftswahrnehmung endet, sondern aus den intertextuellen Darstellungsexperimenten um 1800 künstlerische Modelle einer intersubjektiven Landschaftsschilderung aufzeigt. So kann der Leser in textnahen Interpretationen nachvollziehen, wie Friederike Brun zugunsten der Fernsicht die noch von Sophie La Roche bevorzugte Reihung kleiner, statischer Tableaus für ihre Beschreibung des Montblanc in eine sukzessive, die Bewegung des Betrachters abbildende polyperspektivische Gesamtschau transformiert, während Johanna Schopenhauer, eingebettet in den Zusammenhang der Weimarer Klassik, die durch Bewegung anthropomorphisierende Perspektive weiterführt, indem sie in ihren Reisen durch England und Frankreich die Natur zur humanistischen Ideenlandschaft überformt (S. 395–433).

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Bewegte Bilder

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Allerdings lässt sich diese Verschiebung nur schwer als diachron angelegter Wandel beschreiben. Vielmehr zeigt insbesondere die Engführung von Ästhetik, Landschaftsmalerei und Gartenkunst, dass der von Jost untersuchte Prozess von der Adaption älterer Wahrnehmungsmodelle (barock-klassische Landschaftsmalerei, Vogelperspektivrelief) über die »Entwicklung und Erprobung neuer Sehformen und Darstellungsmittel bis hin zur Konventionalisierung« (S. 18) in der Reiseliteratur um 1800 oftmals gleichzeitig begegnet. Erst im Rückblick, vom Fluchtpunkt der Popularisierung filmischer Sehweisen im 19. Jahrhundert aus, lässt sich überhaupt entscheiden, welches der ekphrastischen Modelle sich durchgesetzt hat.

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Der intermediale Vergleich zwischen Reiseliteratur und populären Illusionsmaschinen, wie den Dioramen Johann Augustin Siegerts, den Pleoramen Carl Ferdinand Langhans’ und den beliebten Panoramen (S. 348–394) zeigt, dass die Befreiung des Sehens und der Landschaftsblick als zweckfreie Kunst im Reisebericht Keimzellen für die protocineastischen Medien und die Emanzipation des reinen Sinnenreizes in der Täuschung waren.

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Zwar kann die Studie kaum Neues zur Kulturgeschichte der bereits gut erforschten ›horamatischen‹ Medien des 19. Jahrhunderts beitragen, die Archäologie dieser Medien in der Blickführung der Reiseliteratur um 1800 zu betreiben, erschließt jedoch die wenig bekannte Wechselwirkung zwischen Text- und Bildmedium. Dass die Pleoramen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu stereotypen Landschaftsbeschreibungen etwa des Mittelrheins geführt haben, stellt nur die eine, bisher in der Forschung ausschließlich wahrgenommene Richtung dieser Austauschbeziehung dar. Demgegenüber zeichnet Jost die vorgängige Etablierung filmischer Sehweisen in der Reiseliteratur nach, indem sie den Reisebericht, als ästhetisches Experimentier- und Popularisierungsmedium, betrachtet.

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Blickkontrolle

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Das letzte Kapitel, das vor allem Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg behandelt und nach einem beachtlichen Zeitsprung Wege beschreitet, die abseits des ursprünglich bestimmten Textkorpus verlaufen, ist mehr ein methodischer Exkurs denn eine Ausweitung der historischen Perspektive (S. 463–522). Als eine Art spätzeitlicher Gegenprobe beglaubigt dieser Ausblick trotz mancher Redundanzen nochmals die These von der literarischen Konstruktion der Landschaft am Beispiel eines Kulturraums, der anders als etwa die Schweizer Alpen oder die englischen Parklandschaften ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war. Im Vergleich mit Fontanes journalistischen Reisebildern aus Schottland zeigt Jost, wie die Mark Brandenburg durch intertextuelle Anreicherung, historische Vertiefung und Normierung des Blicks erst zu einer poetischen Landschaft stilisiert wird.

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Dabei lässt sich nicht immer entscheiden, ob Fontane die Möglichkeiten des Reiseberichts weiterentwickelt oder lediglich auf überkommene Muster zurückgreift, teilweise gar hinter die Experimente um 1800 zurückfällt, wenn er Topographie in der von Jost so genannten Form des rational-aufklärerischen »Koordinatennetzes« (S. 496) betreibt. Die Gegenprobe lässt es daher als fraglich erscheinen, ob die Geschichte des modernen Landschaftsblicks überhaupt als lineare Entwicklung beschrieben werden kann, oder nicht vielmehr von einem Nebeneinander ganz unterschiedlicher Wirkungsabsichten bestimmt wird. Der aktualisierende Vergleich, Fontanes Landschaftsbilder seien der »Optik der modernen Digitalkamera mit Panoramafunktion« verwandt, verlängert scheinbar die Entwicklung bis in die Gegenwart, verstellt dadurch jedoch eher den Blick für die Persistenz anachronistischer Landschaftsmodelle, die gerade auch in der Reiseliteratur überdauern.

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Fazit

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Die aspektreiche und sorgfältige Studie von Erdmut Jost erschließt die Vielschichtigkeit der medialen Vermittlung des modernen Blicks auf Landschaften und stellt für kultursoziologische wie ästhetische Landschaftstheorien ein historisch differenziertes, wenngleich nicht durchgehend konsekutives Entwicklungsmodell der modernen Landschaftswahrnehmung bereit. Gelegentlich bedauert man, dass trotz der insgesamt gut lesbaren Sprache das vorangestellte Motto aus Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein: »… daß uns ja das Vorrecht bleibe, inkonsequent und inkalkulabel zu sein« auch auf die Systematik der Studie durchschlägt und den Argumentationsgang verkompliziert.

 
 

Anmerkungen

Eine gute Orientierung in der Diskussion bietet die kunsthistorische Studie von Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels. (Rekonstruktion der Künste 1) Göttingen 2000, und den Ausstellungskatalog von Elsbeth Wiemann (Hg.): Die Entdeckung der Landschaft. Meisterwerke der niederländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts [anlässlich der Ausstellung Die Entdeckung der Landschaft – Meisterwerke der Niederländischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Staatsgalerie Stuttgart, 15. Oktober 2005 bis 5. Februar 2006]. Köln 2005.   zurück
Komplementäre Fallstudien zur Geschichte des Sehens im Wechselspiel von Naturwissenschaft und Literatur um 1800 versammelt Gabriele Dürbeck u.a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800. Dresden 2001. Vgl. die Rezension von Oliver Hochadel in IASLonline [23.03.2005]. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Hochadel9057051672_28.html (Datum des Zugriffs: 04.02.2007).   zurück
Von den wichtigsten Forschungsberichten der letzten Jahre seien genannt Peter Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2, Sonderheft) Tübingen 1999; Uwe Hentschel: Reiseliteratur. Ein kritischer Überblick über einige neuere Forschungsbeiträge. In: Wirkendes Wort 51,1 (2001), S. 119–126 und Michael Maurer: Reisen interdisziplinär – Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive. In: M. M. (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 287–410.   zurück
Die zentrale These hat die Verfasserin bereits im Rahmen einer interdisziplinären Tagung zum Verhältnis von Sehen und Literatur um 1800, die 2002 in Berlin stattfand, vorgestellt: Erdmut Jost: Das schweifende Auge. Zur Entstehung der ›filmhaften‹ Landschaftswahmehmung im 18. Jahrhundert. In: Jutta Müller-Thamm u.a. (Hg.): Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und bildende Kunst in Klassizismus und Romantik. (Rombach Litterae 119) Freiburg 2004, S. 217–244. Einen zumindest prospektiven Hinweis auf diesen einschlägigen Sammelband vermisst man leider in der Dissertation.    zurück