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Gehobene Schätze

Wilhelm Heinses Frankfurter Nachlass

  • Wilhelm Heinse: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass. Hg. von Markus Bernauer, Adolf Heinrich Borbein, Thomas W. Gaehtgens, Volker Hunecke, Werner Keil und Norbert Miller. Gesamtausgabe in 5 Bänden. Bd. I: Aufzeichnungen 1768-1783. Bd. II: Aufzeichnungen 1784-1803. Bd. III: Kommentar zu Bd. I. Bd. IV: Kommentar zu Bd. II. Bd. V: Dokumente, Bibliographie, Nachworte, Bildtafeln, Register. München: Carl Hanser 2003-2005. 5000 S. Gebunden im Schuber. EUR (D) 310,00.
    ISBN: 3-446-20402-4.
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Wilhelm Heinses Frankfurter Nachlass

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Wer die Aufzeichnungen Heinses in der einzigen bisher vorliegenden, sehr seltenen, in den Jahren 1902–1925 von Carl Schüddekopf und Albert Leitzmann im Insel-Verlag edierten zehnbändigen Heinse-Werkausgabe benutzt hat, war immer von ihrer Lebendigkeit, dem unverbrauchten und vorurteilsfreien Blick auf Natur, Menschheit und Kultur angetan. Insbesondere unter kulturgeschichtlichem und kunsthistorischem Aspekt galten Heinses Aufzeichnungen von der Italienreise als Geheimtipp unter allen vorgoetheschen Privatdokumentationen. Man wusste freilich, dass die Werkausgabe nur eine Auswahl enthielt, und so wurde der Wunsch nach einer vollständigen Edition immer dringlicher. Man ahnte, dass es sich hier um einen der bedeutendsten Nachlässe der Literatur des 18. Jahrhunderts handeln musste; man vermutete wahre ungehobene Schätze, eine ungeheure Bereicherung der Kulturkenntnisse. Soweit die Erwartungen und Spekulationen. Nun liegt der Nachlass komplett vor und man hat die Möglichkeit, ihn als Ganzes einzusehen – und ihn mit den in der Werkedition abgedruckten Auszügen zu vergleichen.

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Die Ausgabe des Frankfurter Nachlasses gliedert sich in zwei Textbände (Bd. I: Aufzeichnungen 1768–1783, 1408 Seiten; Bd. II: Aufzeichnungen 1784–1803, 1488 Seiten) und zwei Bände Kommentar (Bd. III: Kommentar zu Bd. I, 1679 Seiten; Bd. IV: Kommentar zu Bd. III, 1255 Seiten) sowie einen fünften Band, der in jeder Hinsicht für die Erschließung der Edition unerlässlich ist (Bd. V: 925 Seiten). Im Einzelnen bietet er außer verstreuten Texten und Briefen eine komplette Bibliographie der Werke Wilhelm Heinses (inklusive der Rezensionen) und der Forschungsliteratur zu Heinse (S. 88–236), eine Zeittafel und eine Reihe von einführenden Nachworten, 128 Bildtafeln und diverse Register. Die Bände seien im Folgenden gemustert.

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Die Textbände enthalten in der Tat den gesamten Nachlass, und insofern übertrifft der Umfang des hier Gebotenen die von Schüddekopf und Leitzmann in der Werkausgabe (SW) getroffene Auswahl beträchtlich. Beide hatten sich in ihrer Ausgabe auf eigene Texte Heinses konzentriert und die zahlreichen Exzerpte und referierenden Partien ausgesondert. Abhängig war diese stringente Auswahl vom Werkbegriff der Herausgeber, die sie mit der damaligen Literaturwissenschaft teilten. Innerhalb der Werkausgabe enthält der von Schüddekopf edierte Band VII die Tagebücher, die drei von Leitzmann edierten Bände VIII, 1, 2, 3 die sonstigen Aufzeichnungen unter dem Begriff »Aphorismen« – in völlig unzutreffender Nomenklatur, weil sie einen Werkbegriff suggerieren, der tatsächlich nicht gegeben war. Stellte der hier gebotene Nachlass bereits früher eine wahre Fundgrube für Literatur- und Kunsthistoriker dar, so hat er – im Zeichen eines verstärkten Interesses am Fragmentcharakter von Literatur – jetzt eine völlig neue Wertigkeit erhalten. Die Aufzeichnungen gewähren Einblicke in einen Kulturkreis und einen Denk- und Lebenskomplex und zwar in statu nascendi – man ist gewissermaßen aus nächster Nähe dabei; bei älteren Autoren findet sich eine solche ungefilterte Nähe zum Gesehen und Erlebten, eine solche Unmittelbarkeit und Spontaneität ganz selten.

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Hatten die in der Werkausgabe angelegten Selektionsprinzipien den Eindruck eines geschlossenen Werkteils erweckt, so lässt sich bei Vorlage des Gesamtkomplexes erst jetzt erkennen, welche Partien tatsächlich von Heinse stammten, wo die Grenzen zwischen eigener Aufzeichnung, Exzerpt und Referat lagen und wo sich ein Ansatz zu literarischer Gestaltung finden ließ. Die vorliegende Ausgabe erfüllt diese Wünsche nach einer kompletten Wiedergabe des Nachlasses aufs Schönste, ja sie übertrifft in manchen Punkten auch hochgesteckte Erwartungen. Dennoch muss – nach einem Vergleich mit den bei Leitzmann abgedruckten Partien gegenüber allzu euphorischen Heureka-Rufen einschränkend gesagt werden: Die Edition wird unser Bild von Heinse nicht grundsätzlich verändern. Die neu erschlossenen Texte haben eher peripheren Charakter; Leitzmann hat in seiner alten Ausgabe tatsächlich die wichtigsten Partien abgedruckt. Das heißt freilich nicht, dass der Abdruck der neuen Partien überflüssig ist. Sie gestatten vielmehr ganz neue Einblicke in die Werkstatt Heinses. Dazu im Folgenden einige Erläuterungen.

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Zur Edition

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Das Neue der Edition erschließt sich am besten im Detail. Die beiden von Markus Bernauer, dem Organisator der Edition, stammenden Nachworte »Wilhelm Heinse und seine Aufzeichnungen« und »Zur Geschichte von Wilhelm Heinses Frankfurter Nachlass« vermitteln Einblicke in die extremen Schwierigkeiten, mit denen die Editoren zu kämpfen hatten. Jeder Nachlass hat seine Geschichte; aber bei einem so umfangreichen Komplex wie dem Heinse-Nachlass gab es Probleme besonderer Art: die 52 erhaltenen Nachlass-Hefte mit ihren rund 3400 autographen Blättern (gegenüber 14 verschollenen Heften) sind nicht einheitlich: ein Teil besteht aus losen Blättern (Sammelmappen), ein Teil aus vorgängig gebundenen Heften, ein Teil aus nachträglich gebundenen Heften. Hinzu kommen zahlreiche Eingriffe von Nachlassverwaltern und Benutzern, über die in den Nachworten akribisch Auskunft gegeben wird.

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Dennoch gibt es keinen Grund, an einer zumindest grundsätzlichen Originalanordnung durch Heinse selbst zu zweifeln. Dies hat dann gegenüber der Anordnung in der Schüddekopf / Leitzmannschen Ausgabe zu einer neuen Konzeption der Gesamtanordnung geführt. Schüddekopf hat die von ihm ausgewählten Partien des Nachlasses über die einzelnen Bände seiner Ausgabe verteilt: Die Gedichte in den ersten Band, die Briefe in den zehnten; weitere Texte finden sich in Bd. III, 2 und in Bd. IV. Die Prosa-Aufzeichnungen wurden in (meist datierte) Tagebuchaufzeichnungen (in Bd. VII) und »Aphorismen« unterteilt, welch letzterer Terminus ein Notbehelf ist, weil es sich gar nicht um Aphorismen handelt, sondern um undatierte Aufzeichnungen unterschiedlichster Art. Für den Leser allerdings ist dieses Verfahren sehr freundlich, weil er so den Rahmen der Italienreise leicht erkennt und die übrigen Aufzeichnungen unabhängig vom Verlauf der Reise lesen kann.

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Es ist freilich eher ein didaktisches Vorgehen, als ein genetisch und textsortenspezifisch begründbares. Denn tatsächlich gehen Erlebnisnotate und Reflexionen ineinander über, lassen sich so strikt nicht immer trennen, außerdem muss auch mit dem Verlust von Reiseaufzeichnungen gerechnet werden (FN V, S. 398, sowie Auskunft von Markus Bernauer), weil sich diese Aufzeichnungen im ›Loseblattordner‹ N60 befunden haben. Die Anordnung der neuen Edition ergab sich deshalb aus dem Bestand und der Struktur der Texte von selbst:

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Im Gegensatz zur Ausgabe von Schüddekopf und Leitzmann geht diese Edition nun von der These einer generell originalen Überlieferungssituation bei den Aufzeichnungen in den gebundenen Heften und in dem überwiegenden Teil der losen Manuskripte aus. Die konsequente Dokumentation des Nachlasses in der gegebenen Anordnung, ohne editorische Eingriffe, deren Ziel war, Widersprüchlichkeiten chronologischer und inhaltlicher Art zu glätten, ermöglicht es nunmehr, die Aufzeichnungen in ihrem Werkcharakter wahrzunehmen sowie Gestaltungswillen und Bearbeitungsmethoden Heinses in diesem bedeutsamen Teil seines Oeuvres nachzuvollziehen. (Bd. V, S. 337)
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Man könnte vielleicht besser sagen: »Werkstattcharakter«, denn stärker als bei Schüddekopf / Leitzmann bleiben hier auch die quasi fragmentarischen Teile unangetastet, nach dem Prinzip des gesamtheitlichen und diplomatischen Abdrucks. Freilich kommt es auch zu zunächst etwas irritierenden Entscheidungen wie dem fast identischen Abdruck zweier »Fassungen« (N60, 11r–12v als erste Fassung und N60, 17r–20v als zweite Fassung), die sich unmittelbar folgen (FN I, S. 445–447 bzw. 450 f.). Bezüglich des Textmaterials zur Italienreise (mit rund tausend Seiten der größte Komplex) ergibt sich eine Umrahmung der undatierten Aufzeichnungen von den die Hinreise und die Rückreise dokumentierenden Tagebuchpartien. FN schiebt konsequent die während des Italienaufenthalts geschriebenen Notate zwischen die tagebuchartigen Aufzeichnungen.

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Es ist eine Grundsatzentscheidung, die sich nicht an Lesefreundlichkeit, sondern an Wiedergabe-Treue und möglichst chronologischer Reihenfolge der Aufzeichnungen orientiert. Dabei gelingt eine Richtigstellung der bei Schüddekopf chronologisch vertauschten Blöcke N26½ (SW VII, 70–88) vor N19 (SW VII, S. 89–169). Tatsächlich muss, wie auch aus der Datierung hervorgeht, N19 vor N26½ zu stehen kommen (NF I, S. 1141–1181, S. 1183–1224). Für den nichtwissenschaftlichen Leser wäre eine separate Ausgabe von Heinses Briefen aus Italien und der Tagebuchpartien der Hinreise und des Neapelaufenthalts (N60), und der Rückreise (N19, N26½, N20) und allenfalls eine Auswahl der in Italien entstandenen Aufzeichnungen wünschenswert.

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Heinses Reflexionen im Kontext

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Gerade das Verhältnis von selbst formulierten und referierten Partien wird erst in der gesamtheitlichen Wiedergabe deutlich und erhält einen neuen Stellenwert. Schüddekopf und vor allem Leitzmann haben häufig Zusammenhänge zerrissen, indem sie Heinses selbst formulierte Einsichten herausgepickt haben. So wirken denn viele Reflexionen Heinses wie Lichtenbergsche »Aphorismen«, als selbständig und kontextuell unabhängig formulierte Einsichten, schlaglichtartige Einfälle und Geistesblitze. Tatsächlich lässt erst der Blick auf den Kontext erkennen, wie diese selbstformulierten Erkenntnisse oder Aperçus in geistigem Zusammenhang mit den vorhergehenden Exzerpten oder Referaten stehen, ja oft aus ihnen hervorgehen, als Resultante oder als Widerspruch oder als flankierender Kommentar. Die erste Konkordanz, die sich an den Nachlassheften orientiert, zeigt, wie viele Partien in der SW-Ausgabe fehlen. Die exakte Nachprüfung ergab dann allerdings, dass es sich im wesentlichen um tabellarische Listen, seitenlange Exzerpte (etwa FN Bd. II, S. 15–17, 52–55, 56–58, 61–63, 63–68 usw.) und inhaltliche Referate fremder Schriften, also um Lesefrüchte handelt.

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Das kann durchaus interessant sein, weil es eben den Zusammenhang, das aus dem Exzerpt sich entwickelnde eigene Denken aufzeigt und dokumentiert, wie untrennbar diese selbstformulierten »Aphorismen« mit dem Lektüreprozess verbunden sind. Es handelt sich keinesfalls um frei schweifende Einfälle, sondern um quasi Lese-Meditationen. Mithin ist auch der Begriff »Aphorismus« von der Textgenese her unangemessen, geeigneter erscheinen mir die Begriffe Meditation oder Reflexion. Ein Beispiel etwa findet sich in N26, FN II, S. 232–234, wo erst der Kontext, die vorausgehenden Inhaltsangaben zur Politeia von Aristoteles die bei Leitzmann (SW VIII, 3, S. 78–80) abgedruckten freien Reflexionen erklärt. Andere wichtige Exzerptkomplexe fehlen in SW, etwa zu Romanentwürfen (N39, FN I, S. 218–225), zu Aristoteles (N64A; FN I, S. 229–264), die Exzerpte aus Winckelmann (N55; FN I, S. 294–313), vermischte Exzerpte (N82; FN II, S. 1181–1286). Keine Frage: In SW sind die wesentlichen, von Heinse selbst stammenden Gedanken abgedruckt, vielleicht erscheint sogar zu Vieles als sein geistiges Eigentum. Einige Highlights aus den neu hinzugekommenen Passagen seien eigens erwähnt: FN I, S. 19–62 (Gedichte), FN I, S. 986 (Reflexion zu Dürer), FN II, S. 784–796 (Reflexionen zu Grazie, zu Musik).

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Das große Interesse des heutigen Lesers richtet sich auf die Aufzeichnungen von Heinses Italienreise. Goethes Italienische Reise hat ja für gut 150 Jahre alle anderen Reise-›Erschreibnisse‹ verdunkelt (so unterschiedlich sie auch sein mochten). Dabei stehen Heinses Erfahrungen und Erschreibungen, da sie vor Goethes Italienaufenthalt verfasst wurden, nicht unter jenem Zugzwang, der etwa Herders Notate kennzeichnet: Goethes Erlebnis der »Wiedergeburt« ›einzuholen‹, es gewissermaßen am eigenen Leib und an der eigenen Seele selbst zu erfahren. Heinses Erleben und Schreiben ist deshalb viel unbefangener, er steht – in ästhetischer Hinsicht – auch nicht in blinder Winckelmann-Nachfolge; im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Winckelmann distanziert er sich vielmehr von dessen Griechenverherrlichung (FN I, S. 275: »Im Lob der Griechen und der griechischen Künstler ist Winckelmann wirklich unerträglich.«). Sein Reisen repräsentiert einen Typus jenseits der Kavalierstour und jenseits der reinen Gelehrtenreise; seine Wahrnehmung steht für eine zwar empfindsame, dabei aber ›vitalistische‹ Erlebensweise, hierin auf den Gestus des ›Sturm und Drang‹ vorausweisend.

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Editionsprinzip: Diplomatischer Abdruck

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Heinses eigentlicher Nachlass befindet sich in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt, seine Reisebriefe an Jacobi in der Berliner Staatsbibliothek, ein von der Familie Soemmerrings erst 1908 verkauftes Briefkonvolut beim Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt. Die konkrete Entzifferungsarbeit fand in Berlin statt und zwar auf der Basis von vergrößerbaren, digitalisierten Fotos der Handschriften, ein Verfahren, das in der Tat gegenüber dem früheren Arbeiten mit der Lupe erhebliche Vorteile hat.

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Der Abdruck bezieht sich auf sämtliche von Heinses eigener Hand geschriebene Blätter; Abschriften und von fremder Hand stammende Hefte wurden nicht berücksichtigt.

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Außer bei gegründeten Ausnahmen hält sich die Ausgabe an die Anordnung der Hefte. Gewählt wurde »das Verfahren der Transkription, nicht jenes der Transliteration«, angestrebt wurde ein Text, »der das Ergebnis von Korrekturen des Autors ist, nicht ein Text, der den Schreibvorgang abbildet« (S. 419).

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Die Wiedergabe des Textes erfolgt als diplomatischer Abdruck (mit den Fehlern der Vorlage), ein textkritischer Apparat findet sich jeweils am Ende der beiden Textbände. Bei der Wahl der verwendeten Schriften und Zeichen hat man sich um löbliche Zurückhaltung bemüht; gleichwohl wird der interessierte Leser noch lange zur Tabelle der Schriften und Zeichen greifen müssen (S. 423 f.), um die Bedeutung der jeweiligen Schrifttypen und Zeichen zu erkennen. Fatalerweise hat sich ausgerechnet hier ein Fehler eingeschlichen; auf Seite 423, unterste Zeile, fehlt bei der Notation für »aufgehobene Streichung« die Unterpünktelung!

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Ein Vergleich zwischen der Textwiedergabe in den SW und in der FN-Ausgabe soll an einem Beispiel Unterschiede aufzeigen. Zum einen betrifft dies die Textvollständigkeit. In N23 etwa zerreißt Leitzmann den Zusammenhang der Heft-Niederschrift und druckt, was FN I, S. 321–325 steht, an zwei verschiedenen Stellen: SW VIII, 1, S. 92 und S. 411, lässt indes den großen Mittelteil gänzlich weg (vgl. Konkordanz FN V, S. 434). Zum andern betrifft es die Qualität der Textwiedergabe. SW löst Heinses Kürzel auf und nimmt auch orthographische Normalisierungen vor. FN behält den Zeichenstand des Originals strikt bei. Gegenüber dem Abdruck in den SW wurde eine Reihe neuer Partien entziffert (wo bei SW noch Pünktchen standen) bzw. neue Lesungen einzelner Wörter (z.B. FN I, S. 498 Z. 4 »Pfuhlbetten«, SW VII, S. 68 Z. 6 »Stuhlbetten«) bzw. Satzteile erreicht.

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In SW VII, S. 63 Z. 6–8 war zu lesen: »Ulmbäume, Nussbäume – – – Castanien, Eschen, Wein, später Oel, Eichen, herrlicher Blick ins Meer. Pomeranzen am linken Felsen.« Jetzt heißt es in FN I, S. 493, Z. 7–9: »Ulmb. Nußb. Siberischer Lärgen Castgnen, Eschen, Hinten Oel, Eichen, herrlicher Blick ins Meer. Pomeranzen vorm linken Felsen.« Die Anm. 193 im textkritischen Apparat verrät, dass das Wort »Vorn« doppelt durchgestrichen wurde und durch das darüber eingefügte Wort »Hinten« ersetzt wurde.

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Bei derartig sorgfältiger Arbeit begegnen Fehler nur selten. Zufallsfunde aus Band V finden sich auf S. 90 (Z. 8 v. u., wo es heißen muss »Bd. VIII/1 – 3« statt »Bd. VII/1 – 3«); S. 265 (Z. 14 »Angebeteten« statt »Angebeten«); S. 296 (Z. 25 »1782« statt »1780«); S. 403 (Z. 17 »würde«); S. 405 (Z. 19 fehlt »zufolge« nach »Nummerierung«); S. 425 (unterste Zeile fehlt die Seitenangabe »S. 100« vor der Zeilenangabe »10 – 13«).

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Mehrwert: Kommentar

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Schüddekopf / Leitzmanns Ausgabe enthielt den Nachlass ohne jegliche Erläuterungen. Den eigentlichen Wert der neuen Nachlass-Edition macht der Kommentar aus. Da Heinses breit gefächerte Interessen sich insbesondere auf antike Geschichte und Kulturgeschichte, auf Kunst und Kunstgeschichte, auf Literatur und Literaturgeschichte, auf Ästhetik und Musik konzentrierten, war ein interdisziplinäres Zusammenarbeiten unumgänglich. Bei solchen zum Teil skizzenhaften oder mit Abkürzungen versehenen Texten lässt sich im Grunde fast alles kommentieren, und die Bearbeiter ergreifen auch die Gelegenheit zu ausführlichen Erläuterungen, Belegen, Quellenzitaten und Erörterungen. So erschöpfend der an Umfang den Textteil übersteigende Kommentar ist, so muss auch er die Stichwörter auswählen; manchmal hätte man lieber weniger zu einzelnen Stellen, dafür weitere Stellen erläutert. So etwa den Passus: »Alexander war ein großer Mensch. Nichts in sich zurückgezogenes, alles frey heraus, die Geschichte mit dem Klitus ist ganz nach seinem Charakter u macht ihm Ehre. Die Verbrennung von Persepolis ist wieder herrlich.« (FN I, S. 372) Hier hätte man gerne erfahren, wieso die Ermordung des Freundes Kleitos Ehre macht? Übrigens fehlt unter dem Namen Kleitos (Clytus) im Personenregister diese Stelle (nur FN I, S. 498, wo eben diese Ermordung genannt wird). Die Stelle ist ein zentraler Beleg für Heinses nicht mit dem Maßstab der Moral definierte Kategorie der Größe.

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Ein anderes Beispiel: Die Inschrift der Brücke, die als Neuentzifferung ausgegeben wird (FN V, S. 453), findet sich bereits in SW VII, S. 96 (mit nur zwei unterschiedlichen Lesungen gegenüber FN I, 1146: »Innocentis« gegenüber »Innocentio« und »grassum« gegenüber »gressum«). Der Kommentar in FN III, S. 1381 f. allerdings liefert eine Übersetzung und eine Erläuterung der fraglichen Stelle.

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Im Grunde kann man dankbar sein, dass der Kommentar erst im Zeitalter der Internet-Kommunikation erstellt wurde. In früheren Zeiten wäre die Beschaffung aller Information über den Bibliotheksweg fast unmöglich gewesen. Als paradox erscheint es geradezu, dass der Nachlass mittlerweile besser kommentiert ist als jedes literarische Werk von Heinse (einschließlich des Ardinghello). Man fragt sich zuweilen, ob der ausufernde Kommentar nicht Indiz für eine Neopolyhistorie ist, welche die Gewichtung von Literatur nivelliert. Verdienen Aufzeichnungen, die nach herkömmlichem Literaturverständnis eher zur Erklärung von Kunstwerken herhielten, nun den gleichen Status wie die Werke selbst? Eine Tendenz zur Nivellierung der Textsorten kündigt sich hier an.

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In kulturgeschichtlicher Perspektive gewinnen solche Texte zwar den Rang von Informationsträgern – eine Wertigkeit, die Kunstwerken nur peripher zukommt –, doch muss man fragen, ob es nicht immer noch die Hauptaufgabe von Literaturwissenschaft sei, sich ästhetischen Texten zuzuwenden? Bleibt also abzuwarten, welchen Gebrauch die einzelnen Disziplinen von dieser nur interdisziplinär erschließbaren und insofern disziplinenübergreifenden Materialsammlung machen. Der Gebrauchswert entscheidet dann über die Funktionalität des Kommentars. Andernfalls hätten die Notate nur den Anlass für alexandrinische Kommentierung geboten und der eigentliche Wert der Edition läge in ihr.

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Nachworte

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Die nötigen Rahmen-Informationen erhält der Leser durch eine Reihe kundiger Nachworte. Dies gilt zum einen für Bernauers Einführung »Wilhelm Heinse und seine Aufzeichnungen«, der »Leben und Meinungen« Heinses nachzeichnet und die Aufzeichnungen als »Sammlungen von Lesefrüchten« und dazugehörende »Kommentare« charakterisiert (S. 279). Dürten Hartmanns Rechenschaftsbericht »Zu Entstehung, Bestand und Überlieferung der Aufzeichnungen« ist außerordentlich akribisch und lässt sich minutiös u.a. über Papiersorten, Bindung, Nummerierung, Paginierung, Schreibmaterial, Schriftart, Anordnung und Aufbau innerhalb der Hefte sowie Datierungsfragen aus; man muss die hier vorgelegten Deskriptionen und die daran angeschlossenen Reflexionen und Schlussfolgerungen glauben (etwa zur Authentizität der Anordnung bzw. zur »Gestaltung der Aufzeichnungen als Suche nach Ordnung« bzw. Soemmerrings Anteil am Frankfurter Nachlass); nachvollziehen lassen sie sich ohne Einsicht in das originale Nachlassmaterial nicht immer (z.B. S. 365 zu N16). Für den Benutzer des Nachlasses werden sie allerdings unerlässlich sein. Einige Wiederholungen in den verschiedenen Nachworten ließen sich offenbar nicht vermeiden (z.B. Ausführungen über den Inhalt der Blätter).

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Die »Geschichte des Frankfurter Nachlasses« und der diversen Versuche, wenigstens Teileditionen zu veranstalten, erklärt auch, weshalb es so lange gedauert hat, bis es zu einer Gesamtedition gekommen ist. Nicht genug ist deshalb die Gerda Henkel-Stiftung zu preisen, die mit einer Unterstützung von 700.000 € das ganze aufwändige Unternehmen und die großzügig ausgestattete Buchausgabe erst ermöglicht hat.

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Verstreut über die Textbände finden sich Faksimile-Wiedergaben von Heinses Handschriften; die 128 Schwarz-Weiß-Abbildungen der in den Aufzeichnungen angesprochenen Kunstwerke sind durchweg von guter Qualität; sehr nützlich sind die Karten und Pläne (Bd. V, S. 499–528) sowie die Listen mit Maßen, Gewichten, Währungen und Zeitrechnungen (S. 529–548). Unerlässlich für die quellenintensive Arbeit mit den Aufzeichnungen sind die beiden Konkordanzen (S. 425–48). Die erste, an den Nachlassheften orientierte Konkordanz gewährt Einblick, wie viele Texte neu aufgenommen wurden; die zweite, an Schüddekopfs Werkausgabe orientierte Konkordanz erleichtert das Auffinden bzw. Identifizieren der Einzelstellen innerhalb der Ausgaben und der Nachlasshefte. Zwei umfangreiche Register (S. 576–925) beschließen die Ausgabe: ein Register der Personen und ihrer Werke, und ein Register der Orte und ihrer Kunstwerke.

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Fazit

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Zwar entsteht durch die Neuedition der Nachlass-Aufzeichnungen kein neues Bild von Heinse, wohl aber ein differenzierteres und fundierteres Bild. Die Nachlass-Edition schafft die Basis für eine vertiefte Erforschung seines Werks, und gerade auch des literarischen Werks. Der Künstlerroman Ardinghello oder die glückseeligen Inseln wurde schon oft analysiert; in seinem Schatten standen seit je der Musikroman Hildegard von Hohenthal und der Schachroman Anastasia und das Schachspiel. Die im Nachlass auch erschlossenen einschlägigen Materialien ermöglichen hier neue Zugänge. Insofern wird hier die Basis bereitgestellt für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Werk Heinses und seinen Beziehungen zur Kultur-Tradition und zeitgenössischen Kunst-Diskussion. Heinse ist nicht nur der Sensualist, der mit allen Sinnen wahrnimmt und sinnlich farbenfrohe Deskriptionen niederschreibt – er ist auch ein mit wissenschaftlichen Büchern arbeitender Gelehrter. Damit gehört der Komplex seiner Italienaufzeichnungen nicht so eindeutig zum empirisch-sensuellen Paradigma des Proto-»Sturm und Drang«, wie bisher angenommen, vielmehr rechnet er zur Übergangsphase zwischen gelehrtem und empirischem Reiseparadigma.

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»Ich bin, weil auf mich gewirkt wird, weil ich empfinde.« (FN I, S. 426) Dieser Satz könnte über einem Großteil der Aufzeichnungen mit Beobachtungen stehen. Heinses Notate repräsentieren diese Kombination aus empirischem Wahrnehmen und philosophischer Reflexion. Hinsichtlich ihres literarischen Gewichts rücken sie in eine Reihe mit Lichtenbergs Sudelbüchern, übertreffen diese freilich an Welthaltigkeit und poetischer Intensität. Man kann stundenlang ihn ihnen schmökern, ohne zu ermüden und findet die interessantesten Materien, Erfahrungen, Themen. Mit einer will ich hier schließen, weil sie die Aktualität von Heinses Denken blitzlichtartig erhellt: »Die Religion Mahomeds hat doch die schrecklichsten Kriege verursacht. Arabische und Orientalische Phantasie u Heftigkeit geht weit über Italiänische und Spanische.« (FN II, S. 347; auch SW VIII, 2, S. 249 f.) Im Kommentar liest man allerdings einschränkend: »Möglicherweise nach Edward Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire, Kap. 50 und 51 […].« So verhält es sich mit vielen Partien, vor allem der neu aufgenommenen: Die Zuschreibung ist nicht immer eindeutig, und so eröffnet sich der Heinse-Forschung ein weites Feld für die unterschiedlichsten Analysen. Was Besseres ließe sich über eine Edition sagen?