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Der Mikro- und Makrokosmos der
Gedächtnisfiguren im Cod. vind. 5393

  • Sarah Khan: Diversa Diversis. Mittelalterliche Standespredigten und ihre Visualisierung. (Pictura et Poesis 20) Köln, Weimar: Böhlau 2007. X, 490 S. 55 s/w, 22 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 69,90.
    ISBN: 978-3-412-27905-9.
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Material: Cod. vind. 5393

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Die Kunsthistorikerin Sarah Khan beschäftigt sich in der vorliegenden überarbeiteten Fassung ihrer 2001/02 an der Universität Zürich eingereichten Dissertation 1 mit dem Codex 5393 der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Diese überwiegend lateinische Papierhandschrift mit neuzeitlichem Einband umfasst 351 gezählte Folia (ca. 29,5 x 21 cm) und besteht hauptsächlich (ff. 1r–328) aus Schriftstücken zu den Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), wobei die Akten zum Basler Konzil überwiegen. Dieses Aktenkonvolut ist mit Traktaten, Briefkopien, Abschriften historischer Dokumente und päpstlicher Dekrete sowie mit anderen konzilsbezogenen Schriften durchsetzt (einige wenige davon in Deutsch).

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Das Interesse der Autorin richtet sich speziell auf die Folia 329–339, die auf ihren Rectoseiten elf mnemotechnische Figuren zeigen: Jungfrau (virgo, f. 329r), Monster / Teufel (monstrum, f. 330r), Kanoniker (canonicus, f. 331r), Mönch (monachus, f. 332r), Bader (balneator, f. 333r), Ritter / Soldat (miles, f. 334r), Christus (f. 335r), König (rex, f. 336r), Äthiopier (ethiops, f. 337r), Nonne (monialis, f. 338r), Resümeefigur (Trägerfigur: Jungfrau; f. 339r). Die Figuren nehmen die Längsachse der Folia ein und werden jeweils von zehn Einzelbildern (Khan nennt sie zumeist Motive) besetzt beziehungsweise umgeben, bei denen es sich um Gegenstände, Tiere, Pflanzen, Figürchen beziehungsweise kleinere szenische Darstellungen handelt.

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Die Lage mit dem Figurenzyklus wurde der Aktensammlung ebenso angefügt wie die nachfolgende Sexternio ff. 340–351. Nachdem die Lage mit den Gedächtnisfiguren hinzugebunden worden war, ergänzte man diese durch den mnemotechnischen Traktat Iste ymagines sunt posite, der bereits auf f. 328v beginnt, dann die erste Figur (f. 329r) umgibt, auf der unbemalten Rückseite von f. 329 fortgesetzt wird, um auf ff. 339r und 340r mit einigen Beischriften beziehungsweise Zeichnungen von »Gedächtniszimmern« (Abb. 2 im Buch, Abb. 3 in der Online-Version) abzuschließen. 2

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Weitere mnemotechnische Traktate (S. 28–40)

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In enger Verbindung mit Figuren und Traktat des Cod. vind. 5393 steht die Abhandlung In principio huius operis, von der zwei Textzeugen existieren, welche sich ebenfalls in der Österreichischen Nationalbibliothek befinden: Cod. vind. 4995 (ff. 227r–235v) und Cod. vind. 4121 (ff. 160r–172r). Diese Traktate enthalten Diagramme, die den Aufbau der mnemotechnischen Figuren des Cod. vind. 5393 schematisieren, wobei Hauptfigur und umgebende Einzelbilder in kurzen lateinischen Stichpunkten und Syntagmen wiedergegeben werden. 3 Weiterhin bezieht Khan (insbesondere S. 29–33) die Schrift Memoria fecunda in der Sammelhandschrift Cod. vind. 4444 (ff. 313r–327v) in ihre Überlegungen ein, da die Traktate in Cod. vind. 5393 und 4995 die darin enthaltenen Regeln reflektieren. 4 Außerdem ist die Handschrift Erlangen, Universitätsbibliothek, Cod. 554 von Belang, da sie nicht nur mnemotechnische Figuren (ff. 181r–202r) birgt, sondern auch die (fragmentarische) Abhandlung Ars nobilissima memorandi (ff. 96r–99v), die inhaltliche Bezüge zu den Traktaten in Cod. vind. 5393 und 4995 aufweist. 5

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Geistes- und religionsgeschichtlicher Kontext

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Khan verankert Cod. vind. 5393 in all seinen Bestandteilen (Aktenkonvolut, Figurenzyklus und mnemotechnischer Traktat) im Umfeld der Melker Reform, einer monastischen Bewegung, der sich im 15. Jahrhundert eine Vielzahl von österreichischen und südbayerischen Benediktinerklöstern anschlossen. Diese Reformbewegung bildet gemeinsam mit Khans Thesen zu den Predigtlehren (siehe These 1) beziehungsweise Standespredigten (siehe These 2) den geistes- und religionsgeschichtlichen Kontext ihrer Untersuchung.

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Thesen

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Die Autorin leitet ihre Untersuchung mit der vollständigen Transkription des mnemotechnischen Traktats Iste ymagines sunt posite ein (S. 13–20), in dem auf die Regeln der antiken Mnemotechnik – insbesondere auf die Lehre von den Orten (loci) und den Bildern (imagines) – angespielt, die Exegese-Methode der res, vox und significatio (RVS) sowie das Prinzip der Synekdoche (pars pro toto) vorgestellt und darüber hinaus die Kenntnis vieler verschiedener »Berufe« (officia) gefordert wird, was an die Ständeliteratur denken lässt. 6 Auf dieser Basis entwirft Khan für die Figuren und deren Analyse die drei folgenden Thesen (S. 21–25), die nachstehend in leicht geänderter Reihenfolge referiert und diskutiert werden:

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These 1: Die Figuren beziehungsweise ihre Strukturierung spiegeln scholastische Unterteilungstendenzen wider, von denen auch die Predigtlehren (artes praedicandi) bestimmt sind:

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Die im Traktat aufgestellten Regeln sind zum Memorieren von Predigten gedacht und greifen dabei auf die artes praedicandi zurück, die Ende des 12. Jahrhunderts entstanden und ‏zur Mitte des 13. Jahrhunderts hin ihre Blütezeit erlebten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die scholastische Dialektik die Rhetorik antiker Prägung bereits zu einer reinen Stillehre abgewertet. Allerdings blieb das Gesamtgefüge einer Predigt der Rhetorik insofern verbunden, als die ein harmonisches Ganzes bildenden Einzelteile einer Rede / Predigt als Grundvoraussetzung für deren Rezipierung angesehen wurden. Khan zeichnet die Geschichte der artes praedicandi von Alanus ab Insulis (De arte praedicatoria, 1199) bis zu ihrem Verschwinden im 16. Jahrhundert konzis und verständlich nach (S. 49–55 beziehungsweise 57) und arbeitet vor diesem Hintergrund die Schnittstelle zwischen den Gedächtnisfiguren des Cod. vind. 5393 und den artes praedicandi heraus: Der synekdochische Charakter einer jeden Figur bewirkt, dass sie einerseits eine Einheit für sich bildet und andererseits die von der Dialektik geforderte Bedingung der logischen Teilbarkeit (divisio, distinctio und dilatatio) erfüllen kann, wobei die Figur selbst das Predigtthema darstellt und die Einzelbilder die Unterteilungen des Themas.

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Die Visualisierung durch Figuren verankert Khan überzeugend in der Tradition der Baummotive (S. 70–75: Vom Baum zum Menschen – Die Motive der scholastischen Predigtbilder). Diese reichen ebenfalls bis in das 12. Jahrhundert zurück und wurden in den ersten visuellen Umsetzungen von Predigtlehren im 14. Jahrhundert aufgegriffen.

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These 2: Die Figuren orientieren sich an Standespredigten (sermones ad status):

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Den Gedächtnisfiguren des Cod. vind. 5393 liegen die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen des Klerus zugrunde. Khan gibt einleitend einen gut nachvollziehbaren Einblick in das Dreiständemodell (Klerus, Adel und Dritter Stand), das im 11. Jahrhundert wiederauflebte und bis ins 18. Jahrhundert hinein bestehen blieb (hierzu ausführlich S. 110–115). Das Bestreben des Klerus, die von Gott geschaffene Ordnung des Kosmos – und damit auch die ständische Strukturierung der Gesellschaft – trotz der sich ändernden sozialen Verhältnisse zu bewahren, begünstigte etwa gleichzeitig zur Entstehung der artes praedicandi (Ende 12. / Anfang 13. Jahrhundert) die Genese der Standespredigten (zu deren Entstehung S. 100–110), die jeden einzelnen Rezipienten dazu anhalten sollten, sein Schicksal anzunehmen, wodurch letztendlich die gesellschaftliche Ordnung konsolidiert wurde. Diese klerikalen Modellvorstellungen der Gesellschaft bestimmten laut Khan noch im 15. Jahrhundert das Weltbild und sind auch den Figuren des Cod. vind. 5393 inhärent. Als Beleg für die ständische Ausrichtung der Gedächtnisfiguren beziehungsweise der mit ihrer Hilfe zu memorierenden Standespredigten behauptet die Verfasserin, dass die Melker Reform nicht nur klerikale, sondern auch gesellschaftliche Missstände verbessern wollte (S. 119). In der Zusammenfassung, die der Online-Version der Dissertation beigegeben ist (siehe Anm. 1), ist sogar die Rede davon, dass die Melker Reform »gegen Auswüchse im Dritten Stand anzukämpfen« versuchte.

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Seit dem Schöpfungsakt existiert die Vielfalt des Kosmos, die auch die divergierenden Sündhaftigkeitsgrade der einzelnen Menschen einschließt. In Predigten sollte daher jeder Sünder in der für ihn angebrachten Weise angesprochen werden, was eine Anpassung des Redestils und eine adäquate Stoffauswahl bedingt. In seinem Predigerhandbuch De eruditione praedicatorum (1266/70) fasste der Dominikaner Humbertus de Romanis diesen Sachverhalt in der Formel Diversa diversis (Verschiedenes den Verschiedenen) zusammen und rechtfertigte mit ihr seine nach 100 verschiedenen Gesellschaftsschichten differenzierten Modellpredigten. Khan übernimmt diese griffige Formel zu Recht in den Titel ihrer Arbeit.

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Bei der figürlichen Umsetzung unterliegen die einzelnen am Körper angesiedelten loci einer natürlichen Hierarchie und konnten als Sozialmetaphern verstanden werden (S. 120–129: Die Sozialmetaphern des Mittelalters – Zu den Körperorten der Predigtfiguren). Aufgrund der Unterteilbarkeit des Körpers und der Abhängigkeiten der einzelnen Körperteile untereinander lässt sich die Struktur der scholastischen Predigt auf den Körper übertragen (S. 129: Prinzip der »Kooperation aufgrund von unterteilter Einheit«), wodurch die einzelnen Körperglieder zu Bedeutungsträgern werden, die sich mit Hilfe der RVS-Methode auslegen lassen. Überdies dient die Körpermetapher auch als soziales Modell, in dem sich die Dreiteilung der Gesellschaft widerspiegelt.

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Die körperhierarchische Untergliederung der Gedächtnisfiguren in Cod. vind. 5393 wird durch eine Nummerierung angezeigt, die bei allen Figuren (außer bei Kanoniker, Mönch und Bader) hinzugeschrieben wurde: 1) Kopf, 2) rechte Hand (von der Figur aus gesehen), 3) unterhalb der rechten Hand beziehungsweise neben dem rechten Fuß, 4) über dem Kopf, 5) Hals / Brust, 6) Bauch / Scham, 7) Knie, 8) unterhalb der Füße, 9) linke Hand und 10) unterhalb der linken Hand beziehungsweise neben dem linken Fuß. Es liegt also eine »dreispaltig« von oben nach unten verlaufende Hierarchie vor, deren Sozialmetaphorik Khan wie folgt deutet: Das Kopfmotiv liefert das »Thema«, die Handmotive zeigen die Tätigkeiten der jeweiligen Schicht an, die Füße stellen die für eine soziale Gruppe tragenden Elemente dar und die Bauch- und Kniemotive verweisen auf die Tugenden und Laster eines Standes (S. 129).

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Konnte man der Hierarchie- beziehungsweise Ständeargumentation der Autorin bis zu diesem Punkt ohne weiteres folgen, so offenbaren sich bei der konkreten Übertragung des Ständesystems auf die Auswahl der in Cod. vind. 5393 dargestellten Figuren Schwachstellen. Während sich der Kanoniker, der Mönch und die Nonne der Geistlichkeit und der König sowie der Ritter / Soldat dem Adel zuordnen lassen, wird der Dritte Stand lediglich durch den Bader vertreten (S. 116: Der Dritte Stand wird in Cod. vind. 5393 »eher implizit als explizit« angeführt). Für Jungfrau, Monster / Teufel und Äthiopier bemüht Khan die Erklärung, dass sie für theologische Stände, für Lebens- und Sündenstände stehen (S. 116 f.). Auch aus der Abfolge der Figuren in Cod. vind. 5393, ff. 329r–339r, sowie der Diagramme in Cod. vind. 4995, ff. 227v–230r, lassen sich laut Khan keine Rückschlüsse auf ihre Hierarchie ziehen; diese werde erst in der Resümeefigur (Cod. vind. 5393, f. 339r) beziehungsweise im Resümeediagramm (Cod. vind. 4995, f. 230r) visualisiert. Da die Autorin (auf der Basis der Resümeefigur) für Bader und Ritter / Soldat, die sie zuvor ständisch zugeordnet hatte, sowie für Jungfrau, Äthiopier und Christusfigur allegorische Deutungen anbietet (S. 117–120), verstärkt sich der Eindruck, dass den Figuren das Ständemodell mit einiger Mühe übergestülpt werden muss, was umso bedenklicher ist, als diese These bei der Interpretation der Gedächtnisfiguren als visualisierte Standespredigten eine zentrale Stellung einnimmt.

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Auch im Traktat Iste ymagines sunt posite ist die Ständethematik nicht explizit verankert: Während die RVS-Methode und das Prinzip der Synekdoche mehrfach erwähnt werden, wird der Standesbegriff im Traktattext nicht direkt genannt, vielmehr die Kenntnis vieler »Berufe« (officia) und Namen verlangt (siehe Anm. 6). Die Autorin benötigt daher ein eigenes Kapitel (S. 129–134: Zur Verwendung des Begriffes ad status für Predigtmodelle), um aufzuzeigen, wie der officium-Begriff mit dem für Predigtmodelle verwendeten status-Begriff zusammengeführt werden kann.

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Und wie sah es mit der konkreten Anwendung der Standespredigten aus? Khan tritt dem sich aufdrängenden Einwand, dass sich die Zuhörerinnen und Zuhörer der mittelalterlichen Prediger nicht jeweils nur aus einer sozialen Schicht rekrutiert haben dürften, mit einem eigenen Kapitel entgegen (S. 134–137: Zur Einlösung der schriftlich fixierten sermones ad status in mündlich vorgetragenen Predigten), in dem sie die Praxisbezogenheit der Standespredigten mit Beispielen zu untermauern sucht (Berthold von Regensburg und Bernhardin von Siena, 13. beziehungsweise 15. Jahrhundert). Dieser Abschnitt der Khanschen Arbeit ist zwiespältig. Einerseits lässt er beim Leser die Frage entstehen, ob die sermones ad status in ihrer Eigenschaft als exemplarische Sammlungen nicht doch nur Musterpredigten waren, die in dieser Form nicht in die Praxis umgesetzt wurden. Andererseits enthält er das spannende Beispiel einer Predigt Bernhardins von Siena zur Verkündigung, in der eine Verkündigungstafel Simone Martinis (Abb. 51 im Buch, Abb. 78 in der Online-Version) für die einzelnen sozialen Gruppierungen der Zuhörerschaft unterschiedlich erläutert wird; spannend deshalb, weil hier wird der Blick freigegeben wird auf eine neue Interpretationsweise von mittelalterlichen (und frühneuzeitlichen) Bildwerken, die die bislang angenommene Zweiteilung der Rezipienten in litterati und illiterati deutlich differenziert.

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These 3: Die Einzelbilder können mit Hilfe der mittelalterlichen Exegese beziehungsweise Allegorese aufgeschlüsselt werden:

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Auf der Grundlage des bekannten Alanus-Verses »Omnis mundi creatura, quasi liber, et pictura, nobis est et speculum« skizziert die Verfasserin – und auch hier muss man ihre prägnante Verständlichkeit hervorheben – die Genese der mittelalterlichen christlichen Allegorese von Clemens von Alexandria und Origenes über die Kirchenväter bis hin zur Ars concionandi des Pseudo-Bonaventura (hierzu in extenso S. 92–100: Die Lesbarkeit der mittelalterlichen Welt – Zu den Formen der mittelalterlichen Allegorese). Mit Hilfe der seit dem 12. Jahrhundert üblichen exegetischen Hilfsmittel (Glossen, Distinktionen, Etymologien etc.) lassen sich also auch die Einzelbilder der Gedächtnisfiguren gemäß der RVS-Methode nach Eigenschaft, Lautung und Bedeutung dechiffrieren.

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Lokalisierung und Datierung des Materials

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Khans Präsentation der Materialbasis ist unbefriedigend, weil unübersichtlich. Man hätte sich im Rahmen der Diskussion der Lokalisierung (S. 26–28: Zum Entstehungsort des Codex Vind. 5393) und Datierung (S. 28–40: Zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des mnemotechnischen Traktats aus dem Codex Vind. 5393) wenn nicht eine kurze Beschreibung, so doch einige einleitend zusammengefasste Hinweise zur Kodikologie und zum Inhalt von Cod. vind. 5393 gewünscht, um sich ein orientierendes Bild von diesem komplizierten Codex machen zu können. Diesbezügliche Übersichten wären auch zu den weiteren Materialien erforderlich gewesen.

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Die Autorin lokalisiert Cod. vind. 5393 aufgrund seiner Vorsignatur »Salisb. 292«, der Genese des Traktates und einiger aus den Figuren selbst zu gewinnender Indizien nach Salzburg und geht von einer Entstehung in der Bibliothek des dortigen Domkapitels aus. Dabei ist Vorsicht geboten, denn der Figurenzyklus bildete erst in Verbund mit dem Aktenkonvolut den Träger für die Niederschrift des Traktats. Er könnte auch anderenorts gezeichnet und koloriert und an dem Ort, an dem man ihn mit der Aktensammlung zusammengebunden hat, durch den Traktat Iste ymagines sunt posite ergänzt worden sein.

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Bislang wurden der Traktat und der Figurenzyklus aus Cod. vind. 5393 zumeist in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert. 7 Dabei ist man davon ausgegangen, dass Cod. vind. 5393 auf den Diagrammen beruht, die in den mnemotechnischen Traktaten in Cod. vind. 4995 (und 4121) enthalten sind. Für Cod. vind. 4995 wurde dabei eine Entstehungszeit um 1440 angenommen. 8 Cod. vind. 4121 ist laut Khan eine Abschrift von Cod. vind. 4995, die am Beginn der 1470er Jahre angefertigt wurde. Doch der Traktat in Cod. vind. 4121 könnte auch wesentlich früher, parallel zu oder kurz nach Cod. vind. 4995, entstanden sein. 9

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Da Cod. vind. 4995 auf f. 238v den Testatsvermerk »Frater Benedictus de Piburg [Biburg in Niederbayern] obtulit hunc libellum pro monasterio lunelacensi anno Domini liiio [1453]« enthält, dessen Schrift laut Khan mit der des mnemotechnischen Traktates auf ff. 227r–235v übereinstimmt, schreibt die Autorin (S. 33) diese Abhandlung kurzerhand Benedikt von Biburg zu, der sie vor 1453, dem Jahr der Schenkung, abgefasst haben soll. Diese auf schmaler Basis vorgenommene Schlussfolgerung ist sehr riskant – gerade bei einer Bastarda des 15. Jahrhunderts.

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Die Auflösung der Fragestellungen, warum die Regeln und Diagramme aus Cod. vind. 4995 in dem vermeintlich jüngeren Cod. vind. 4121 kaum modifiziert, dagegen im Traktat in Cod. vind. 5393, der laut der nicht näher erläuterten Wasserzeichenanalyse bei Heimann-Seelbach (siehe Anm. 7) in die Jahre 1464 bis 1469 datiert, verändert wurden, sieht Khan (S. 34) in der Umkehrung der Entstehungsabfolge: Traktat und Diagramme in Cod. vind. 4995 beruhen auf Cod. vind. 5393. Da das Aktenkonvolut in Cod. vind. 5393 Dokumente zum Basler Konzil enthält, das 1449 endete, nimmt die Verfasserin für den mnemotechnischen Traktat in dieser Handschrift einen Entstehungszeitraum von 1449 bis 1453 an, ebenso für die Abhandlung in Cod. vind 4995 (S. 35).

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Eine jüngst durchgeführte Wasserzeichenanalyse der Folia 329–339 von Cod. vind. 5393, die eine zeitliche Einordnung – aber nur des Figurenzyklus – um 1445/49 erlaubt, bestätigt mit einiger Annäherung die von Khan vorgenommene Datierung. 10 Allerdings kann das letzte Jahr des Basler Konzils nicht als terminus post quem herangezogen werden, da im Aktenkonvolut des Cod. vind. 5393 Dokumente enthalten sind, deren Textdatierungen bis zum Jahr 1466 reichen. Die betreffenden Schriften befinden sich unmittelbar vor dem mnemotechnischen Figurenzyklus und beziehen sich vorrangig auf böhmische, genauer hussitische Angelegenheiten, insbesondere das Wirken Georgs von Podiebrad, der von 1458 bis 1471 böhmischer König war.

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Entschlüsselung des Figurenzyklus

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In dem umfangreichen Abschnitt, der der detaillierten Entschlüsselung der Figuren gewidmet ist (S. 138–385), behandelt Khan die Figuren in der Abfolge der klerikalen Ordnungshierarchie: Mönch, König, Ritter / Soldat, Bader, Äthiopier, Monster / Teufel sowie Christus mit den beigefügten narrativen Bildelementen, dann die Resümeefigur, die eine Sonderstellung einnimmt, und abschließend Kanoniker, Nonne und Jungfrau.

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Jeder Figur ist ein einzelnes Kapitel gewidmet, in dem die Autorin zuerst die Figur einschließlich ihrer Motive ausführlich beschreibt, wobei sie eventuelle Abweichungen zwischen den Begriffen in den Diagrammen des Cod. vind. 4995 und den Motiven in Cod. vind. 5393 berücksichtigt. In einer Tabelle werden alle Motive beziehungsweise Begriffe, bei denen dies möglich ist, nach der RVS-Methode ausgelegt, wobei Khan auf mittelalterliche allegorische Nachschlagewerke, Distinktionen sowie die Etymologien Isidors von Sevilla zurückgreift. Gegebenenfalls wird die entsprechende Passage aus dem Lexikon der christlichen Ikonographie ergänzt. Danach entschlüsselt die Autorin die jeweilige Figur beziehungsweise ihre Motive, das heißt sie versucht, das Kernthema der Figur herauszuarbeiten beziehungsweise aufzuzeigen, wie man sich im Rahmen einer Predigt die sprachliche Umsetzung der Motive einer Figur – Khan nennt dies »Textwerdung« (S. 139) – in etwa vorzustellen hat. Die lateinische (und ausführlichere) Exegese der Motive findet sich en bloc im umfangreichen »Quellenanhang« (S. 400–450). Für die zweite Figurengruppe (Kanoniker, Nonne, Jungfrau) arbeitet Khan zusätzlich die didaktischen Mittel heraus, die in den Predigten verwendet wurden (Mnemotechnik und verschiedene Formen der Allegorese).

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Die Folia mit den Gedächtnisfiguren des Cod. vind. 5393 werden von Khan komplett in Schwarz-Weiß abgebildet (die jeweiligen Abbildungen sind auch in der Online-Version zugänglich), allerdings in Zuordnung zu dem jeweiligen exegetisch-dechiffrierenden Kapitel, wodurch man die Abbildungen nur schwer auffindet. In diesem Fall wäre eine zusätzliche Angabe der Seite, auf der sich die jeweilige Abbildung befindet, durchaus hilfreich gewesen. Belohnt wird das Blättern jedoch durch die Tatsache, dass der mnemotechnischen Figur jeweils das Diagramm aus Cod. vind. 4995 mit Transkription und Übersetzung gegenübergestellt ist (ebenso in der Online-Version).

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Es ist keine Predigtabhandlung ad status überliefert, die sich eins zu eins auf die Figuren des Cod. vind. 5393 anwenden ließe; oft gibt es nur Übereinstimmungen bei zwei oder drei Motiven. Khan greift daher in erster Linie auf die Sermones ad status diversos pertinentes des Gilbert de Tournai (13. Jahrhundert) zurück, der einzigen Sammlung von Standespredigten, die sich aus dem Salzburger Raum erhalten hat. Konzentriert man sich allerdings – wie oben dargelegt – bei der Lokalisierung des Cod. vind. 5393 nicht nur auf Salzburg, dann könnten eventuell noch weitere Predigtsammlungen mit möglicher Vorlagenfunktion aufgefunden werden.

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Nur einige Predigten in Gilberts Abhandlung gehen mit dem Figurenzyklus in Cod. vind. 5393 zusammen, so dass Khan beispielsweise noch die Summa de arte praedicatoria des Alanus ab Insulis (12. Jahrhundert), De eruditione praedicatorum des Humbertus de Romanis (13. Jahrhundert), die Prediche volgari sul campo di Siena des Bernhardin von Siena (15. Jahrhundert) u.a.m. (siehe S. 141 f.) zur Dechiffrierung heranzieht. 11 Die Rekonstruktion der Figureninhalte durch die sermones ad status muss also des Öfteren fragmentarisch bleiben. Eindeutiger ist die Erschließung durch biblische Allegorese, Etymologie und inhaltliche Verknüpfungen, die für die Motive durch die RVS-Auslegung gegeben sind.

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Nachfolgend anhand der Beispiele des Königs und der Resümeefigur ein Blick auf die konkrete Interpretation. Die jeweilige Beschreibung und Exegese kann hier nicht en detail nachvollzogen werden – so werden aus der jeweiligen Zehnergruppe der Motive immer nur einige wenige exemplarisch herausgegriffen. Vielmehr und vorrangig interessiert an dieser Stelle, ob die Entschlüsselung unter der Prämisse der Standespredigt-These nachvollziehbare Ergebnisse liefert, die den Leser das Funktionieren der Gedächtnisfiguren verstehen lässt.

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1. König – rex (S. 168–190, Abb. S. 170 f. im Buch, S. 166 f. in der Online-Version)

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Die Exegese des Kopfmotivs, eines mächtigen Schwertes, das horizontal über dem Kopf des Königs »schwebt«, gibt durch seine Bedeutung das Hauptthema dieser Figur an: die richterliche Gewalt. Wenn ein Kleriker dieses Thema für eine (Standes-)Predigt wählte, so wollte er wohl den Befürchtungen der Geistlichkeit Ausdruck verleihen, dass die Ausführenden der Richtergewalt ihre Macht zu Ungunsten des Klerus missbrauchen könnten. In erweitertem Sinne geht es also um die Machtverteilung zwischen geistlichen und weltlichen Herrschern.

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Das Herz auf der Brust des Königs ist das Symbol seines Verstandes und seiner Erkenntnis, aber auch der Wärme und der Fürsorge, die er seinen Untertanen gegenüber walten lassen soll, da Herz (cor) nach seiner Lautung von der Sorge (cura) abgeleitet werden kann. Auch der Fuchs (vulpes) auf Kniehöhe des Königs lässt sich wie die meisten Tiermotive in Cod. vind. 5393 relativ leicht deuten und in diesem Fall in den Kontext der richterlicher Gewalt einordnen. Ad vocem ist er ein volu-pes, ein »Rollfuß«, der den rechten Weg verlässt und sich dem Laster zuwendet. Ad significationem (Ketzer, Betrüger) leitet er mit Verweis auf Herodes zur Königsfigur zurück: Der König sollte – im Gegensatz zu Herodes – kein Betrüger sein und Gott dienen, der wiederum der oberste Richter des Königs ist.

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Doch lassen sich nicht alle Motive der Königsfigur problemlos erklären. Uneindeutig bleiben beispielsweise die Szenen, die den König flankieren: ein Affe, der eine Jungfrau oder einen jungen Mann laust beziehungsweise segnet, sowie eine Jungfrau mit einem Korb. Als Predigtbeispiel zieht Khan vor allem Alanus ab Insulis heran, von dem sich eine Predigt an die Herrscher der Welt und an die Richter mit dem Zentralthema der irdischen Gerechtigkeit erhalten hat. Obwohl die Predigten des Alanus weniger bildlich sind als die Sermones des Gilbert von Tournai, lässt sich mit ihrer Hilfe doch die sprachliche Umsetzung, die »Textwerdung«, der Motive nachvollziehen. So auch im Falle des Königs.

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Fazit: Die Figur des Königs wird im Standeskontext greifbar, ihr Thema und die Untergliederung kann nachvollzogen werden. Es wird deutlich, dass den Klerikern auch 200 Jahre nach Alanus ab Insulis daran gelegen war, den Machtbereich eines Königs auf die richterliche Gewalt zu beschränken. Es zeichnet sich aber auch ab, dass sich die Exegese der Figuren zuweilen alles andere als reibungslos gestaltet. Es ist Khan positiv anzurechnen, dass sie auch Uneindeutigkeiten bei der Bestimmung der Motive offen darlegt, die letztendlich Ungenauigkeiten bei der Gesamtentschlüsselung der Königsfigur zur Folge haben.

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2. Resümeefigur mit Jungfrau – virgo (S. 288–295, Abb. S. 290 f. im Buch, S. 277 f. in der Online-Version)

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Zwei Aspekte sind bei dieser Figur auffällig. Erstens wurde aus der Reihe der zuvor als Einzelfiguren verwendeten imagines gerade die Jungfrau als Basis- beziehungsweise Trägerfigur dieses verbildlichten Resümees ausgewählt. Die verbleibenden Figuren hat man in folgender Anordnung auf und um die Jungfrau angeordnet: Auf ihrem Körper sind von oben nach unten der balneator, der hier als Badende wiedergegeben ist, der Ritter / Soldat und Christus platziert, während sich die Figuren des Königs (3. Position), des Äthiopiers (10) und des Monsters / Teufels 12 (8) den Fußbereich teilen. Zweitens konzentrieren sich im Kopfbereich der Jungfrau diejenigen Gedächtnisfiguren, die den geistlichen Stand repräsentieren: Nonne (4. Position), Kanoniker (2) und Mönch (9). Sie werden von der virgo quasi in den Himmel emporgehoben. Wenn sich hieraus eine standesspezifische Schlussfolgerung ziehen lässt, dann die Vormachtstellung des Klerus über die anderen Stände.

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Warum also wurde die Jungfrau als Zentralfigur auserkoren? In engem Zusammenhang mit der Figur der Badenden, die die Herzposition besetzt und wie der Bader für spirituelle Reinigung steht (Genaueres zur Badenden S. 293 f.), ist ihre Jungfräulichkeit und Keuschheit als Grundhaltung und wichtigste Eigenschaft eines Klerikers zu interpretieren.

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Wie die Badende können des weiteren der Ritter / Soldat, dessen Panzer, Helm und Lanze die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe symbolisieren, und Christus selbst, der die klerikale Gerichtsbarkeit und die Christlichkeit an sich verkörpert, als die angestrebten inneren Werte des Geistlichen gedeutet werden.

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Christus bildet die Schaltstelle zu den Figuren des Fußbereichs beziehungsweise der irdischen Zone, in der König und Äthiopier auf separaten Bodenandeutungen stehen. Khan sieht die weibliche Konsolenfigur (eigentlich das monstrum), die ihre Arme weit zur Seite streckt und dabei ihren rechten Arm zum König, dem Repräsentanten des Adelsstandes und der weltlichen Gerichtsbarkeit, hin absenkt beziehungsweise ihren linken Arm in Richtung Äthiopier, der die Sündhaftigkeit verbildlicht, anhebt, als eine Art Seelenwägerin, die das Jüngste Gericht evoziert. Die Bodenandeutungen, auf denen König und Äthiopier zu stehen kommen, erinnern in der Tat an die Schalen der Waage, die Christus in Weltgerichtsdarstellungen vor sich hält. Die Seele des Königs scheint seine Sündenlast zu überwiegen, weshalb sich Christus, der sein Vorbild in Sachen Christlichkeit abgeben sollte, noch nicht von ihm abgewandt hat, sondern vielmehr explizit in seine Richtung deutet.

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Khan ist der Ansicht, dass in der Resümeefigur die ständische Dreiteilung, die die Figuren nach ihrer Eigenschaft (ad rem) vertreten, nach ihrer Bedeutung (ad significationem) in die Zweiteilung Klerus – Laien beziehungsweise geistliche und weltliche Macht übergeht.

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Fazit: Neben dem König belegt die Resümeefigur am eingängigsten Khans These, dass die mnemotechnischen Figuren des Cod. vind. 5393 die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen des Klerus widerspiegeln. Glaubhaft zeichnet die Autorin den »Diskurs« nach, der sich im Fußbereich der Figur zwischen Christus, König, Äthiopier und der Jungfrauen-Konsolfigur entwickelt, und arbeitet die Polarität zwischen diesen vier, die irdischen Gefilde vertretenden Figuren und den drei Klerikern im Kopfbereich der Figur heraus, die die himmlischen Sphären einnehmen. So wird einerseits der Makrokosmos (der mittelalterlichen Weltordnung) durch den Mikrokosmos (des Körpers der Gedächtnisfigur beziehungsweise der Körper der Gedächtnisfiguren) reflektiert, und andererseits kann sich auf der Folie des Makrokosmos der mittelalterlichen Weltordnung der Mikrokosmos klerikalen Statusdenkens entfalten (siehe hierzu auch Khan, S. 119 f., 389).

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Resümee

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Khans Untersuchung hat mich zu einem Gutteil überzeugen können. Sie birgt außerordentlich interessante Aspekte, aber auch Stolpersteine.

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Ein Manko der Arbeit ist die nachlässige und unpräzise Behandlung der kodikologischen Gegebenheiten und Fakten zu den Handschriften, die Khan für ihre Untersuchung heranzieht, beziehungsweise zu den Einzelfaszikeln aus diesen Codices.

[53] 

Wesentlich präziser und damit nachvollziehbarer verfährt die Autorin bei der Darlegung der (geistes-)geschichtlichen Hintergründe. So ist der geistes- und religionsgeschichtliche Rahmen der Melker Reform, in den Khan ihre Untersuchung einbettet, durchaus überzeugend. Auch die Überblicke, die Khan für die Entwicklung ihrer drei grundlegenden Thesen benötigt, liefern ohne auszuufern die nötigen Informationen. Im Gegensatz zu diesen konzis skizzierten »Hintergrundsfolien« entwickelt die Autorin ihre Argumentationsketten oft in extenso – mit leichter Neigung zur Redundanz.

[54] 

Die einzelnen Kapitel und Abschnitte werden jeweils zusammengefasst; mit sorgfältigen Einleitungen zu Folgekapiteln (z.B. Kap. 2.3 – 2.4 – 2.4.1 mit Ausführungen zur Ars memorandi und zur Mnemotechnik der frühen Neuzeit) und immer wieder auch durch weiterführende Fragestellungen (z.B. S. 81) wird der Leser recht komfortabel durch den Text geleitet.

[55] 

Das Herzstück der Arbeit ist zweifelsohne die detailliert durchgeführte Entschlüsselung der Gedächtnisfiguren, in der die drei Thesen auf die Probe gestellt werden:

[56] 

Die Strukturierung der Figuren mit ihren Einzelbildern spiegelt sehr wohl die scholastische Tendenz zur Untergliederung wider, die auch in den artes praedicandi regiert. Der Leser kann nachvollziehen, wie sich die Motive mittels der mittelalterlichen Exegese beziehungsweise Allegorese nach ihrer Eigenschaft (ad rem), ihrer Lautung (ad vocem) und ihrer Bedeutung (ad significationem) – kurz nach der RVS-Methode – dechiffrieren lassen. Zuweilen fällt die Exegese jedoch unbefriedigend aus oder muss ergebnislos bleiben. Allerdings liefern die Tabellen, in denen Khan die Aufschlüsselung übersichtlich durchführt, in Zusammensicht mit den jeweiligen Prosa-Passagen zu Exegese und Deutung der einzelnen Figuren ein wertvolles Konsultationskompendium für Wissenschaftler, die sich mit der (spät)mittelalterlichen Bildwelt beschäftigen. Die Untersuchungen zur Zentralthese der Arbeit, der Orientierung der Gedächtnisfiguren an Standespredigten, ergeben ein ambivalentes Bild. Einerseits kann die Autorin keine Predigtsammlung ad status nachweisen, die sich in vollem Umfang auf die Figuren des Cod. vind. 5393 anwenden ließe, andererseits gelingt es ihr durch die plausible Anwendung der Standespredigten des Gilbert de Tournai und ergänzender Predigtsammlungen, den vielschichtigen Zusammenhang zwischen Bildern und den dahinter stehenden beziehungsweise daraus resultierenden Texten zu erhellen und die auf den ersten Blick fragile Text-Bild-Beziehung zu untermauern.

[57] 

Den interessantesten Aspekt der Arbeit hat die Autorin für ihre Schlussbemerkung (S. 386–399) aufgehoben.

[58] 

Es sind vor allem schichtenübergreifende Motive, das heißt Bilder, die bei mehreren Gedächtnisfiguren Anwendung finden und sowohl schichtenspezifisch differenziert als auch schichtenüberschreitend konvergiert werden können, welche Khan noch einmal darlegen lassen, wie mittelalterliche Rezipienten die sie umgebenden Bildwerke wahrnahmen: Die Bilder wurden kontextuell eingebunden und evozierten durch ihre Eigenschaften (res) Bedeutung (significatio). Man denke hier an die von Bernhardin von Siena in einer Predigt explizit angesprochene Verkündigung des Simone Martini. Ein moderner Betrachter sieht dagegen ein mittelalterliches Bild textunabhängig, behilft sich mit Symbollexika und verbleibt damit auf der Ebene der res.

[59] 

Khan positioniert die von ihr unternommene Dechiffrierung von Bildern durch Predigttexte in der Nachfolge Erwin Panofskys, der die Theorie des »disguised symbolism« entwarf (Early Netherlandish Painting, 1953), welche besagt, dass viele der in altniederländischen Bildwerken dargestellten Alltagsdinge bewusst als Symbolträger »versteckt« worden seien (Khan, S. 393 ff. mit weiterführender Literatur). Es geht also wohlgemerkt um Einzelbilder von Alltagsgegenständen, Tieren, Pflanzen etc., die in Bildkompositionen eingefügt wurden und als mnemotechnische imagines funktionierten. In der Kunstwissenschaft griff man Panofskys Konzept jüngst wieder auf und konfrontierte es mit der Frage, ob denn die vermeintlichen Verklausulierungen ohne Wort-Erläuterungen überhaupt verstanden werden konnten. Predigttexte und Exegese nach der RVS-Methode waren mögliche Schlüssel – Khans Untersuchung hat weidlich dazu beigetragen, dieses komplexe System für den heutigen Betrachter transparent zu machen. Nach Meinung der Autorin ist nur der Begriff »disguised symbolism« unglücklich gewählt, da nichts verhüllt wird und es nicht um die Frage geht, ob die Einzelbilder überhaupt als Symbole aufzufassen sind. Vielmehr muss hinterfragt werden, »für wen was und unter welchen Umständen im Bild lesbar werden konnte.« 13

 
 

Anmerkungen

Die Dissertation ist in ungekürzter Fassung und mit umfangreicherer Bebilderung unter dem Titel »Diversa Diversis. Die Visualisierung mittelalterlicher Standespredigten. Eine Untersuchung zu den Bildformen, zur Mnemotechnik und zu den Modi der Unterweisung der scholastischen Predigt am Beispiel der Predigtfiguren aus dem Codex Vindobonensis 5393« auch als pdf-Datei zugänglich: Zürich, Universität und Zentralbibliothek, Elektronische Dissertationen 2005, URL: http://www.dissertationen.unizh.ch/2005/khan/diss.pdf. Das Resümee zur Dissertation findet man unter der URL http://www.dissertationen.unizh.ch/2005/khan/abstract.html.   zurück
Jüngere Literatur zu Cod. vind. 5393, die sich zumeist auf den mnemotechnischen Teil der Handschrift bezieht: J. M. Massing: From Manuscript to Engravings. Late Medieval Mnemonic Bibles. In: J. J. Berns / W. Neuber (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. (Frühe Neuzeit 15) Tübingen 1993, S. 101–115, hier S. 103 f., Abb. 22. – S. Heimann-Seelbach: Diagrammatik und Gedächtniskunst. Zur Bedeutung der Schrift für die Ars memorativa im 15. Jahrhundert. In: M. Kintzinger u.a. (Hg.): Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. (Archiv für Kulturgeschichte, Sonderheft). Köln u.a. 1996, S. 385–410, Cod. vind. 5393: 392, Abb. 3. – S. H-S.: Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Tübingen 2000, S. 107–110. – S. Khan: Die Diskrepanz zwischen den theoretischen Abhandlungen und der praktischen Einlösung der Mnemotechnik als Bedingung für den Wandel der Medien und des Weltbildes in der Frühen Neuzeit. In: F. Mauelshagen / B. Mauer: Medien und Weltbilder im Wandel der Frühen Neuzeit. (Documenta Augustana 5) Augsburg 2000, S. 33–69, Cod. vind. 5393: S. 55 f., Abb. 3. – S. Rischpler: Biblia Sacra figuris expressa. Mnemotechnische Bilderbibeln des 15. Jahrhunderts. Wiesbaden 2001, insbes. S. 37 f. und 46–48, Abb. 4 und 54. – S. R.: Die Ordnung der Gedächtnisfiguren. Der bebilderte Mnemotechnik-Traktat im Cod. 5393 der Österreichischen Nationalbibliothek. Codices Manuscripti 48/49 (2004), Textbd. S. 73–87, Farbabb. im Tafelbd. S. 79–82. – Forschungsüberblick bei Khan, Diversa diversis (nachfolgend immer als »Khan« zitiert), S. 7–12.   zurück
Zu den mnemotechnischen Traktaten in Cod. vind. 4995 und 4121: Heimann-Seelbach 2000, wie Anm. 2, S. 106 f., 115 (Stemma), 305 (Anm. 135). – Khan, S. 29–39, 77 f., 117 f., 144 f. et passim. – Zu ihrer Datierung und Lokalisierung s. Kapitel IV. der vorliegenden Rezension.   zurück
Edition: R. A. Pack: An ars memorativa from the Late Middle Ages. Archives d'Histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 54 (1979), S. 221–275.   zurück
Zu diesem Codex, der mit mehreren, von 1454 bis 1480 reichenden Datierungen versehen ist: H. Fischer: Katalog der Handschriften der Universitätsbibliothek Erlangen, Bd. 2: Die lateinischen Papierhandschriften. Erlangen 1936, S. 207–211. – E. Lutze: Die Bilderhandschriften der Universitätsbibliothek Erlangen. Erlangen 1936, S. 162–165, Abb. 82 (f. 201r). – Khan, S. 78 f., Abb. 7 f. (ff. 181r, 180v). – Zum Traktat(-Fragment): Heimann-Seelbach, 2000, wie Anm. 2, S. 97‏–99 (Entstehungszeitraum des Traktats: um 1451/53), S. 115.   zurück
RVS: Entschlüsselung von Begriffen nach ihrer Eigenschaft (ad rem), ihrer Lautung (ad vocem) und ihrer Bedeutung (ad significationem). Im Traktat Iste ymagines sunt posite wird die RVS-Methode dreimal erwähnt (ff. 328v, 329rv; vgl. Khan, S. 15, 18 f.). – Der Begriff der Synekdoche wird ebenfalls dreimal genannt, jeweils auf f. 329r (Khan, S. 16–18). – Berufe (f. 329r: officia; Khan, S. 17).   zurück
U.a. Heimann-Seelbach 2000, wie Anm. 2, S. 107: 1464–1469 (nach einer nicht näher erläuterten Wasserzeichen-Analyse).   zurück
Heimann-Seelbach 2000, wie Anm. 2, S. 106, 115; Khan (S. 33) gibt als Datierung 1440, aber auch das Jahr 1444 an und beruft sich dabei auf Heimann-Seelbach, die sich ihrer Meinung nach am »Handschriftenverzeichnis der ÖNB« orientiert hat. Dieses Verzeichnis bleibt leider zitatlos, evtl. ist das Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek von H. Menhardt gemeint, der in Bd. 2 (Berlin 1961) S. 1085 für die lateinischen Texte der Handschrift die Datierung 1439/40 anführt. F. Unterkircher: Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich, Bd. 2 (Wien 1971), S. 127 gibt die Datierung 1439 an (gemäß Explicit f. 157v). Die Tabulae codicum manu scriptorum praeter Graecos et Orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, 11 Bde. (Wien 1864–1912; Nachdruck Graz 1965), Bd. 3, S. 466 bleiben bei einer groben Datierung ins 15. Jahrhundert.   zurück
Auch für diese Abhandlung sind Khans Datierungsangaben uneinheitlich – S. 33: »um 1471«, S. 34: »um 1470« und »1472«, S. 38: »um 1472«. Wieder beruft sie sich (S. 33) auf Heimann-Seelbach und deren Konsultation des »Handschriftenverzeichnisses der ÖNB«. Meines Erachtens datiert Heimann-Seelbach Cod. vind. 4121 nicht in die 1470er Jahre, sondern zusammen mit Cod. vind. 4995 um 1440 (vgl. Heimann-Seelbach 2000, wie Anm. 8). Die Tabulae (wie Anm. 8), Bd. 3, 172 geben zwar das Jahr 1472 an, beziehen sich dabei jedoch auf die Datierung auf f. 19r des Codex (vgl. Unterkircher, wie Anm. 8, Bd. 3, Wien 1974, S. 113 f., Abb. 381).   zurück
10 
Siehe WZMA, Wasserzeichen des Mittelalters (Version 3), Datenbank von A. Haidinger, M. Stieglecker, unter Mitarbeit von F. Lackner (21.03.2007) unter der URL: http://www.oeaw.ac.at/ksbm/wz/wwwdb/index.htm.    zurück
11 
Diese Situation weist verblüffende Parallelen zur Text-Bild-Situation der mnemotechnischen Bilderbibeln des 15. Jahrhunderts auf, für die ich Bibel-Summarien als Textgrundlage angenommen habe. Es ließ sich bislang kein hundertprozentig passendes Summarium identifizieren, dafür jedoch etliche Summarien mit engen Bezügen zu den in den Bilderbibeln umgesetzten imagines (Rischpler 2001, wie Anm. 2, S. 58 f.).   zurück
12 
Hier als Jungfrauen-Konsolenfigur, allerdings mit Fledermausflügeln, dargestellt; Khan zufolge (S. 117 mit Anm. 103, s. auch S. 258) »Frau Welt«.   zurück
13 
Khan, S. 396. Die Autorin schließt sich hier John L. Ward an (Disguised symbolism as enactive symbolism in Van Eyck’s paintings. In: artibus et historiae 29. Wien 1994, S. 9–54).   zurück