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Zwischen Anschaulichkeit und Selbstreflexion

Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer narratologischen Analyse von Geschichtsschreibung

  • Axel Rüth: Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung. (Narratologia 5) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2005. IX, 211 S. Gebunden. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 3-11-018369-2.
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Erwartungen an eine Narratologie
der Geschichtsschreibung

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32 Jahre nach der Veröffentlichung von Hayden Whites Metahistory 1 erweckt Axel Rüths Titel Erzählte Geschichte: Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung große Erwartungen für alle an den poetischen und narrativen Darstellungsmitteln von Geschichtsschreibung interessierten Forscher.

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Nachdem die grundsätzlichen Kämpfe um ästhetische und narrative Strukturen in historischen Texten zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft einerseits und der Geschichtswissenschaft andererseits ausgefochten sein dürften, und es grundsätzlich anerkannt ist, dass in der Geschichtsschreibung immer auch erzählt wird, braucht man nicht mehr zu fragen, ob erzählt wird, sondern wie erzählt wird (S. 7). Dies könnte den Weg zu eigenständigeren narratologischen Analysen der Geschichtsschreibung öffnen, die deren Spezifika gerecht werden, z.B. dass Geschichtsschreibung immer eine außertextuelle vergangene Welt denotiert und bezüglich ihres Wissenschaftlichkeitsanspruchs überprüfbar sein muss. 2

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Rüths Untersuchung der ›Annales‹-Geschichtsschreibung steht also vor der Herausforderung, ein zum Teil noch unerprobtes narratologisches Analyseinstrumentarium entwickeln zu müssen. Der gewählte Gegenstand – die ›Annales‹-Geschichtsschreibung – ist seinerseits methodologisch sehr reflektiert; daher stellen sich zwei Fragen: Inwieweit kann sich die literaturwissenschaftliche Analyse des Romanisten Rüth von den methodologischen Vorgaben der ›Annales‹ lösen? Und zweitens: Verbleibt Rüths Analyse auf einer historischen Ebene, oder bietet sie narratologische Ergebnisse, die über diesen historischen Gegenstand hinausgehen?

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Theoretische Ausgangssituation

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In seiner theoretischen Einführung geht Rüth von zwei extremen Positionen aus: Von Hayden White, Roland Barthes und anderen frühen Vertretern des seit den späten 1960er Jahren angestoßenen ›linguistic‹ und später ›narrative turn‹ stammt die Ansicht, dass die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft nicht grundlegend anders seien als die des Romanciers, weil in beiden Fällen Sinn hergestellt werde, indem Einzelteile zu einer Erzählung zusammengefügt werden (S. 2). Auf der anderen Seite steht die radikale Ablehnung dieser These: Es gebe nur verschiedene Stile, Geschichte zu schreiben, und im Vordergrund moderner Geschichtswissenschaft ständen wissenschaftliche Standards und Überprüfbarkeit (S. 4). Der ersten Auffassung wird von hier aus der Vorwurf gemacht, die Geschichtsschreibung auf die im Stile des literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts geschriebene Historiographie zu beschränken.

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Rüths Projekt besteht nun darin, narrative Alternativen jenseits dieses ›traditionellen‹ Erzählens des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Hierzu wählt er die französische ›Annales‹-Geschichtsschreibung aus, die dafür bekannt ist, »die geschichtswissenschaftliche Praxis inhaltlich wie methodisch einer grundlegenden Revision unterzogen zu haben« (S. 11).

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Die ›Annales‹ – insbesondere Fernand Braudel 3 – sind für ihre Anti-Narrativität bekannt, die sich, wie sie behaupten, aus ihrer Absage an die politische Ereignisgeschichte ergibt. Rüth stellt diesem geschichtstheoretischen Diktum entgegen, dass die Vertreter der ›Annales‹ – insbesondere der so genannten dritten Generation – in der historiographischen Praxis durchaus erzählen (S. 14).

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In einem zweiten theoretischen Teil (II.) »Geschichte und Erzählung in der Theorie« fasst Rüth präzise – wenngleich ohne über bekannte Darstellungen hinauszugehen – die Entwicklung der Theoriediskussion des Verhältnisses von Geschichte und Erzählung zusammen. Hierbei werden die Ansätze von Hayden White, Paul Ricœur und Roland Barthes sowie die narratologischen Überlegungen von Gérard Genette, Dorrit Cohn u.a. vorgestellt, zum Beispiel zur Identität von Autor und Erzähler in historiographischen Texten und anderen Fiktionssignalen, die in der Geschichtsschreibung ausgeschlossen werden, wobei Rüth jeweils demonstriert, wo die Probleme der einzelnen Ansätze liegen.

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Bezeichnend für die moderne Geschichtsschreibung ist die für Rüth im weitesten Sinne nach dem Positivismus des frühen 20. Jahrhunderts mit den ›Annales‹ beginnende Abkehr von einer rhetorischen Objektivität, die sich narratologisch insbesondere im ›covert narrator‹ – also einem verborgenen Erzähler – zeigt (S. 45). »Im Zeitalter der Wissenschaftlichkeit kann ›Objektivität‹ eben nur noch Überprüfbarkeit bedeuten« (ebd.). Es muss Transparenz geboten werden, und dieses gelinge nur, wenn der Historiker – mit einem ›overt narrator‹ – offen zeigt, wie er zu seinen Erkenntnissen gelangt ist. Hier nimmt Rüth den von Carlo Ginzberg 4 eingeführten Vergleich der Arbeit des Historikers mit der des Detektivs auf; der Historiker bringt danach sein Arbeiten als zweite selbstreflexive Geschichte zusätzlich zum dargestellten historischen Geschehen in die Geschichtsschreibung mit ein (S. 46 f.), was zur »narrativen Verdoppelung der Historiographie« führe (S. 45).

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Das Kriterium der Überprüfbarkeit begreift Rüth als pragmatisches – nicht systematisches oder kategoriales – Unterscheidungskriterium zwischen Historiographie und Fiktion. Ziel der Untersuchung ist am Beispiel verschiedener Texte der ›Annales‹»den Variantenreichtum historischen Erzählens« (S. 52) zu demonstrieren. Im zweiten Teil – den Kapiteln III.1. bis III.4. – untersucht Rüth entsprechend am Beispiel von vier Modellanalysen verschiedene Varianten des historischen Erzählens.

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Sekundäre Ereignisgeschichte als Erzählnetz

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Die wohl überzeugendste Analyse gilt Georges Dubys Le dimanche de Bouvines (1973). Rüth führt vor, wie Duby eine Ereignisgeschichte schreibt, ohne dem Muster traditionellen historischen Erzählens zu folgen. Statt von einem historischen Ereignis zu erzählen bzw. dieses zu rekonstruieren, wird ein collageartiges Netz von Erzählungen um dieses Ereignis geschaffen, in das die Rezeptionsgeschichte und die Verklärung der Schlacht ebenso eingebunden sind wie Erzählungen von Waffenentwicklungen oder von der Geschichte des Geldes. Es handelt sich also bei dieser Geschichte des Gedächtnisses um eine sekundäre Erzählung – nicht um die Rekonstruktion eines ›gewesenen‹ Ereignisses, das dem historiographischen Text seine Kohärenz verliehe. Damit »überkreuzt und überlagert« sich »die lineare Erzählung mit einer Vielzahl von Erzählungen mit verschiedenen Subjekten und Geschwindigkeiten« (S. 75). Geschichte wird thematisch und zeitlich multidimensional.

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Darüber hinaus liest Rüth Dubys Techniken als im Verhältnis zu Roland Barthes umgedrehten, negativen Realitätseffekt. Das Ereignis wird zwar rekonstruiert, doch gleichzeitig besteht eine ironische Distanz, sodass der historiographische Zugriff immer nur auf eine Realität zweiter Ordnung, nie auf das primäre Geschehen erfolgt. Hierdurch können zum Beispiel interne Fokalisierungen – nach Standarddefinitionen vieler Narratologen und Historiker in der Geschichtsschreibung unmöglich 5 – eine wichtige Rolle innerhalb der Geschichtsdarstellung übernehmen.

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Serielle Geschichtsschreibung
und totale Geschichte

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Die zweite Modellanalyse beschäftigt sich mit Emmanuel Le Roys Laduries Les paysans de Languedoc (1966). Dieser Text dient als Beispiel für quantitative bzw. serielle Geschichtsschreibung sowie für die ›histoire totale‹. Die Darstellungsalternative zur Erzählung ist hier das Tableau. Nicht die kausale Verkettung von Ereignissen, sondern die »Kohärenzen, Korrelationen und Strukturen, die eine Gesellschaft zusammenhalten« (S. 93), stehen im Vordergrund. Während innerhalb der dargestellten Phase (14. bis 18. Jahrhundert) keine Geschichte im Sinne der Logik einer Erzählung erkennbar ist, wird der übergreifende Agrarzyklus mit einem gesellschaftlichen Strukturwandel gegen Ende des 18. Jahrhunderts narrativ begründet (S. 108).

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Narratologisch besonders interessant ist Rüths Beobachtung, wie Ladurie externe Fokalisierung einsetzt, zum Beispiel für einen – aus genau nachgewiesenen Quellen – imaginierten Gang durch Hauseinrichtungen verschiedener historischer Personen. Dabei halten sich letztlich ›histoire‹ und ›discours‹ die Waage; es geht sowohl um die Bauern des Languedoc als auch um die Rekonstruktions- und Forschungsarbeit des Historikers, der nicht Ereignisse an sich, sondern deren Symbolik analysiert.

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Die Plausibilität der Darstellung verdankt sich keiner schlüssigen Geschichte, sondern der minutiösen Dokumentation des Vorgehens. Ohne diese besäße der Text keine followability. Damit gleicht der Erzähler einem Detektiv, der den Leser stets über den Fortgang der ›Ermittlungen‹ auf dem Laufenden hält. (S. 122)
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Mentalitäten und Geschichte des Imaginären

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Rüths drittes Beispiel, Jacques Le Goffs La naissance du Purgatoire (1981), dient als Beispiel für die aus der Mentalitätengeschichte entstandene historische Anthropologie und die Geschichte des Imaginären. Le Goff verfolgt die Entwicklung des Fegefeuers – in der ›longue durée‹ – über einen Zeitraum von fast einem Jahrtausend. Rüths Fokus liegt hierbei auf dem Emplotment: Le Goff führt in mehreren Phasen eine »Erfolgsgeschichte des Glaubens an das Fegefeuer« (S. 141) vor, die in Dantes Göttlicher Komödie gipfelt. Diese Entwicklung konnte sich als kollektive imaginäre Vorstellung vollziehen, weil das Fegefeuer nicht dogmatisch bestimmt ist und somit einen offenen Raum für die Phantasie der Gläubigen schafft.

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In allen drei Analysen sieht Rüth von Ereignissen oder imaginären Subjekten aus ein »Netz von Erzählungen« bzw. ein Wechselverhältnis zwischen der konkreten Geschichte und einer allgemeineren Geschichte entstehen: »Einmal mehr zeigt sich, dass sich die Historiographie stets in einem hierarchisch gestaffelten Netz von Erzählungen bewegt, welche zeichenhaft aufeinander verweisen können« (S. 147).

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Fiktionen und Mikrogeschichte

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Die vierte Modellanalyse untersucht Natalie Zemon Davis’ The Return of Martin Guerre (1982). Davis steht eher am Rande der ›Annales‹-Geschichtsschreibung, doch Rüth sieht genügend Kohärenzen, um an Davis’ Beispiel die Erzählweisen der Mikrogeschichte und das Verhältnis von Fakt und Fiktion zu diskutieren. Hierbei wählt er von Beginn an einen merkwürdig negativ wertenden Unterton: Die Mikrogeschichte erzähle anders als die ›eigentliche‹ Geschichte, die einen umfassenderen Entwicklungszusammenhang darstelle, nur eine Geschichte als ›story‹.

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Historiker, die über einen individuellen Fall forschen und schreiben, ohne einen Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen, müssen mit dem Vorwurf leben, die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung sei ein rein textimmanentes Phänomen, sie basiere auf einer gelungenen Intrige, wie sie kennzeichnend für den Großteil fiktionaler Erzählungen ist. (S. 161)
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Der Fall Martin Guerre bietet viele Evidenzlücken. Nirgends bezeugt sind v.a. die Gründe für Martin Guerres verlassene Ehefrau, Bertrande de Rols, einen falschen Ehemann zu akzeptieren, der nur vorgab, Martin Guerre zu sein. Rüth sieht die Auffüllung dieser Lücken von Davis auf zweierlei Weise geleistet: »zum einen durch eine – deutlich dominante – psychologisierende Neuinterpretation des Quellenmaterials mittels Einfühlung, zum anderen durch gesichertes allgemeines Wissen über die Epoche, die Region und die Zeit, in der sich die individuelle Geschichte ereignete« (S. 180). Hierdurch erstelle Davis »einen vollkommen schlüssigen Plot« und »einen eindeutigen Sinn« (S. 181). Damit scheitere ihr Text, weil er sich nicht an das historiographische Erzählmodell einer »kontrollierten Vorstellungskraft« halte, also das »Vetorecht der Quellen« nicht berücksichtige (S. 184).

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Detektiv und Mystagoge

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In seinem Fazit fasst Rüth seine Ergebnisse noch einmal zusammen, in dem er die ermittelten Formen des Erzählens mit den Rollen des Detektivs und des Mystagogen vergleicht: »Unter einem Detektiv ist ein Erzähler zu verstehen, in dessen Text die Reflexivität einen breiten Raum einnimmt. […] Unter einem Mystagogen ist ein Erzähler zu verstehen, der besonderen Wert auf die Anschaulichkeit der von ihm rekonstruierten Vergangenheit legt« (S. 194).

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Rüth zitiert François Furet, der den Mystagogen stärker in der traditionellen Geschichtsschreibung verortet und ihm Verfahren wie dramatisierende Zuspitzungen, Fokalisierungen, szenische Darstellung und einen ›romanhaften‹ Stil zuschreibt. Die Absicht sei, die Vergangenheit in einer »imaginären Reise« 6 wieder lebendig werden zu lassen (S. 195). Rüth schränkt nun ein, dass jede Geschichtsschreibung Anteile von beiden idealtypischen Erzählhaltungen habe. Er fasst diese Überlagerung als »konstitutive Hybridität der Historiographie« (ebd.): »Deren doppelte kulturelle Funktion besteht erstens im Erzählen wahrer Geschichten, zweitens aber auch darin, die Vergangenheit als ästhetische Illusion wieder erfahrbar und nachvollziehbar zu machen« (S. 195 f.).

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Trotz dieser Einschränkung polarisiert Rüth letztlich seine beiden idealtypischen Erzählhaltungen zu stark. Anschaulichkeit kann – da ist Rüth zuzustimmen – zu einer eindeutigen Geschichte führen, die alle Zweifel aufhebt. Sie kann aber genauso grundsätzlich ihren Möglichkeitscharakter herausstellen, damit selbst-reflexiv sein, sodass sie dann weitaus mehr Detektiv als Mystagoge ist. 7 Dieses lässt sich bereits am konkreten Fall von Natalie Davis’ The Return of Martin Guerre sehen.

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Wahrnehmung statt Fakten

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Es ist völlig richtig, dass Davis an vielen Stellen über die Quellen hinausgeht, und mögliche Szenarien entwirft, die gleichwohl eindeutig scheinen, insbesondere mit ihrer Gedankenintrospektive. Rüth entgeht hier überraschenderweise (nachdem er genau dies bei der Analyse der ebenfalls vorwiegend mystagogischen Geschichte von Duby gezeigt hat), dass Geschichte nicht allein aus empirisch nachprüfbaren Fakten besteht. 8

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Auf einer zweiten Darstellungsebene ist The Return of Martin Guerre nicht die Erzählung einer in ihren Fakten rekonstruierten Geschichte, die sich im 16. Jahrhundert im Languedoc abgespielt hat, sondern eine Geschichte von der Wirkung des Betrügers Pansette auf seine Zeitgenossen, von einem Schauspiel über das Annehmen und Vorspiegeln einer Identität im damaligen Umfeld. Da die Datenlage dünn ist, ist ein großer Teil der Geschichte die Täuschungsgeschichte. Eine der Hauptquellen stammt z.B. vom Richter Coras, der während des Gerichtsprozesses gegen Pansette von dessen Geschichten fasziniert war. Dieser wurde nur durch das Auftauchen des wirklichen Martin Guerre endgültig als Betrüger entlarvt. Davis’ Text ist also gerade nicht das ausschließliche Erzählen einer durch psychologische Einfühlung gewonnenen Geschichte, wie Rüth es sieht, sondern Davis zeigt, wie die Wahrnehmung von Pansette durch seine Zeitgenossen funktioniert haben könnte.

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Dass Davis dabei – gerade in ihrer Geschichte von Guerres Frau – ein bisschen zu eindeutig deren Verhalten schlussfolgert, ist richtig, ändert aber nichts daran, dass sie eine Geschichte erzählt, die faktisch nicht vollends zu erschließen ist. Und als Wahrnehmungsgeschichte gewinnt diese ›Mikrogeschichte‹ dann wieder allgemeingültigen Wert. Sie erzählt dem Leser etwas von Identitäten, juristischen Diskursen und dem Begriff der Ehe im 16. Jahrhundert. Es werden Diskurse und deren Begrenzungen vorgeführt.

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Interessant ist, dass Rüth sich offensichtlich Davis’ Quellen nicht direkt angeschaut hat (sie sind auch im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt). Das heißt, alles Wissen über die faktischen Ereignisse stammt aus Davis’ Text und ihren Anmerkungen (sowie einzelnen anderen Sekundärforschungsbeiträgen). Mit anderen Worten gibt Davis’ angeblich scheiternder mystagogischer Text dem Leser, ohne in die Quellen zu gehen, alle Mittel an die Hand, zu sehen, was faktisch ist und wo historische Möglichkeitsschlüsse angewandt werden.

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Perspektiven für eine Erzähltheorie
der Geschichtsschreibung?

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Axel Rüth hat ein sehr solides Buch mit vielen wichtigen Erkenntnissen vorgelegt. Der theoretische Teil bereitet die Kriterien für die vier Modellanalysen präzise vor. Im Vergleich mit der bisher einzigen monographischen Erzählanalyse der ›Annales‹, von Phillippe Carrard, 9 überzeugt Rüth durch seine Klarheit und die genauen Textanalysen, während Carrards Studie oft mehr als Sammelsurium vieler narratologischer Einzelbeobachtungen erscheint, das weitere Untersuchungen anregen konnte.

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Die ersten beiden Textanalysen zu Duby und Ladurie sind besonders hervorzuheben, da hier mit der sekundären Ereignisgeschichte als Erzählnetz sowie der seriellen Geschichtsschreibung Darstellungsverfahren systematisch am Text erarbeitet werden, die für unterschiedliche Formen der Geschichtsschreibung grundlegend sind. Die Analyse von Le Goffs Mentalitätengeschichte fällt insofern ab, da das Ergebnis – die ›longue durée‹-Entwicklungsgeschichte des Fegefeuers und die Bedeutung des Emplotments – erwartbar war.

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In der Analyse von Davis’ ›Mikrogeschichte‹ zerfällt dann Rüths zuvor so produktiver Ansatz. Er reproduziert – auf poetologisch leicht erhöhtem Niveau – den altbekannten Gegensatz von Fakt und Fiktion und zieht Grenzen, die viele Historiker auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gezogen hätten. Rüth kommt hier letztlich nicht über eine altbekannte Unterscheidung hinaus: Im späten 18. Jahrhundert war dieses die alte rhetorisch-anschauliche Geschichtsschreibung und die neue moderne analytisch-erzählende Geschichtsschreibung. 10 Im Paradigma der ›Annales‹ entspricht dem die alte erzählend-anschauliche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und die neue selbstreflexiv-analytische Geschichtsschreibung, auch wenn sich der analytische Anteil im Laufe des Verwissenschaftlichungsprozesses verändert hat.

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Für eine narratologische Herangehensweise an Geschichtsschreibung kann man also gerade an den ersten Analysen Rüths viel lernen; zum Beispiel bezüglich der Bedeutung von internen und externen Fokalisierungen in Geschichtsschreibung oder der Möglichkeit, ironisch Distanz zur eigenen historischen Rekonstruktion zu bewahren und damit deren Konstruktionscharakter zu markieren. Hierbei hat Rüth die selbstreflexiven Erkenntnisse der ›Annales‹-Historiker deutlich übertroffen.

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Dennoch verbleibt für den Rezensenten ein Makel. Erzählte Geschichte ist ein historisches Buch; die Fallbeispiele stammen aus den Jahren 1966–1982; an keiner Stelle lässt Rüth erkennen, wie man die aufgezeigten verschiedenen Erzählfacetten für Fragestellungen aktueller Historiographie perspektivieren könnte. Für eine 2005 veröffentlichte Monographie ist Erzählte Geschichte außerdem nicht ganz auf dem neusten Stand der Forschung. Die im Jahr 2002 an der Universität zu Köln vorgelegte und von Andreas Kablitz betreute Dissertation wurde anscheinend unverändert publiziert und rezipiert nur sieben Forschungsbeiträge der Jahre 2000 bis 2002 (und keinen jüngeren), die in der Regel nur schnell in die Fußnoten eingefügt worden sind.

 
 

Anmerkungen

Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimor, London: Johns Hopkins University Press 1973.   zurück
Vgl. hierzu Stephan Jaeger: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5) Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2002, S. 237–263. Als Beispiele für neuere Ansätze siehe die ›Possible World‹-Theorie, z.B. Lubomír Doležel: Possible Worlds of Fiction and History. In: New Literary History 29 (1998), S. 785–809; das Thema von ›Performance‹-Theorien und Geschichte, z.B. Kalle Pihlainen: Of Closure and Convention. Surpassing representation through performance and the referential. In: Rethinking History 6 (2002), S. 179–200; oder das Thema der historischen Distanz, z.B. Mark Salber Phillips: Distance and Historical Representation. In: History Workshop Journal 57 (2004), S. 123–141.   zurück
Bei Rüth (S. 13) zitiert nach Fernand Braudel: Ecrits sur l’histoire. Paris: Flammarion 1969, S. 12.   zurück
Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1983, S. 61–96.   zurück
Siehe zum Beispiel Dorrit Cohn: The Distinction of Fiction. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1999, S. 119, oder Ansgar Nünning: »Verbal Fictions?« Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 40 (1999), S. 351–380, S. 375.   zurück
Bei Rüth zitiert nach François Furet: L’atelier de l’histoire. Paris: Flammarion 1982, S. 20.   zurück
Zudem ist der Detektiv nicht nur selbstreflexiv im Hinblick auf seine Methode, sondern auch kreativ hinsichtlich seiner Lösungen. Ohne Einbildungskraft und kreative Schlussfolgerungen kommt er nicht aus (siehe z.B. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995, S. 329).   zurück
Vgl. hierzu Stephan Jaeger: Multiperspektivisches Erzählen in der Geschichtsschreibung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Wissenschaftliche Inszenierungen von Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit. In: Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen. Studien zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur narrativer Texte im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2000, S. 323–346, S. 335–339. Für das von Davis in ihrer weiteren Karriere, insbesondere in Women on the Margins (1995) fortentwickelte performative Verfahren der Geschichtsschreibung, durch das mögliche Welten erschlossen werden können, siehe auch Stephan Jaeger: Erzählen und Lesen von gender in der Historiographie. In: Sigrid Nieberle / Elisabeth Strowick (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. (Literatur – Kultur – Geschlecht 42) Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006, S. 315–334.   zurück
Philippe Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier. (Parallax. Re-visions of Culture and Society) Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1992.   zurück
10 
So zum Beispiel Theodor Schieder, wenn er Friedrich Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs gegenüber dessen erster historischer Monographie, dem Abfall der Vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, als analytischer und weniger anschaulich lobt (Schiller als Historiker. In: T. S.: Begegnungen mit der Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1962, S. 56–79, S. 68 f.).   zurück