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Patronagesysteme, Trivialmaschinen, Innovationsbörsen

An- und Einsichten performativer Wissenschaftskulturen

  • Klaus W. Hempfer / Anita Traninger (Hg.): Macht - Wissen - Wahrheit. (Rombach Litterae 133) Freiburg i. Br.: Rombach 2005. 275 S. 1 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 3-7930-9432-4.
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Kulturen des Performativen

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»Die folgenden Beiträge dokumentieren die Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs 447 ›Kulturen des Performativen‹, die vom 21.–23.11.2003 an der Freien Universität Berlin stattfand. Im Unterschied zur ursprünglichen Konzeption, die den Machtaspekt stärker profilierte, fokussiert die vorliegende Auswahl von Plenarvorträgen und Sektionsbeiträgen die Relation von Wissen und Wahrheit und privilegiert damit eine Lektüre des Titels, die ›Macht‹ als Verbum der dritten Person Singular und das ganze als eine Frage liest, ohne daß das Verhältnis von Macht zu Wissen und Wahrheit – wie einzelne Titel explizit signalisieren – ausgespart würde.« (S. 9)

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Mit dieser etwas spärlichen Vorinformation, der eine inhaltliche Zusammenfassung der einzelnen Aufsätze folgt, entlassen die Herausgeber den Leser in die Lektüre der einzelnen Beiträge. Dem mit dem SFB 447 der FU Berlin nicht vertrauten Leser bleiben so eine Reihe durchaus interessanter Informationen über den Kontext, in dem der Sammelband entstanden ist, bedauerlicherweise vorenthalten.

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So hat sich die Erforschung der »Kulturen des Performativen« (der Homepage zufolge 1 ) das ehrgeizige Ziel gesetzt, perspektivische Wahrheitsbegriffe pragmatisch aufzuschlüsseln. Die epistemologische Perspektive soll durch eine funktionsgeschichtliche ergänzt werden, indem textinterne und textexterne Elemente im Zusammenspiel beobachtet werden. Damit wird von vornherein deutlich, dass sich der SFB im (nach wie vor) umstrittenen Diskussionsfeld einer geisteswissenschaftlichen Erweiterung von Textwissenschaften als Kulturwissenschaften bewegt. Der »Ereignischarakter« von Texten beziehungsweise die »Metapher von ›Kultur als Performance‹« im »Spannungsverhältnis von Performativität und Textualität« sollen stärker in den Vordergrund der Betrachtung rücken.

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Der folgende Parcours durch die einzelnen Beiträge orientiert sich an den Vorgaben der großen Themenbereiche, die den Band in zwei kleinere und eine große mittlere Rubrik unterteilen: I. Wahrheit und Wissen (insgesamt drei Aufsätze), II. Wissen machen (sieben Beiträge), III. Wissen und Diskursivierung (drei Aufsätze).

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Wahrheit und Wissen

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Der Sammelband setzt mit einer informativen Übersicht zu »Kultur und Wissen« von Wolfgang Detel ein. Sowohl historisch als auch systematisch werden hier verschiedene Filiationen und Vernetzungen von regulativen Machtpraktiken nachgezeichnet, die mit Wissensidealen einer ›perfekten‹ Wissenschaft kontrastiert werden. Das besondere Augenmerk Detels richtet sich auf das epistemische »Patronage-System« (S. 23), wobei deutlich wird, dass die höfische Patronage der Neuzeit mit der modernen ›Mentorenmafia‹ enger verwandt ist, als man auf den ersten Blick glauben mag: »Hohe Patrone förderten Klienten nicht primär aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ansichten, sondern aufgrund ihrer Brillanz, Sichtbarkeit und Galanterie« (S. 24). Die Fülle interessanter Beispiele Detels kann hier nicht im Einzelnen referiert werden. Es sei lediglich darauf verwiesen, dass der Autor eine oft unterbelichtete epistemische Fragestellung aufgreift, nämlich diejenige nach der Etablierung nicht von propositionalem Wissen, sondern von Nicht-Wissen, das sowohl im sokratischen Sinne als auch manipulativ eingesetzt werden kann.

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Wissen, so vermag Detel überzeugend zu zeigen, ist mit seinen Implikationen von Macht und Wahrheit nicht unabhängig von einem zumindest »moderaten [...] Kontextualismus« (S. 32) zu denken, der zwar am Standard der »superbegründbare[n] Meinung« (S. 37) festhält, diese jedoch historisch justiert und damit der (progressiv orientierten) Radikalität enthebt. Im Anschluss daran liefert Roberto Nigro mit »Spiele der Wahrheit und des Selbst zwischen Macht und Wissen« einen eher blassen Beitrag zu Foucault, der keinerlei Neuigkeiten zu bereits (hinlänglich) Bekanntem liefert und den wichtigsten Begriff Foucaults zum »Problem der gleichzeitigen Subjektivierung der Subjekte und der Objektivierung der Objekte« (S. 53) komplett ignoriert: die Ethopoietik.

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Peter von Moos’ Aufsatz handelt über: »Die ›bloße‹ und die wahrheitsfähige Meinung im Mittelalter. Eine theoretische Weichenstellung«. Leider misslingt die theoretische Weichenstellung zu Beginn der Abhandlung, die mit Roland Barthes in der Moderne einsetzt. Hier wird nicht nur Barthes’ La chambre claire kurzerhand in (Truffauts Film?) La chambre verte (S. 56) umgetauft. Auch die Interpretation zum Sprachbegriff Barthes’ ist äußerst verkürzt und zum Teil sachlich unzutreffend. »Barthes’ Französisch [, das in den Augen von Moos] hier etwas geschwollen daherkommt« (S. 56, Anm. 3), versucht von Moos neu zu übersetzen.

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Zwar ist seine Kritik an Scheffels Übersetzung 2 sicherlich nicht unberechtigt, doch die angebotene Alternative missversteht Barthes’ raffinierte Wortspiele gleichfalls und unterstellt ihnen einen »linguistischen Negativismus« (S. 52), der an Barthes’ Interpretation der Topik vorbei zielt. Überzeugender sind von Moos’ Rekonstruktionen der aristotelischen Topik, deren Rezeption bereits im 12. Jahrhundert fruchtbar wird und zu einer Ausdifferenzierung der endoxalen Gegenstandsbereiche führt. Politik und Recht, so zeigt von Moos, orientieren sich nunmehr an einer ›logica probabilis‹, die sich der rein formalen Logik zunehmend überlegen zeigt, was am Beispiel des Bürgerhumanismus der Renaissance dargestellt wird.

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Wissen machen

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Im mittleren, größten Teil des Sammelbands finden sich solide neben ausgezeichneten Beiträgen, unter denen diejenige von Sybille Krämer und Anita Traninger deutlich hervorragen. »Das Geld und die Null: Die Qualifizierung und die Visualisierung des Unsichtbaren in Kulturtechniken der frühen Neuzeit« sind die Analysen Krämers übertitelt, die ein spannendes Panorama der Kulturtechnik des Geldes präsentieren. Mit sachlicher Umsicht und beeindruckender Materialkenntnis zeichnet Krämer souverän und mit äußerst sprachlicher Präzision die performativ bedeutsamen Wechselspiele zwischen monitärem und numerischem Diskurs nach. Nicht nur sprachliche, sondern auch symbolische Handlungen bringen hervor, was sie bezeichnen: »Die Physiognomie einer Kultur zeigt sich nicht nur in ihren mehr oder weniger stabilen Werken, Monumenten und Repräsentationen, vielmehr in den fluiden, kleinteiligen Prozeduren und Praktiken, in denen Kulturen sich als alltägliche Praxisformen hervorbringen und reproduzieren.« (S. 81)

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Materialität, Präsenz, Fluidität und Ereignis sind im Folgenden die vier Kriterien, anhand derer Krämer Quantifizierungen von visualisierten Unsichtbarkeiten aufspürt und dabei die Mediologie des Geldes (in seiner Funktion als »Medium und Mittler«, S. 85) als diejenige Schnittstelle benennt, in der »das Verschiedenartige auf einen Nenner« (S. 86) gebracht wird. Das Geld avanciert zur Verkörperung des quantitativ Bestimmbaren, und in dieser Gestalt wiederum wird die Warenform zur Denkform beziehungsweise zur rationalisierten Intersubjektivität: »Aneignen als Veräußern, Nehmen als Geben, Werte einsetzen um Werte zu gewinnen, bildet eine Logik sozialer Reziprozität aus« (S. 91).

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Einer sozial signifikanten Praktik widmet sich auch Anita Traninger, indem sie den in den überkommenen Literaturwissenschaften oftmals belächelten balinesischen Hahnenkampf Clifford Geertz’ auf ein konkretes Beispiel appliziert: »Hahnenkampf. Agon und Aggression in akademischen Disputationen der frühen Neuzeit«. Der Streitdiskurs des universitären Disputationswesens zeigt sich in der Darstellung Traningers als ein Kampf um Wissen, dessen Ziel nicht der ›Wahrheit‹, sondern der klaren Unterscheidung von Sieger und Besiegtem galt. An der Schwelle vom Spätmittelalter zur Neuzeit wird die performative Dimension der Dialektik und ihrer Ritualisierungen im Kontext der Wiener Universität nachgezeichnet, wobei der Einbezug des Gallus pugnans von Joachim von Watt (1513 / 14) zusätzliche (auch amüsante) Einsichten beisteuert. Ohne allzu genderforciert zu argumentieren, zeichnet Traninger nüchtern virile ›Kampfpraktiken‹ des Wissens nach, in denen »Zucker und Honig [...] die Metonymien einer ›unmännlichen‹ Verweichlichung« (S. 178) sind.

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In »Der Sieg der Prognose über die Prophezeiung: Savoir pour prévoir« von Alois Hahn wird eine den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs dominierende Praktik hinterfragt: der Hang zur Prognostik. Prognosen sind äußerst beliebt, was nach Hahn zum einen auf eine lange Tradition verweist (Traumdeutungen, biblische Prophezeiungen, astrologische Vorhersagen). Zum anderen entspricht die Prognose den Unsicherheiten einer kontingent gewordenen modernen Welt, in der nach Neuem systematisch gesucht wird. Gleichzeitig mit der Innovation wächst auch der Druck einer immer ungewisser werdenden Zukunft, der ohne Prognosen »nicht auszuhalten« (S. 139) wäre. Die Gesellschaft produziert damit selbst eine Nachfrage und Erwartungshaltung, der die Prognosen (Wahlen, Wirtschaftswachstum etc.) kaum standhalten können. Denn Prognosen sind wenig verlässlich und vermögen Planungszwecke und Risikokontrollen nur eingeschränkt abzusichern. Denn Menschen, so Hahn, seien nun einmal »keine Trivialmaschinen« (S. 131), sondern in ihren freien Entscheidungen wandelbar – was der Gesellschaft wiederum ein erfreuliches Quantum an Kreativität, Überraschung und Improvisation sichere.

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Während der Aufsatz von Klaus Mainzer, »Die Macht der Computer und die Kreativität der Vernunft« mit einem befremdlichen, fast anachronistisch anmutendem Technikskeptizismus aufwartet, hinterfragt Richard Nate in »Inszenierte Wissenschaft. Rhetorik, Mythos und Pragmatik« diskursive und stilistische Elemente des Wissenschaftsdiskurses und seiner historischen Determinanten. Anhand der Narrativierung frühneuzeitlicher Experimentberichte und der modernen Eugenetik zeigt Nate, wie im Rekurs auf kollektive Mythen Wissenschaftskonzepte – jenseits der propagierten Neutralität – politisch instrumentalisiert werden können.

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Gerhard Neumann bewegt sich mit »Enzyklopädie und Wissenstheater. Zum Kulturkonzept der Moderne in der deutschen Romantik« innerhalb des Rahmens eines seiner Forschungsschwerpunkte, den er in gewohnter Weise kenntnis- und detailreich beherrscht. Die Wissenskonfigurationen in Novalis’ Allgemeinem Brouillon werden in Hinblick auf ihre Transformationen der französischen Enzyklopädistik untersucht. Die spezifische Wissenspoetik und ihre »Innovationsbörsen« (S. 141), die Neumann dabei zu Tage fördert, überzeugen allerdings mehr als ihre Applikation auf einen tendenziell entgrenzten Romantik-Begriff (vgl. S. 142 f.). Marc Föcking beschließt den mittleren Teil des Bandes mit einer Betrachtung des Paradoxons von epistemischem Erkenntnisoptimismus und gleichzeitiger Praxisfehlbarkeit im 19. Jahrhundert, das sich naturgemäß besonders folgenreich im Bereich der Medizin zum Austrag bringt und narrativ zu kompensieren versucht (»Trois contes. Ohnmacht des Wissens und Macht des Erzählens in der medizinischen Fallgeschichte des 19. Jahrhunderts«).

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Wissen und Diskursivierung

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Der Sammelband wird beschlossen durch drei Aufsätze im dritten Teil: Brigitte Weingart: »Transmission vs. transmutation. Aufzeichnung und Abweichung in Andy Warhols Factory«; David Roesner: »Die Diskursivierung des Performativen und die Performativität diskursiver Praxis. Theaterpartituren zwischen Werkzeug und Waffe«; Isa Wortelkamp: »Sehen mit dem Stift in der Hand – Bewegungen im Blick des Zeichners«. Die Schlussrubrik bietet wenig Überraschendes oder innovative Perspektiven. Sowohl Andy Warhols Aufzeichnungsexperimente und die Produktivität ihrer ›Sichtweisen‹ (Weingart) als auch die Aporien von Versprachlichungen, die das flüchtige und gegenwärtig wirksame Ereignis des Tanzes zu fixieren versuchen (Wortelkamp) sind altbekannte Themen. Der Aufsatz von Roesner wagt zumindest eine ungewohnte Perspektive, indem er versucht, Theateraufführungen – analog zu Musikpartituren – synästhetisch erfahrbar zu machen.

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Fazit –
Schwierigkeiten und Herausforderungen

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Ob »Patronagesysteme«, »Trivialmaschinen« oder »Innovationsbörsen«: Der Sammelband Macht – Wissen – Wahrheit vermittelt dem Leser eine Reihe interessanter An- und Einsichten, und zwar gerade auch dort, wo diese das Feld der angestammten Literaturwissenschaften übersteigen. Allerdings hätte man sich den einen oder anderen (neben dem von Neumann) weiteren Beitrag gewünscht, der das kritische Potential der (literarischen) Sprache gegenüber der ideologischen Komponente der ›Wahrheitsmacht des Wissens‹ profiliert hätte. Denn bei aller (sicherlich auch notwendigen) Relativierung der sprachlichen Performanz im Kontext der Kultur bleibt es letzten Endes dennoch die Sprache, in und durch die Wissens-, Macht- und Wahrheitsansprüche dekouvriert und als solche kenntlich gemacht werden können.

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Dass die Relation zwischen ästhetischer Poetik und Wahrheit / Macht / Wissen letztlich stets problematisch bleiben muss, sollte eine literaturwissenschaftliche Episteme zum Performativen dennoch nicht davon abhalten, systemtransferierende Poetologien des Wissens innerhalb der ›Ordnung der Dinge‹ zu profilieren und ihre gegenseitigen Funktionalisierungen (über die thematischen Relationen oder die Metapher der »sozialen Energie« Greenblatts hinaus) zu hinterfragen. Insofern weist der Beitrag von Föcking eine interessante Richtung auf, da er darauf abhebt, dass Wissen(schaft) und Literatur beide gleichermaßen Fallgeschichten beschreiben beziehungsweise auf exemplarischer Narration aufbauen 3 und somit komplementäre Diskursformen darstellen. Im Kontext der ›Aufschreibesysteme‹ produziert Literatur Wissen, und umgekehrt können Epistemologien poetologische Relevanzen aufweisen.

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Insgesamt vermittelt der Band einen anschaulichen Eindruck performativer Modelle von Macht, Wissen und Wahrheit und ihren verschiedenen Interdependenzen, wobei über die bekannten interdisziplinären Ansätze (New Historicism, Cultural Poetics) hinaus Ausblicke auf innovative epistemologische Paradigmen erprobt werden. Dass in diesem Prozess gerade die Aspekte der Diskursivierung – die Objekt- und Metaebene gleichermaßen betreffen – von vordringlichem Interesse sind, ist evident. Ebenso evident ist aber auch, dass gerade in diesem Bereich (neben der Historizität, der Poetizität und der Konstruktivität) für Forschungen zum Performativen weiterhin die größte Schwierigkeit, aber damit auch die interessanteste interdisziplinäre Herausforderung liegen wird.



Anmerkungen

Roland Barthes: Leçon / Lektion. Übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt / Main 1978.   zurück
Wegweisend sind hier die diversen Arbeiten von Wolf Lepenies zum Verhältnis von Epistemologie und Literatur.   zurück