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Von der klassischen Figur zur
performativen Figuration

  • Gottfried Boehm / Gabriele Brandstetter / Achatz von Müller (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. Paderborn: Wilhelm Fink 2006. 350 S. 50 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 3-7705-4264-9.
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Der Sammelband »Figur und Figuration« dokumentiert eine Tagung des Forschungsprojektes »Bild – Figur – Zahl«, welche vom 21. bis 23. Januar 2005 an der Universität Basel stattgefunden hat. Darüber hinaus, so erfährt man aus der Einleitung (»Zur Einführung«; S. 7–9), sind viele Impulse aus dem Projekt »Bild – Schrift – Zahl« des Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (Humboldt-Universität Berlin) in die Konzeption des Bandes eingeflossen. Außerdem kann die Diskussion auf eine Reihe von voraus gegangenen Publikationen aufbauen, welche in der ersten Fußnote zur Einleitung komprimiert zusammen gefasst sind. Außerdem (so weiter die Auskunft in der Einleitung) habe das Projekt eine Fortsetzung gefunden in dem Schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik. Über Macht und Bedeutung der Bilder«.

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In der Fülle der Publikationen zu Konzeptionen des Bildes gelingt es dem hier zu besprechenden Sammelband, eine wichtige Diskursformation – nämlich die des ›bewegten Bildes‹ – anhand der Kategorie der Figuration neu in der Forschungslandschaft zu positionieren. Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass das Bewegungsbild in der Perspektive der Figur(ation) sowohl als typisch modernes Phänomen als auch in Anknüpfung an verschiedene Bilddiskurse der Tradition sichtbar wird. Einschlägig, was das letztere Feld angeht, ist Erich Auerbachs »Figura«-Studie (1938) im Kontext der christlichen Theologie. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht allerdings im vorliegenden Sammelband die Figuration als performativer Bildprozess, welcher an literaturwissenschaftlich-rhetorische Forschungen und an neuere Überlegungen der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie anschließt. Einen »schnellen Durchgang durch die Terminologiegeschichte der Bildfiguren« (S. 165) im Allgemeinen liefert dabei der Beitrag von Rüdiger Campe (»Aktualität des Bildes. Die Zeit der rhetorischen Figuration«). Die zentrale Stellung der Metapher innerhalb der rhetorischen Tradition im Speziellen führt wiederum der Aufsatz von Anselm Haverkamp (»Die wiederholte Metapher. Ambiguität, Unbegrifflichkeit und die Macht der Paläonyme«) vor Augen. Unterteilt ist das Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes in die sechs Rubriken: »Bild und Rhythmus«, »Bild und Figur«, »Text, Rhetorik und Figur«, »Zahl und Figur«, »Mediale Figurationen«, »Raum und Figur«.

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Das interdisziplinäre Spektrum, das ausgehend von diesen Perspektiven im Sammelband eröffnet wird, ist beachtlich. Hervorzuheben ist nicht zuletzt, dass der Band konzeptionell stringent aufgebaut ist und nahezu alle Beiträge im Rahmen der Vorgaben interessante, durchdachte und immer wieder auch innovative Überlegungen zu den »Gegenkräfte(n) von Kinesis und Stasis einer konsistenten Bilderfahrung« (»Zur Einführung«, S. 7) präsentieren. Im Folgenden können leider im Rahmen des Rezensionsforums nicht alle mathematischen (Gerald Wildgruber: »Das Schließen der Augen in der Mathematik«) oder philosophischen Spezialimpulse besprochen werden. Der Schwerpunkt der Rezension liegt auf den literaturwissenschaftlichen Ansätzen und ihren Brückenschlägen hin zu den Nachbardisziplinen. Zumindest hingewiesen sei aber auf die interessanten medientechnischen Aufsätze von Peter Gendolla (»Mehr Raum? Zur Auflösung von Texten in Bilder in neu(est)en Medien«), Sibylle Peters (»Projizierte Erkenntnis. Lichtbilder im Szenario des wissenschaftlichen Vortrags«) und Joachim Paech (»Bewegung als Figur und Figuration, in Photographie und Film«). Wichtige Impulse in den zum Großteil ästhetischen Nachbardisziplinen (vor allem Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft) liefern die Aufsätze von Ileana Parvu (»Die verschobene Ebene. Picassos Rückbesinnung auf den Kubismus«), Maja Naef (»Schneiden und Verschleifen. Eva Hesses Mechanical Drawings«), David J. Levin (»Randerlösung. Zur Dramaturgie der Figuration in Wagners Tannhäuser«), Wolf-Dieter Ernst (»Die ›hässliche Maske eines Greises‹ behaupten. Zur visuellen Energie im Schauspiel«) und Marco Vencato (»Rom als multiple Figur. Zur Geschichte einer umkämpften Stadtwahrnehmung, 12.-14. Jh.«).

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Grundlegungen: Energetische Übergangszonen und Temporalität der Bildsysteme

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Ausgehend von den Zeichnungen von Henri Matisse beschreibt Gabriele Brandstetter im ersten Aufsatz des Sammelbandes (»SchnittFiguren. Intersektionen von Bild und Tanz«) »die Spannung zwischen Figur und Figuration, zwischen Figuren eines Körpercodes und ihrer beständigen Transfiguration und Umschreibung im Prozess der Bewegung« (S. 13). Im Folgenden wird die Arabeske mit Bezug auf William Forsythes zeitgenössische Choreographie als Körpertheorem exponiert, wobei – dies ist einer der spannendsten Aspekte des Aufsatzes – der Tanzdiskurs durch den Einbezug von Textquellen weitere Dimensionen entfaltet. Es handelt sich um das Programm-Buch zu Forsythes Limb’s Theorem (1990), das sowohl typographisch als auch inhaltlich mit Formen der Dreidimensionalität experimentiert und damit als integrales Element des choreographischen Diskurses gesehen werden kann. Die architektonischen Zeichnungen und philosophischen Gedanken (u.a. Wittgenstein) stellen »die höchst abstrakten und zugleich ganz und gar sinnlichen Fragen nach dem Raum und der Zeit von (Tanz-)Bewegung und ihrer Konfiguration« (S. 15). Es sind eben diese Fragestellungen, die auch Matisse in seinen ›papiers découpés‹ beschäftigt haben.

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In diesem Zusammenhang der Diskurse entfaltet die von Brandstetter profilierte Figuration der Arabeske ihr ästhetisches Potential. Als raum-generierende Kraft situiert sie sich bevorzugt in Übergangszonen. Besonders prägnant wird die »Idee des Tanzes« (S. 17; Hervorhebung im Original) in Matisses Kreisfiguren ausgetragen, die »von einer geradezu bestechenden Logik« (S. 17) zeugen. In den Bildarrangements des Malers finden sich geometrisch komponierte Energiezentren, die eine »Regie (…) der Blickführung« (S. 19) ins Bild setzen. Transgression und klare Schnitte schließen dabei einander nicht aus, sondern umreißen den Tanz jenseits des bloßen Sujets als Gestaltprinzip einer Tanzbewegung, deren Rhythmen in der Tanzmoderne innovative Konfigurationen kreieren. Diese übersteigen die überkommenen theatralen Bühnenordnungen, was mit Bezug auf Nijinskis Choreographie von Le Sacre du Printemps und den dort realisierten introvertierten Körper›verdrehungen‹ (welche die Simultaneität des Bildes in multiple Bewegungsrichtungen aufbrechen) besonders prägnant aufgezeigt werden kann.

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Die von Brandstetter eingangs souverän präsentierten Überlegungen werden in dem folgenden Aufsatz von Gottfried Boehm als »Akzentverschiebung vom Produkt auf den Prozess« (S. 34) auf gleich hohem Niveau fortgeführt, wenn auch mit anderen Akzenten versehen. Der Aufsatz »Die ikonische Figur« stellt sich der Herausforderung, das Konzept der Figuration und des verwandten Begriffs des Schemas im Zusammenhang des statischen Bildes zu erforschen. Knapp zusammengefasst ist die Fragestellung folgende: »Wie wird aus ›figura‹ Figuration?« (S. 35). Es geht also um die Figurwerdung im Feld einer »Logik der Kontraste« (S. 35): »Figuration meint, kurz gesagt, ein visuelles Hervortreten von Etwas, eine auf Dauer gestellte Genese, in der ein Dargestelltes plastische Greifbarkeit gewinnt, sich räumlich und bewegungsmäßig ausdifferenziert.« (S. 36).

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An einer Reihe von Beispielen (u.a. Kandinsky, Picabia, Matisse, Mondrian) werden elementare Bewegungsimpulse der Figuration und deren Zeitgenese als visuelle Gegenwart aufgezeigt, die gleichzeitig immer auch mit sprachlich fundierten Bildern operiert. Seine luziden Beobachtungen zur Temporalität im Kontext der Bildsysteme untermauert Boehm zusätzlich mit aktuelleren Standards aus der Gestaltpsychologie, wobei die Kategorien des Grundes, der Inversion, der Peripetie oder der Beschleunigung in Hinblick auf die Figuration den Sachverhalt veranschaulichen. Das materielle Bild, so wird gezeigt, muss »in den Zustand seiner Energetisierung übergehen, in ihn umschlagen, wenn es sich mit der Erfahrungswelt des Betrachters verbinden will« (S. 41).

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Ikonische Alterität, Figuren des Dritten, romantische Figurierungen, Schachfigurengedichte

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Dieter Mersch legt in »Blick und Entzug. Zur ›Logik‹ ikonischer Strukturen« Überlegungen zur Valenz der Rahmung als einem Dispositiv der Grenze vor. Als solches begründet die Kadrierung eine Duplizität des Blicks in Form eines diskursiven ›als‹. Dass das Bild Phänomene ›als etwas‹ zeige, markiert seine mediale Eigenart im Vergleich zu anderen Diskursen. Mersch beharrt kompromisslos auf der Inkommensurabilität des Bildes, was er u.a. mit dem »Scheitern der ›Ekphrasis‹« (S. 59) begründet. Zu diesem Resultat kann er allerdings nur deshalb kommen, weil ihn im philosophischen Kontext seiner Ausführungen die literarästhetischen und textstrategischen Verfahren der Ekphrasis nur am Rande interessieren, welche aber die ikonische Differenz ja gerade zum Schreibimpuls für durchaus gelungene (!) Literaturen genommen haben. Angesichts der prägnanten Pointierungen, die Mersch insgesamt in Hinblick auf den Konnex von (Ent)Rahmung und Reflexion entfaltet, soll auf diesen problematischen Aspekt seiner Erläuterungen aber hier nicht weiter insistiert werden. Die Bedingungen der Bildlichkeit, so wird im Folgenden nachgewiesen, entziehen sich der Darstellung und dokumentieren sich im »Modus des Zeigens« (S. 64) und der »Kraft solcher Evidentmachung« (S. 65). Es sind letztlich die verschiedenen Chiffren der Bildlogik und deren »Ek-Stasis« (S. 67), die im Zentrum des Aufsatzes stehen und im »Chiasmus der Blicke« (S. 68) abschließend als Formen der ikonischen Alterität exponiert werden.

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Inka Mülder-Bach fragt in ihrem Aufsatz »Symbolon – Diabolon. Figuren des Dritten in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften und Musils Novelle Die Vollendeung der Liebe« nach dem »prekären Status des tertium« (S. 121) im Kontext von Herkunftsgeschichten. Es ist nicht der traditionelle Ratgeber, Bote oder Intrigant, der im Aufsatz interessiert, sondern »der parasitäre Dritte« (S. 123). Dessen Bedeutung wird wiederum nicht als Funktion eines »unverzichtbaren Katalysator narrativer und dramatischer Dynamiken« (S. 123) identifiziert. Vielmehr werden Figurationen des Dritten als »gespenstischer Operator« (S. 123) vorgestellt, dessen Anwesenheit sich in Effekten jenseits der personalen Repräsentation dokumentiert. In Goethes Wahlverwandtschaften wird zunächst der Stillstand bzw. die Blockade beschrieben, die allererst die Voraussetzung dafür sind, dass sich so etwas wie ein Drittes in den Text einschreiben kann. Absehend von den geläufigen Beschreibungen der Figur Mittlers wird dieser in der innovativen Sichtweise von Mülder-Bach als Figuration einer diabolischen Logik vorgeführt, deren Rede eine Semantik des Sündenfalls in Szene setzt, welche die symbolischen Ordnungen desorganisiert. Dabei geht es nicht um die Entzweiung eines vermeintlich harmonischen Paares, sondern entgegen der Vorgaben der Aufklärung werden die Vergeblichkeiten und Blindheiten einer vermeintlich freien Wahl sichtbar.

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Es sind die antike Ordnung des Symbols und die Schematisierung der Einbildungskraft, welche aufgesprengt werden. Dieses Szenario, das um 1800 sichtbar gemacht wird, wird nach 1900 in Musils Die Vollendung der Liebenden für neue Fragestellungen geöffnet. Das tertium realisiert sich nicht mehr in Widersprüchen, sondern in experimentellen Gleichungen. Dies hat zur Folge, so eine weitere Pointe des vorliegenden Aufsatzes, dass »die mathematische in die mythologische Metaphorik übergeht« (S. 133). Die platonische Kugelfigur der Entzweiung wird in Musils Text durch das »vereinigende Erzählen« (S. 135) »auf der Höhe der zeitgenössischen Mathematik« (S. 135) neu positioniert. Das Gespenst des Dritten initiiert auf dieser Folie eine narrative Logik sadomasochistischer Phantasien bzw. trinitarischer Kraftverhältnisse im Text.

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In »Figur und Figuration. Zu E.T.A. Hoffmanns Individualitätskonzept in der Novelle Prinzessin Brambilla« zeigt Gerhard Neumann, wie scheinbar endgültig ausgeloteten Paradigmen der Forschung – in diesem Fall der romantischen Individualität – auf dem Hintergrund der Figuration neue Valenzen abgewonnen werden können. Bewegungsfiguren und Sprachfiguren liest G. Neumann in Hoffmanns Erzählung als »Experimentanordnung« (S. 140) und bezieht auf diesem Weg nicht zuletzt auch die Bildvorgaben des Textes (Radierungen von Callot) mit ein. Pikturales und Skripturales werden in einer Figuration des Dritten, nämlich im Tanz, verschaltet. Dabei interessieren vor allem die unberechenbaren Figuren des Capriccio, des Schwindels oder des Wirbels, deren musikalische Letternchromatik imaginäre Doppelgestalten freisetzen. Es ist das »Glissando« (S. 152) der kulturellen Ordnungsmuster, welches vertraute Formmuster aufbricht und eine »Zirkulation erotischer Energie« (S. 158) freisetzt. Die »romantische „Liebesutopie« (S. 160), so wird überzeugend dargelegt, realisiert sich als »Inszenierung einer doppelten intermedialen Struktur« (S. 161), in der figurierende Strategien eine Schlüsselfunktion übernehmen.

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Auch Erika Greber eröffnet in »Figur und Figuration im Schachfigurengedicht« neue Perspektiven auf die Schachpoesie. Die mediensemiotischen Besonderheiten der Spezialgattung führen zu folgender Fragestellung: »Das figurierte Schachgedicht fordert nicht zuletzt dazu auf, die Begrifflichkeiten auf ihre Konzeptualisierung hin zu befragen. Was vormals synonym und austauschbar schien – Visuelle Poesie und Figurengedicht –, ist durch das Schachmotiv und die schachbedingte Konstruktion von Bild-Figur-Zahl nun komplexer zu denken.« (S. 238). Was dies genauer bedeutet, wird in den folgenden Analysen deutlich. Anhand einer beeindruckenden Palette von Texten unterschiedlicher Nationalität und Zeiträume wird ein komparatistisches Panorama der Schachfigurenlyrik präsentiert, dessen textuelle und visuelle Figurationen als intermediale Strategien der Simulation (digitalisierte Tabellenfiguren einerseits und analog-mimentische Schachbrettfiguren andererseits) identifiziert werden.

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Beschlossen wird die Runde gelungener Beiträge durch Achatz von Müllers schönen Aufsatz »Vom Text der Welt zum Daumenkino der Wirklichkeit. Buch, Bild und Maschine als Figurationen des Wissens in der Renaissance«. Ausgehend von Dantes monumentalen Schriften befragt von Müller die »deutende Aufladung des Blicks« (S. 337) in der heuristischen Weltwahrnehmung, insofern sich diese in der »Transformation zum Kunstwerk« (ebd.) dokumentiert. Über die bekannten philosophischen Auslegungen hinausgehend werden figurale Verweisfunktionen im Werk Dantes aufgezeigt, die zur Frage nach dem Status des Buches im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit führen: »Das gedruckte Buch agiert somit in gänzlich anderen Kommunikationszusammenhängen als das handschriftlich verfertigte.« (S. 341). Diese These wird im Folgenden in einer faszinierenden Reihe anschaulicher Beispiele verdeutlicht, wobei die ›Kunst des Büchermachens‹ (vor allem die Werkstätten des Aldus Manutius) im Vordergrund der Betrachtung steht. Die Verschaltung von Philologie und Marktwirtschaft wird als zentraler Nukleus des frühneuzeitlichen Buchmarktes nachgewiesen, wobei die Figur(ation) als zentrale Gestaltung an keiner Stelle des Aufsatzes aus dem Blick gerät.

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Ergebnis

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Der Sammelband »Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen« beinhaltet eine ganze Reihe von gelungenen und informativen Aufsätzen, die über das Rezensionspensum hinaus zu einer erneuten, wiederholten Lektüre einladen – ein Fazit, das für sich selbst sprechen dürfte.