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Die Sprach- und Literaturwissenschaft
im 20. Jahrhundert

Zwischen Resonanz und Eigensinn

  • Gerhard Kaiser / Matthias Krell (Hg.): Zwischen Resonanz und Eigensinn. Studien zur Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert. (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 7) Heidelberg: Synchron 2005. XX, 264 S. Broschiert. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-935025-70-6.
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Eigensinn, so Kaiser in seinem Aufsatz, versteht sich nicht als »Autonomie« oder als »das ›einsame‹ und ›freie‹ (akademische) Subjekt, das losgelöst von allen heteronomen Zwängen allein seinen rein wissenschaftlichen Impulsen folgt« (S. 4), sondern Eigensinn kennzeichnet die Abhängigkeit vom »wissenschaftliche[n] Feld« und damit von »internalistischen und externalistischen« (S. 4) Gegebenheiten. »Insofern schließt sich der Begriff des Eigensinns weitestgehend an Luhmanns systemtheoretische Überlegungen zu den historischen Ausdifferenzierungsprozessen an, als deren Ergebnis er das neuzeitliche System der Wissenschaft begreift.« (S. 4) Daneben gibt es jedoch noch eine weitere, »sowohl diachrone wie synchrone« Betrachtungsweise, wobei dieser Aspekt »die je spezifischen Denkstile der einzelnen Fächer zu unterschiedlichen Zeiten« betrifft, »d.h. ein implizites Set von Denk- und Sprachregelungen« umfasst, welches »den Raum des Kommunikablen innerhalb eines fachlichen Feldes strukturiert und dessen Missachtung innerfachlich sanktioniert werden kann.« (S. 7)

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Demgegenüber verweist »Resonanz [...] auf die Kontextualität von Wissenschaft« (S. 7). Entsprechende Phänomene »liegen [...] dann vor, wenn sich ein innerhalb des wissenschaftlichen Feldes produzierter Diskurs als anschlussfähig auch an außerhalb des Feldes zirkulierende Diskurse erweist oder erweisen soll« (S. 7). Dabei muss ein »Resonanzkalkül[ ]« einzelner »Wissenschaftsspieler« als »relativ konstante Bezugsgröße wissenschaftlicher Kommunikation« (S. 7) mitgedacht werden, allerdings auch als Bezug über »den wissenschaftlichen Bereich« (S. 7) hinaus »auf andere gesellschaftliche Felder« (S. 7).

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Um diese beiden Begriffe drehen sich die einzelnen Beiträge des Buches, das die Ergebnisse der Tagung »Zwischen Eigensinn und Resonanz: Germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert« festhält und beispielsweise die folgenden Fragen zu beantworten sucht:

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Wie reagieren zwei zentrale geisteswissenschaftliche Fächer – die Sprach- und die Literaturwissenschaft – auf die beiden deutschen Diktaturen und die Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland? Welche Anstrengungen unternehmen sie, um sich auf den Wandel der sozialen und politischen Systeme resonanzbewusst einzustellen, und vor allem, wie bauen sie ihre semantischen Bestände um? [...] In welche politischen und ökonomischen ›Umwelten‹ ist Wissenschaft jeweils eingebettet? [...] Wie beeinflusst das ›soziale Leben‹ der Wissenschaftler innerhalb der institutionellen Strukturen die wissenschaftliche Produktion? [...] Welche Bedeutung haben die [...] Aspekte der Popularisierung von Wissenschaft? [...] Wie wirkt sich breite öffentliche Resonanz auf die Etablierung, Zirkulation und Verteidigung wissenschaftlicher Arbeiten aus? (S. VII f.)
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Diese Fragestellungen werden an folgenden Beispielen abgearbeitet: Literaturwissenschaft in Westdeutschland nach 1945, Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus, Sprachwissenschaft in disziplinübergreifenden Resonanzkonstellationen und Sprachwissenschaft in der DDR.

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Nachdem Kaiser die beiden heuristischen Kategorien »Eigensinn und Resonanz« definiert hat (siehe oben), setzt er sich mit »der ›Rasse‹-Semantik zwischen 1933 und 1945« (S. 1) auseinander und zeigt, »dass auch nach 1933 rassenkundliche Ansätze innerhalb der Literaturwissenschaft mit nicht unerheblichen ›Denkstil-Inkompatibilitäten‹ konfrontiert waren und sich im mainstream [der] zulässigen Herangehensweisen kaum etablieren konnten«´. Den großen Bruch in Form einer These eines ›vertagten Nullpunktes‹ sieht er erst in der »Mitte der sechziger Jahre«, die zu einem »erlösende[n] Wandel« (S. XII) der deutschen Germanistik führt.

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Scherer und Sill setzen sich in ihren Beiträgen mit der Literaturwissenschaft in Westdeutschland nach 1945 (S. 31–67) auseinander. Während Scherer einen »Wechsel des ›Denkstils‹ und der Redewesen« ab der »Mitte der 50er« konstatiert, »der das disziplinäre Programm der Literaturwissenschaft« (S. 47) umbaut, sieht Sill den Grundstein in der »Reform der Deutschlehrerausbildung« und dem damit verbundenen, »längst überfällige[n] Eingeständnis, daß ein Studium der Literatur auch eine pragmatische Verwendungsdimension besitzt« (S. 64).

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Der zweite Abschnitt befasst sich mit »Geisteswissenschaft und Nationalsozialismus« (S. 69–123). In Zusammenhang mit der Frage nach »der Rolle der Geisteswissenschaften im ›Dritten Reich‹« untersucht Klausnitzer die »Frage nach der Bedeutung des politischen Feldes als potentieller Resonanzressource für die Wissenschaft« sowie »nach der Bedeutung und der Funktion, die die Berufung auf wissenschaftsgemäße Verfahrensweisen für politische Institutionen hat« (S. XIV), was sich beispielsweise in »der Definition und Aufklärung von ›weltanschaulichen Gegnern‹« spiegelt, etwa in Form einer entsprechenden »Darstellung und wissenschaftlichen Beschreibung«, die der Disziplin selbst »legitimatorische Bedeutung« verleiht und dem »Ideenhaushalt des Nationalsozialismus« ein entsprechendes Vokabular zur »Dezision von ›Freund‹ und ›Feind‹« (S. 80) liefert.

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Von Ledebur, die sich »mit der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft« auseinandersetzt, kommt auf das »Stichwort vom ›germanischen Geist‹« (S. 114) und damit auf den Aspekt der »Vergangenheitsbewältigung« der Anglistik zu sprechen. »Die ›Nostrifizierung‹ [...] Shakespeares«, die im 19. Jahrhundert begründet wurde, »stand nun unter den Vorzeichen der NS-Maximen [...]. Die politische Instrumentalisierung des Briten und der deutschen literarischen Gesellschaft in seinen Diensten wurde auf diesen Wegen perfektioniert« (S. 115), etwa wenn die »fatale Trias Shakespeare – Goethe – Hitler« mit einem »Lebensideal der germanischen Seele« verbunden wird, das in Shakespeare »den schönsten Ausdruck findet« (S. 120). Derartige »Affinitäten mit der NS-Ideologie lassen sich«, so von Ledebur, »auch im Fachdiskurs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft nachweisen« (S. 122).

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Im dritten Abschnitt wird »Sprachwissenschaft in disziplinübergreifenden Resonanzkonstellationen« (S. 125–183) vorgestellt. In »Besinnung auf das ›Wesen der Sprache‹: Sprachphilosophie in Deutschland 1900 bis 1930« setzt sich Tomus mit den »sprachphilosophische[n] Diskurse[n]« (S. XV) in besagtem Zeitraum auseinander. Sie skizziert die Entwicklung, die man »als Radikalisierungsgeschichte lesen [kann]«, vom »nüchternen, empirisch-psychologisch orientierten« (S. 144) Beginn bis zur »direkten politischen Implikation[ ]«, etwa wenn aus »philosophischen Überlegungen Richtlinien für konkretes politisches Handeln« abgeleitet werden, was sich nicht nur in einem »Recht auf die Muttersprache« oder in »Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten« spiegelt, sondern in Schmidt-Rohrs Arbeiten gipfelt, in denen es heißt, dass »das Entstehen und Vergehen der Völker unmittelbar an die Sprache« geknüpft werden: »Zunehmende Intellektualisierung, Sittenverfall und sogar Geburtenrückgang werden als Spracherscheinungen ausgewiesen und daraus normative Kriterien und Handlungsweisen abgeleitet, die zur ›Volksgesundung‹ führen sollen.« (S. 245)

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Holzer stellt in ihrer Arbeit »Fremde Angelegenheiten: Franz Boas und die Geschichte der amerikanischen Anthropologie« dessen Vita vor und führt aus, dass der »zu Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Krisendiskurs [...] den vorherrschenden Denkstil [...] in der US-amerikanischen Anthropologie [verändert]« (S. XVI). Die »Einbeziehung einer gesamtgesellschaftlichen fundamentalen Krise, die eine wirtschaftliche Krise zur Folge hat«, liefert Erkenntnisse »für die Interpretation einer wissenschaftlichen Disziplinenentwicklung« und schafft auf diese Weise die Voraussetzungen zur »Etablierung des Boas’schen kosmographischen Wissenschaftsverständnisses« (S. 164).

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»›Sie ist die Sprachwissenschaft, die nicht nur den Sprachforscher selbst interessiert‹. Umbauten und doppelte Lesarten in Texten der frühen angewandten Sprachwissenschaft in der BRD« lautet der Beitrag von Kuhlmann. Dabei diskutiert sie

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verschiedene Umbauphänomene und Diskursstrategien, die zu ambivalenten Texten führen, welche eine doppelte Funktion erfüllen: Während sie einerseits auch unter den veränderten politisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Nachkriegsdemokratie Resonanzfähigkeit garantieren sollen, »beispielsweise, indem man sich an neuen oder aktuellen Begrifflichkeiten orientiert,« erlauben sie andererseits eine unauffällige Fortführung älterer Redeweisen. (S. XVI f.)
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Dieser paradoxe Aspekt der »unauffällige[n] Fortführung älterer Redeweisen« spiegelt sich im sorgfältig gewählten Schlusssatz ihrer Arbeit: »Wiederum die Versicherung, dass Veränderungen eigentlich nicht stattgefunden haben?« (S. 182)

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Der vierte und letzte Abschnitt ist der »Sprachwissenschaft in der DDR« (S. 185–255) gewidmet. In »Akademien als Zentren von Forschung. Die deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946–1972« skizziert Nötzoldt die Geschichte der genannten Institution:

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Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stehen zum Einen das von der Konkurrenz um Ressourcen geprägte Verhältnis zwischen den einzelnen Natur-, Technik- und Gesellschaftswissenschaften innerhalb der Akademie, zum Anderen die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den außeruniversitären, staatlich geförderten Wissenschaftsinstitutionen und den politischen Steuerungselementen in der DDR. (S. XVII)
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Hagedorn stellt in »›Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft‹ – Schlüsseldiskurs und Resonanzfeld« fest, dass entsprechende ZK-Tagungen in der DDR primär nicht »genuin fachwissenschaftlich[ ]«sind: »Vielmehr nutzen die Tagungsteilnehmer ihre Diskussionsbeiträge als wissenschaftstheoretische Foren, die ihnen die Möglichkeit zu politisch-ideologischen Standortbekenntnissen geben.« (S. 236)

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Die in diesem Tagungszusammenhang vorgetragenen Analysen zu Stalins Texten verdeutlichen, »dass dieser Text vor allem ideologisch rezipiert wird« (S. XVIII), indem er als »ein Meisterwerk des schöpferischen Marxismus« gelesen wird, welches »eine neue, höhere Etappe in der Entwicklung der Wissenschaft«(S. 236) begründet. »Thematisch relevanter sind offenbar auch für die übrigen Konferenzteilnehmer die Momente ideologischer Anknüpfungsmöglichkeiten und die Resonanzfelder, die als persönliche und fachliche Absicherung empfunden und benutzt werden können.« (S. 236)

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Im letzten Tagungsbeitrag »Resonanzsemantische Wandlungen des ›Grammatik‹-Begriffs. Zum Grammatik-Verständnis der funktonalen Schule in der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren« beschäftigt sich Krell mit den Arbeiten Wilhelm Schmidts: »Wenn man es polemisch formulieren möchte, könnte man sagen, das Funktionale an der funktionalen Grammatik war vor allem, dass der Begriff der Funktion in unterschiedlichsten semantischen Bezügen auf Grund seiner großen Resonanzfähigkeit funktionierte« (S. 243), weil er »völlig unterdeterminiert« (S. 243) war.

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Mit Bezug auf die jeweiligen semantischen Zuschreibungen weist Krell nach, wie der Grammatik Begriff sich deutlich ernüchtert. Aus dem Hochwertbegriff ›Grammatik‹, als der Repräsentationsform des nationalen Erbes, wird schließlich ein Begriff für einen – wenn auch hart umkämpften – Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft. (S. XVIII)
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Den Band schließt ein sorgfältiges und sehr nützliches Namensregister ab (S. 257–261), dem – etwas unglücklich platziert – noch ein englischsprachiges Summary (S. 263) folgt.

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Fazit

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Die prinzipielle Frage nach der Abhängigkeit der Geisteswissenschaften von außerwissenschaftlichen Bedingungen hat weder an wissenschaftsgeschichtlicher Brisanz noch an medialer Präsenz verloren. Die kontroversen wissenschaftlichen und feuilletonistischen Debatten der jüngeren Vergangenheit über die Rolle der geisteswissenschaftlichen Fächer in den beiden deutschen Diktaturen legen indes den Verdacht nahe, dass voreilige Generalisierungen den vielfältigen Verknüpfungen von wissenschaftlicher Eigenlogik mit außer- und überfachlichen Logiken nicht gerecht werden können. (S. I)
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Diese den Tagungsband einleitenden Worte bilden den Grundgedanken der hier besprochenen »Studien zur Geschichte der Sprach- und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert«, wobei der entsprechenden Frage nach »Resonanz und Eigensinn« besagter Disziplinen auf unterschiedliche Art und Weise nachgegangen wird, sodass interessante Erkenntnisse zur zeitlichen und geographisch-politischen Entwicklung der Sprach- und Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert vermittelt werden.

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Anknüpfungsmöglichkeiten der Wissenschaft an den jeweiligen (ideologischen) Zeitgeist oder an wirtschaftliche Gegebenheiten werden genauso berücksichtigt wie Versuche, sich vom aktuellen Zeitgeist zu distanzieren und in Form eines (auch individuellen) Eigen-Sinns die wissenschaftliche Basis nicht aufzugeben.

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Alles in allem kann dieser Band jedem empfohlen werden, der sich mit dem – im Sinne Bourdieus – wissenschaftlichen Feld der Sprach- und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts in differenzierterer Form – eben über die Begrifflichkeiten Resonanz und Eigensinn – auseinandersetzen möchte.