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Rekonstruktion eines literarischen Feldes
mit Bourdieu

Zur Synthese von Ästhetik und Soziologie

  • Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 101) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VII, 177 S. Kartoniert. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 3-484-35101-2.
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Einleitung

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Vorzustellen ist eine ambitionierte Studie, die nicht nur in zentrale Positionen der aktuellen kulturwissenschaftlichen Theoriebildung und deren Genese einführt, sondern diese auch in Form einer Fallstudie anwendet, überprüft und dabei eine Fülle literaturgeschichtlich relevanter Informationen berücksichtigt und wieder entdeckt.

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Die Verfasserin verfolgt eine zugleich literaturgeschichtliche und methodische Zielsetzung; sie stellt den Prozess der Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871 als Generator eines literatursoziologischen Ansatzes dar. Dieses Erkenntnisinteresse stützt Magerski auf die Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu und versucht außerdem, diese Theorie weiter zu entwickeln und ihr eine neue Ausrichtung zu geben. Als überprüfungs- und korrekturbedürftig erscheint der Verfasserin Bourdieus grundlegende Ausgangsthese eines Gegensatzes zwischen »formalen oder formalistischen und marxistisch-reduktionistischen Deutungsprinzipien« (S. 3). 1 In der mit der zunehmenden Differenzierung des Feldes verbundenen Reflexivitätssteigerung erkennt Magerski eine Möglichkeit, die einander gegenübergestellten Seiten als Ausprägungen eines einheitlichen Prozesses zu sehen. Insofern scheint sie Bourdieu vor sich selbst retten zu wollen. Mit dessen Theorie gewinnen zwei Begriffe zentrale Bedeutung: der der Position, womit Diagnose- und Richtungsmarkierungen wie Naturalismus, Symbolismus, Dada und so weiter gemeint sind; zum andern der Begriff der Positionierung, womit sämtliche Verlautbarungsformen der Autoren wie zum Beispiel Drama, Lyrik und Roman mit ihren Untergruppen bezeichnet werden.

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So kann die Verfasserin für ihren Untersuchungszeitraum von 1871 bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts eine ununterbrochene und in ihrer Häufigkeit kontinuierlich zunehmende Produktion von Selbstauslegungen, programmatischen Entwürfen, Gegenkonzeptionen und Gruppenbildungen der am Prozess der literarischen Kommunikation Beteiligten feststellen; dabei geht es nicht nur um die Selbstpräsentation von Autoren und die Gründung von Autorengruppen, sondern auch um programmatisch entsprechend ausgerichtete Zeitschriften und Theater, um Kritiker und Verlage, Feuilletonisten und Wissenschaftler.

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Weil jedes Selbstauslegungsangebot und jede Gruppenbildung nur dann eine Chance haben, öffentlich Aufmerksamkeit zu erregen und wahrgenommen zu werden, wenn sie der eigenen Position möglichst deutlich Relief verleihen, führt diese Notwendigkeit der Selbstinszenierung auch zur Abgrenzung von anderen schon bestehenden Positionsmarkierungen. Letztlich macht sich eine Positionsdefinition besonders durch das sichtbar und funktional, was sie nicht einschließt. Denn gerade aus dem Bereich der ausgeschlossenen Referenzbestände können neue Positionsmarkierungen geformt werden, die sich an die bestehenden anschließen, indem sie sie differenzieren.

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Soziokulturell fundiert ist der von der Verfasserin analysierte Prozess der immer weiter gehenden Differenzierung und Aufspaltung im Reflexivwerden von Tradition und Kultur, was den sozialen und politischen Kontext, das Feld der Macht, mit einschließt. Reflexivwerden heißt, dass Möglichkeiten und Alternativen, Rekursivität und Kulturtransfer an die Stelle linearer Überlieferung treten. Altwerden und Neuanfang gehören zu den Indikatoren und Faktoren der kulturellen Entwicklung. Daraus entsteht gleichsam von innen eine Methode der Diagnose, Beschreibung und Analyse, eine literatursoziologische Perspektive teilnehmender Beobachtung. Besondere Bedeutung als Repräsentanten gewinnen Samuel Lublinski und Georg Lukács, die als Wissenschaftler sich zugleich wertend zugunsten einer bestimmten Position (Neuklassik) ins literarische Feld einbringen und die beide – wie nach ihnen Bourdieu – eine Synthese von Ästhetik und Soziologie anstreben. Weil Lukács’ Ausführungen auf den zwischen Sozialem und Ästhetischem vermittelnden Begriff der Form zentriert seien, ist – so die Verfasserin – Bourdieus Vorstellung der Position Lukács’ als direkte Entgegensetzung zur »immanenten Literaturbetrachtung« (S. 4) zu korrigieren. Dagegen sieht sie in der »Schaffung von Eigenwerten« (S. 5) eine Kategorie, die für Bourdieus und Lukács’ Auffassung vom Verhältnis von Literatur und sozialem Kontext gleichermaßen gilt. Die Verfasserin selbst benutzt die Feldkategorie zur Bezeichnung der »Wechselwirkung« (S. 6) zwischen der Theorie des literarischen Feldes und dessen Emergenz, das heißt die Feldtheorie ist sowohl Gegenstand als auch Methode der Untersuchung.

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Im ersten Kapitel stellt die Verfasserin Bourdieus Theorie des literarischen Feldes und deren Anwendung auf die Situation in Frankreich im 19. Jahrhundert vor. Daran schließt sich die Darstellung der Entstehung des literarischen Feldes in Deutschland um die Jahrhundertwende an. Das abschließende dritte Kapitel ist den daraus sich ergebenden Anfängen der Literatursoziologie in Deutschland gewidmet.

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Bourdieus Theorie
des literarischen Feldes

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Als Bezugspunkt für Bourdieus Feldtheorie macht Magerski das »Denken in Relationen« (Ernst Cassirer) aus. Konkret geht es um das Basisverhältnis von Kunst und Gesellschaft, das sich in einer Reihe von komplementären Gegenüberstellungen entfaltet wie zum Beispiel »interner (formaler / struktureller) und externer (historischer / soziologischer) Analyse« oder »Orthodoxie und Häresie«, Ordnung und Avantgarde. Um die Bezüglichkeit dieser Pole theoretisch zu fassen, bildet Bourdieu den Begriff des »kulturellen Kräftefelds« (S. 9), der das Relationsgefüge bezeichnet, in dem sich die Wirksamkeit der partikularen Bestimmungen entfaltet.

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Ausführlich und kritisch stellt Magerski Bourdieus Ausführungen zum »kulturellen Kräftefeld« in Frankreich im 19. Jahrhundert dar, das durch die gescheiterte Revolution von 1848 und die dadurch bedingte Distanzierung von der sozialen Frage gekennzeichnet ist. Als Gegenbewegung tritt die »l’art pour l’art«-Richtung hervor, deren Vertreter der jungen Generation angehören und eigene ästhetische Normen unter dem Begriff der ›Bohème‹ entwickeln. Bourdieu unterscheidet die erste Bohème der 1830er Jahre mit der Zentralfigur des bürgerlichen Dandy von der zweiten Bohème der 1850er Jahre, in deren Mittelpunkt der »proletaroide« Typus steht, der sich sowohl gegen bürgerliche als auch proletarische Konkurrenten absetzt. Damit sind ein bürgerliches und ein antibürgerliches Feldsegment grundgelegt. Die proletaroide Bohème bricht unter dem Signum »Erfindung der Lebenskunst« (S. 12) mit der Alltagswelt und schafft sich im Salon eine eigene Form vielfältig zu füllender Vergemeinschaftung. Im Salon kann ein je besonderer Lebensstil entworfen und erprobt werden, der dann wiederum literarisch gestaltet wird, man lebt, um Stoff für die Literatur zu haben.

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Charles Baudelaire, der sich als Prototyp der zweiten Bohème allen überkommenen und kulturell normsetzenden Institutionen verweigert, schafft durch diese Praxis des Bindungsverzichts ein Muster, das seinerseits die Funktion einer neuen Ordnungsform erhält. Denn wenn sich die reine Kunst auch von Religion, Politik, Moral, Macht usw. lossagt, so bleibt sie doch gerade durch diese bestimmten Negationen an diese Felder und ihre Institutionen gebunden, das heißt reine Kunst macht sich einen Namen als Position, die durch explizit negative Bindungen definiert ist. Es ist scheinbar eine Programmatik des De-Konstruktiven, der aber jede Form von Relation zugeschrieben werden kann, das heißt die reine Kunst lässt Anschlusshandlungen im feldinternen und -externen Bereich zu. Damit eröffnet sich ein beinahe unendlicher »Raum des Möglichen«, der durch die »Logik der Mode« (S. 19) und den impliziten Drang zur Unterscheidung immer wieder neu ausgefüllt wird. Außerdem ist auch die reine Kunst nicht so radikal, dass sie auf die Feldinstitutionen (kleine Verlage, Zeitschriften, Theater usw.) gänzlich verzichten könnte. Hier wird gleichsam aus der Not eine Tugend gemacht, indem die Veröffentlichung in kleinen Verlagen und die daraus folgende ›elitäre‹ Beschränkung auf den eigenen Kreis als Publikum zum positionsspezifischen Qualitätsmerkmal wird, das symbolisches Kapital schafft.

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Weil besonders die Lyrik Distanzierung ermöglicht, steht sie feldintern an der Spitze der Geltungshierarchie, gefolgt vom Roman und vom Theater, während sich unter ökonomischem Aspekt das umgekehrte Bild ergibt: Theater an erster Stelle, gefolgt von Roman und Lyrik. Symbolisches und ökonomisches Kapital weisen in verschiedene Richtungen. Magerski referiert exemplarisch Bourdieus Unterscheidung von bürgerlichem (Geld) und avantgardistischem Theater (Kunst, S. 21 f.).

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Selbstverständlich bleibt die reine Kunst keine geschlossene Erscheinung, sondern spaltet sich in unterschiedliche Positionen wie Parnassiens, Décadents und Symbolismus mit weiteren Subgruppen auf, die sich häufig um eine charismatische Autorpersönlichkeit bilden. Auch das Qualitätsmerkmal des kleinen Verlags generiert ökonomisches Kapital, weil es den Autoren dieses Habitus die Konsekration durch die Kritik, die Ehrungen durch Akademien und die Aufnahme in etablierte Organisationen verschafft, was wiederum Zugang zu finanziell lukrativen Foren eröffnet. So stützen sich Positionen und Positionierungen sowie der »Markt der symbolischen Güter« wechselseitig.

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Damit ist – wie Magerski überzeugend zeigt – die Konstellation geschaffen, die die Entstehung eines literarischen Feldes zulässt. Es sind divergierende Positionen ausgebildet, die Bezug auf den feldexternen Bereich, zumeist das Feld der Macht, haben und sich durch ihre Positionierungen um die Dominanz im Feld bemühen, so dass nur von einer transitorischen Dominanz die Rede sein kann. ›Feld‹ bezeichnet den permanenten Prozess der Auseinandersetzung um die Vorherrschaft zwischen Orthodoxie und Häresien, wobei jede Orthodoxie nur ›ihre‹ Häresien hervorbringt. Das Neue ist jeweils relational zum Bestehenden. Jede neu auftretende Position verändert die Architektonik des gesamten Feldes und bringt in der Regel auch die Wertschätzung einer bisher vernachlässigten Form mit.

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Entstehung des literarisches Feldes
in Deutschland

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Im zweiten Kapitel wendet Magerski Bourdieus Theorie des literarischen Feldes auf die Verhältnisse in Deutschland nach 1871 an. Sie zeigt die Entstehung des Feldes zentriert auf den Dreischritt von Vorbereitung, Sieg und Niedergang des Naturalismus als dominierende literarische Position im Wilhelminismus. Als geographisches Zentrum des entstehenden Feldes gilt Berlin, wohin zahlreiche junge, noch erfolglose Autoren kommen, um hier von den erwarteten Veröffentlichungsmöglichkeiten zu profitieren und sich einen Namen zu machen. Zunächst bleiben – wie in Frankreich – Produktion und Rezeption im Kreis der Erneuerer, das heißt die Produzenten treten zugleich als Konsumenten auf, Angebot und Nachfrage sind innerhalb eines weitgehend geschlossenen Kreises (kleine Verlage, kleine Auflagen, wenige, oft persönlich bekannte Rezipienten) angesiedelt.

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Als paradigmatisch für die Vorbereitungsphase werden programmatische Schriften der Brüder Hart (Kritische Waffengänge) und Karl Bleibtreus (Revolution der Literatur) behandelt. Die Erneuerung, für die sich die Harts mit den Waffengängen ein eigenes Organ geschaffen haben, richtet sich auf die Durchsetzung einer neuen Geltung und Anerkennung der Kunst und Literatur im Rahmen der »Wiedergeburt der Nation« (S. 49). Gefordert werden daher staatliche Subventionen für Kunsteinrichtungen, zum Beispiel für Akademien, die Gründung von Zeitschriften und die wissenschaftliche Begleitung und Aufarbeitung literarischer Entwicklungen sowie Stipendien für Künstler und Schriftsteller (»Brief an den Fürsten Bismarck«, 1882). Diese Forderungen, die letztlich auf die Etablierung einer staatlich gesicherten Nationaldichtung mit dem entsprechenden Kanon zielen, heben die bestehenden Relationen zwischen erfolgreichen Autoren und Staat einerseits sowie Autoren und Publikum andererseits auf.

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Nicht zuletzt weil die Forderungen nicht erfüllt werden, wenden sich die Harts und ihr Kreis, wie Magerski zeigt, vom Begriff der Nationaldichtung ab und dem der Nationalliteratur zu. Inkonsistent wird die Position der Harts, weil sie sich mit der Nationalliteratur zwar für die neue Form des Romans und dessen Autoren öffnen, zugleich aber mit der Nationalliteratur sich gegen die mit dieser Modernisierung verbundenen Internationalisierungstendenzen sperren, weil sie nach wie vor die Werke eines Dichters für höherwertig als die eines Schriftstellers halten, weil die Idealisierung (symbolisches Kapital) für sie mehr zählt als der finanzielle Erfolg (ökonomisches Kapital).

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Dass die von den Harts angebotene Programmatik als tragfähige Basis nicht taugt, zeigt sich an der zunehmenden Ausdifferenzierung des Feldes, die wiederum in der Gründung zahlreicher Zeitschriften, literarischer Kreise und programmatisch ausgerichteter Theater sichtbar wird. Magerski informiert umfassend über diese literaturgeschichtlichen Ereignisse, die das Bild einer unablässigen Bewegung im Feld ergeben, deren Details heute weitgehend vergessen sind.

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Karl Bleibtreu fordert in seiner Schrift Revolution der Literatur (1886) eine Orientierung an der Gegenwärtigkeit, eine Berücksichtigung der Aktualitäten und des Zeitgeistes, was vor allem vom Roman geleistet werden könne. Wenn junge Autoren, die sich an dieses Rezept halten, dennoch keinen Erfolg haben, so ist das für Bleibtreu Zeichen eines noch unentschiedenen Kampfes »zwischen Materialismus und Idealismus« (S. 57).

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Die naturalistischen Dramen Vor Sonnenaufgang (1889) von Gerhart Hauptmann und Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf, deren Aufführungen einen Skandal hervorrufen, markieren den Beginn der Auseinandersetzung zwischen der offiziösen Kunst, den Formen ihrer Repräsentation und Vermittlung auf der einen Seite sowie den avantgardistischen Bewegungen als Reaktionen auf Veränderungen im soziopolitischen Feld auf der anderen Seite in den 1890er Jahren. Die naturalistischen Dramen verbinden mit der Erneuerung der Form die Reflexion ihrer Notwendigkeit und Möglichkeiten ihrer Wirkung als Medien einer gesellschaftlichen Erneuerung. Programmatisch geht es um jene ästhetische Gestaltungen der sozialen Frage, die mit dem Anspruch auftreten, als Lösungsangebote zu wirken. Wenn auf diese Weise die Einheit des Sozialen und des Ästhetischen oder von Soziologie und Ästhetik tendenziell vorbereitet wird, so wird damit auch ein Grundzug des literarischen Feldes bestätigt, nämlich dessen Orientierung an Entwicklungen im Feld der Macht. Im vorliegenden Fall sind es die Entstehung des Proletariats und die politischen Reaktionen darauf, die literarisch gestaltet werden.

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Für die Institution des Theaters ist damit nicht nur die Polarität von bürgerlichem und naturalistischem Theater oder vom Theater der Orthodoxie und dem der Häresie etabliert, sondern auch eine immer weitere Aufspaltung eröffnet. Jede Dekonstruktion ist stets eine Konstruktion, die sich durch Abgrenzung definiert, was »Räume des Möglichen« schafft, so dass eine permanente Dynamik eintritt. Gegen den Naturalismus als Formprinzip bringen sich avantgardistische Positionen wie Symbolismus, Dekadenz, Neuromantik, Jugendstil, schließlich Expressionismus, Dadaismus und andere zur Geltung. Je mehr Positionen definiert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es für neue Positionen, sich zwischen den bestehenden einzurichten. Hinzu kommen neue Verlage, Zeitschriften und Theater. »Der spezifische Wert der Form wird dabei um so höher veranschlagt, je stärker die jeweilige Positionierung mit der Außenwelt bricht« (S. 89).

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Programmatische Auseinandersetzungen zwischen gleichzeitigen avantgardistischen Richtungen, deren Halbwertzeit immer kürzer wird, und offiziösen Positionen generieren neue Formen von Gegenwärtigkeit. Manifeste als Gründungstexte literarischer Gruppen gewinnen an Bedeutung, das literarische Feld erweist sich als System unendlicher Beziehungskämpfe um die Möglichkeit, soziale Frage und Kulturkrise durch immer neue Angebote von Sinnformungen zu lösen. Es liegt daher nahe, dem Künstler, Dichter, Schriftsteller wieder die Rolle des Heilsbringers und Erlösers zuzuschreiben und an die Stelle der Religion die Kunstreligion zu setzen. In diesem Zusammenhang der Dominanz des symbolischen vor dem ökonomischen Wert berücksichtigt Magerski auch Stefan George und seinen Kreis: Tendenziell können feldexterne Beziehungen aufgekündigt werden, weil die produktive Polarität im Feld sich selbst genügt, so dass mit George von einer »kunst für die kunst« zu sprechen ist. Ist diese Art der Autonomie erreicht, können avantgardistische in konservative Positionen umschlagen.

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Je mehr die programmatisch fundierte Ausdifferenzierung, Subjektivierung und Fragmentierung des literarischen Feldes sichtbar werden, je weiter der Modernisierungs- und Reflexivitätsprozess voranschreiten, desto notwendiger erscheint der Versuch, die oder eine Einheit des Feldes theoretisch fundiert nachzuweisen. So widmet Magerski das dritte Kapitel ihrer Untersuchung literatursoziologischen Ansätzen, die sich um jene Einheit bemühen.

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Literatursoziologische
Ansätze

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Zunächst stellt sie – immer mit Verweis auf Bourdieu – Samuel Lublinskis Litteratur und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (1900) vor, in welcher er zwischen den Positionen Klassik, Romantik, Junges Deutschland, Realismus, Symbolismus, Neuromantik als Ausprägungen und Faktoren bestimmter Interessenkonstellationen differenziert. Als Bewegungsgenerator macht er die Notwendigkeit aus, dass Autoren sich von anderen unterscheiden und entsprechend andere Publikumskreise erschließen beziehungsweise formen müssen. So bedienen die einen Anforderungen des Alltags, andere setzen sich bewusst davon ab. Die Perspektive einer Einheit ist aus der Bezüglichkeit von soziopolitischen Phänomenen und ihrer ästhetischen Gestaltung zu gewinnen, die allerdings unterschiedliche Formen haben kann. Auf jeden Fall scheint durch die Vielfalt der gleichzeitig neben- und gegeneinander produktiven Positionen das Projekt einer durch die Literaturgeschichte vermittelten einheitlichen Nationalliteratur beziehungsweise -kultur nicht mehr möglich zu sein. Diese Situation und ihre Folgen reflektiert Lublinski in Bilanz der Moderne (1904), wie Magerski zeigt. Mit Hilfe der Opposition von »Kultur und Zivilisation« (S. 109) und ihren jeweiligen Konnotationen versucht er ein Ordnungssystem zu begründen, dessen Rahmen – so Magerski – auf die Reaktualisierung historischer Konzepte wie die des Übermenschen oder des Genies und deren Gegenpositionen aufmerksam machen kann. Angesichts der Polarität von Naturalismus und Neu-Romantik mit ihren dominierenden Formen Drama und Lyrik gelingt es dem Roman als offener Form, die das Zwischen ausfüllt und auf Veränderungen reagiert, in den Vordergrund zu treten und damit – Bourdieus Analysen entsprechend – die Architektur des gesamten Feldes zu verändern.

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Der Modernisierungsprozess hat den Bruch der literarischen Moderne mit dem Publikum zur Folge, avantgardistisches und bürgerliches Theater, Fraktionskämpfe und Sezessionen sowie scheinbare Einheit stehen sich gegenüber. In seiner dritten Schrift Ausgang der Moderne (1909) plädiert Lublinski – so Magerski – von einer Position der Neu-Klassik aus, dass moderne Politik Kulturpolitik sein müsse (S. 118), um so durch feldexterne Vorgaben Stabilität im Feld zu erreichen. Das nationale Fundament der Politik soll durch ein kulturelles ersetzt werden, womit der Hybridität der Kultur avant la lettre Rechnung getragen wird. Es sei prioritär Aufgabe der Kunst, Einheit und Übersichtlichkeit herzustellen.

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Als weiteren literatursoziologischen Ansatz präsentiert Magerski Georg Lukács’ Artikel Zur Theorie der Literaturgeschichte (1910), in welchem er eine »synthetische Methode« aus Soziologie und Ästhetik mit dem Begriff der Form als Zentrum entwirft. Zwischen diesem Ansatz und Bourdieus Feldtheorie sieht Magerski weitgehende Funktionsähnlichkeiten. So wie Bourdieu von Relationen zwischen den Feldpositionen ausgeht, sind für Lukács kulturelle Formen Ergebnisse von soziokulturellen Relationen; es sind, was deutlicher hätte ausgeführt werden können, Vermittlungen zwischen Innen und Außen, die wie der Begriff des Rahmens im Sinne von Irving Goffman jeweils eine bestimmte »Organisation von Erfahrungen« ermöglichen. Dadurch dass Formen auf diese Weise ein bestimmter Erfahrungsschatz zugeordnet wird, haben sie auch eine historische Speicherfunktion. Es sind die Formen beziehungsweise Gattungen, die bestimmen, welche Gegenstände wie, das heißt in welchem Stil gestaltet werden, was zugleich deren Wirkung determiniert.

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Auch Lukács kommt zum Ergebnis, dass der Formen- und Stilpluralismus die Aufspaltung des Publikums befördere. So finde das große Publikum kaum Zugang zum Neuen, während dessen Produzenten die kulturelle Orientierung des großen Publikums für veraltet halten. Damit bestätigt sich wieder die Wertantinomie des Experimentellen, wozu das Individuelle, Komplexe und Hermetische gehören, und des Kommerziellen. Das Neue – so auch Bourdieu – kann sich nur durchsetzen, wenn es das Alte verdrängt, dafür muss es in einer Beziehung zu diesem stehen, das heißt nicht jede Ordnung hat die gleichen Koordinaten für das Neue. Das Neue ist stets relational zu einem Bestehenden (S. 137). Wegen der Pluralität der Positionen in der Moderne erscheint zum Beispiel die Form der Tragödie kaum mehr möglich, weil der tragische Dualismus durch die immer möglichen Alternativen überwindbar ist. Passt sich das Drama der erfolgreichen Form des Romans an, wird es zum Buchdrama; eine andere Form als das klassische Handlungsdrama ist der weite Bereich des Lehr- oder Reflexionsstücks.

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Die fundamentale Bedeutung des Naturalismus liegt in seinem Angriff auf die bestehende kulturell-literarische Ordnung; nur weil diese aber schon durch Veränderungen im Feld der Macht nicht mehr von einer Mehrheit der Konsumenten getragen wurde, konnte der Naturalismus sich durchsetzen. Das gleiche Schicksal betrifft ihn, als neue Positionen wie Neu-Romantik und Symbolismus, die Entwicklungen im wissenschaftlichen (Psychologie) und politischen Feld aufnehmen, sich gegen ihn profilieren können. Allgemein gilt, dass der Erfolg einer Bewegung stets eine Funktion der Krise der Bezugsordnung ist.

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Fazit

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Die streng textbezogene Verfahrensweise der Verfasserin erweist sich sowohl als Vorteil wie auch als Nachteil der Untersuchung. Denn vollkommen unberücksichtigt bleibt das breite Spektrum literaturbezogener beziehungsweise -fundierter ritueller Handlungen wie Skandale, Lesungen, Literaturpreisverleihungen, Gründungsakte von Autorenkreisen, Aufnahme in Akademien, Dichterehrungen, Jubiläen und Gedenkrituale usw. So sind es gerade jene Handlungen der »Konsekration« (Bourdieu) im weitesten Sinne, die öffentlichkeitswirksam als Medienereignisse inszeniert, Positionen und Positionierungen in Szene setzen, unterschiedliche Ausrichtungen der Autoren sichtbar machen, symbolisches Kapital generieren und transferieren und Institutionen Gelegenheit geben, sich einen Namen zu machen, indem sie anderen, nämlich Autoren, einen Namen machen. Auch die ›Konkurrenz‹ zwischen einem Autor und seinem Text hätte berücksichtigt werden müssen, wie sie bei den erwähnten rituellen Handlungen dadurch vorliegt, dass hier stets der körperlich anwesende Autor im Mittelpunkt steht und so die Dezentrierung seines Textes bewirkt. Erst indem das Performative von Positionsmarkierungen in die Betrachtung einbezogen wird, zeigt sich die theoretisch-methodische Fruchtbarkeit des Bourdieuschen Ansatzes, dass nämlich Literaturgeschichte nicht nur von textgebundenen Positionen und Positionierungen, sondern grundsätzlich von jedem zum Feld gehörenden Ereignis aus geschrieben werden kann, wobei neben Texten auch Akteure, beteiligte Institutionen, Anlass, Kontext, Wirkung usw. zu berücksichtigen sind.

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Magerskis Darstellung eröffnet auf der Basis von Bourdieus Theorie des literarischen Feldes eine Perspektive auf die Literaturgeschichte nach 1871 als Entstehungsprozess des literarischen Feldes in Deutschland, wie er sich in der Präsentation programmatischer Positionen und Positionierungen manifestiert. Die Verfasserin erschließt – immer in explizitem Bezug auf die Theorie Bourdieus – eine Fülle vergessener Texte, Autoren und Zeitschriften und informiert über die je programmatische Ausrichtung von Theatergründungen. Die Opposition zwischen Ordnung und Bewegung sowie die dabei erfolgende unaufhaltsame Aufspaltung in konkurrierende Positionen, Kreise und Gruppen bildet das Wirkungsprinzip des Feldes, wobei das große Publikum an den programmatischen Auseinandersetzungen kaum Anteil hat.

 
 

Anmerkungen

Die Seitenangaben beziehen sich auf die vorgestellte Untersuchung.   zurück