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Europäische Kulturgeschichte

Gutes und gut Gemeintes

  • Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. München: Wilhelm Fink 2005. 478 S. 16 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-7705-4060-0.
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Zur aktuellen Konjunktur europäischer Kulturgeschichte

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Nicht zuletzt durch die in den Erklärungen von Bologna (1999) und Berlin (2003) anvisierten Maßnahmen zur ›Europäisierung‹ des europäischen Hochschulraums, vor allem aber durch die weltpolitische Lage und die politischen Perspektiven der Europäischen Union, zumal im Blick auf ihre weitere Ausdehnung und auch auf die möglichen Grenzen dieser Ausdehnung, hat das Thema Europa allenthalben Konjunktur. Freilich sind auch die Verwerfungen im Prozess der europäischen Einigung nicht zu übersehen. Das Debakel der Diskussion um die europäische Verfassung: Da, wo die Bevölkerung nicht über sie abstimmen durfte, fand sie Zustimmung. Da, wo die Bevölkerung selbst gefragt war, wurde sie, wie in Frankreich und den Niederlanden, zwei ›kerneuropäischen‹ Ländern, abgelehnt, vereinigte nationalistische und anarchische Impulse, platte Dummheit und reflektierte Systemkritik zu einer ebenso komplexen wie fragwürdigen Herausforderung für das europäische Selbstverständnis.

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Da schon im Kenntnisstand, im Verständnis und im Interesse an den Nachbarn ein Mangel besteht 1 und da gemeinsame Projekte nicht die Ebene erreichen, auf denen bürgergesellschaftliches Engagement und individuelle Perspektiven sich in Richtung entwicklungsfähiger Kooperation und Kommunikation entwickeln können bzw. wollen, bleibt offensichtlich immer wieder nur der Rückgriff auf die ›große Tradition‹ einer gemeinsamen Kultur. Ein Rückgriff auf die Beschwörung eines europäischen Abendlandes, wie es im Schatten weitaus schrecklicherer Katastrophen schon einmal nach 1945 in Europa Konjunktur hatte und nunmehr – insbesondere durch die Herausforderungen des ›Ostens‹ – erneut in Anspruch genommen werden kann. Gerade in diesem Zusammenhang wird die Aufmerksamkeit für die Gesamtheit einer Kulturgeschichte Europas noch einmal dadurch gesteigert, dass sich – auch durchaus symptomatisch – dieses Interesse am Selbstverständnis wieder einmal aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung ergibt. Um die Frage, wo Europa endet, beantworten zu können, müsste man wissen, was Europa ist.

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In dieser Hinsicht haben auch kulturhistorische Rückversicherungen und Einführungen ihre aktuellen Vorläufe und Resonanzräume, wie die entsprechenden Anmerkungen in Silvio Viettas Europäischer Kulturgeschichte (S. 9 ff., S. 411 f.) belegen. Unter deren Erwartungsdruck gewinnt dann freilich das Bedürfnis nach Homogenität, Überschaubarkeit und klaren Entwicklungslinien gegenüber der Vielgestaltigkeit, Widersprüchlichkeit und auch Nicht-Übereinstimmung der Verhältnisse, Prozesse, Einsichten und Ordnungsmöglichkeiten bald schon die Oberhand.

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Zur Anlage der vorliegenden Studie

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Sicherlich spielt für die Anlage und Ausführung des vorliegenden Buches auch seine Herkunft aus einer Einführungsvorlesung eine wichtige Rolle, wobei es, so hat dies bereits Jochen Hörisch in der Neuen Zürcher Zeitung angemerkt, wohl ein ziemlich langes Semester gewesen sein muss. Immerhin ist daraus eine Studie von knapp 500 Seiten erwachsen. Hervorzuheben und natürlich mit dieser Ursprungssituation verbunden ist ein grundlegend didaktischer Anspruch, der im Großen und Ganzen der Studie zum Vorteil gereicht, aber auch seine Nachtseiten hat. Zunächst einmal handelt es sich um einen ausgesprochen vielseitigen und informativen Überblick über die Geschichte der europäischen Kultur, die eben durchaus im Singular gesehen und dargestellt wird. Verbunden sind freilich damit bereits an dieser Stelle Einschränkungen, vielleicht sogar unbedingt nötige Konzentrationen, die sich aber bei einem genaueren Blick auch als außergewöhnlich konventionell zeigen: Wieder sind es vor allem die geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die großen Namen der europäischen Literatur von Petrarca über Kopernikus und Descartes bis zu Shakespeare, Goethe und Kafka, und es stellt sich schon vom Inhaltsverzeichnis her die Frage ob diese Konzentration auf die Klassiker der ›Kerneuropäer‹ überhaupt das ›Europäische‹ in seiner kulturellen Vielfalt, historischen Tiefe und regionalen Breite abdeckt.

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Auf eine lange, knapp sechzigseitige Einleitung, die in die Begriffe und die Methodik einer »europäischen Kulturwissenschaft«, im Buch pointiert als »Europäistik« angesprochen (vgl. S. 23 ff.), einführen soll und die in ihren verschiedenen Facetten und Ausformungen alleine für ein Anfänger-Semester wohl gereicht hätte, folgen drei ungefähr jeweils um die hundert Seiten starke Darstellungen der drei Epochen, die bislang von Europa aus – und seit den Humanisten – auch ansonsten die Bausteine der europäischen Geschichte ausmachten: Antike, Mittelalter und Neuzeit, wobei dieses letzte Kapitel, dessen Umfang noch einmal den der anderen um gut die Hälfte übersteigt, insgesamt den lückenhaftesten, unfertigsten Eindruck hinterlässt. Blieben in den vorhergehenden Kapiteln im Sinne einer traditionellen Kulturgeschichte die sozialen, politischen, alltäglichen und materiellen Aspekte der jeweiligen historischen Zusammenhänge weitgehend außen vor, finden sich nun zum Ende hin je ein Kapitel zum Umgang mit der Macht und zur Rolle der Technik in der europäischen Geschichte, vornehmlich des 20. Jahrhunderts.

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Dies trägt möglicherweise einer auch ansonsten spürbaren systemtheoretischen ›Codierung‹ der Darstellung insgesamt Rechnung, innerhalb deren sich die Ausdifferenzierung von Subsystemen vor allem als Merkmal der Moderne seit 1900 darstellen lässt. Freilich lässt sich dieser Ansatzpunkt schon bei einem Rückbezug auf Luhmann selbst, namentlich auf dessen Studien zu Gesellschaftsstruktur und Semantik, die ja bis weit in die frühe Neuzeit zurückgreifen, nicht rechtfertigen, und es müsste systemtheoretischen Epochenansichten ja auch zu denken geben, dass die Möglichkeiten, die jeweilige Epochendynamik aus der großen Umstellung von segmentaler zu funktionaler Differenzierung zu erklären, zwischen 1750, 1850 oder gar 1900 variieren. Grade hier hat Vietta mit den in der Hildesheimer Moderne-Forschung entwickelten Zugängen ja selbst einen ausgesprochen produktiven und facettenreichen Ansatz geliefert.

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In diesem Punkt der Epochendarstellung und Epochenabgrenzung tritt die vorliegende Darstellung nicht nur konventioneller auf, als dies die Einleitung vermuten lässt, auch bleibt Vietta hier, möglicherweise ist dies dem Anspruch der Narration geschuldet, hinter den methodologischen und wissenstheoretischen Standards der Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie der Literaturwissenschaft, wie sie etwa schon einmal in der Hanser Sozialgeschichte der Literatur zu Beginn der 1980er Jahre in die Tat umgesetzt wurden, zurück. Freilich waren dies Gruppenarbeiten, hier ist nun wieder ein einzelner Gelehrter am Werk. Dies muss durchaus kein Nachteil sein, sondern bietet – neben anderen Gründen für diese Entscheidung – eine möglicherweise didaktisch ertragreiche Option, handelt es sich doch um den begrüßenswerten Mut eines umfassend Gebildeten zu einer Synthese. Zugleich ist es wohl auch in dem Sinne Signatur der Zeit und der aktuellen Studien- und Wissenschaftsansprüche, dass nunmehr erneut ein Temperament erwünscht wird, durch dessen Tönung die Welt ›gefasst‹ erscheinen kann, dass also Ordnung, Wertung und Übersicht erwartet werden. Ähnliches hatte ja auch Schwanitz mit seinem Bildungs-Kompendium von 1999 unternommen. Freilich hatte Schwanitz auch genügend Zynismus und Sottise eingearbeitet, um – wie der Igel gegenüber dem Hasen – angesichts der Vergeblichkeit eines solchen Versuchs zu einer Gesamtschau auf der Höhe der Reflexion zu bleiben.

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Vietta ist an diesen Stellen eher affirmativ und emphatisch, nutzt Begriffe wie ›bedeutend‹, ›groß‹ und ›herausragend‹ um Wertungen zu transportieren. Er ist nicht ironisch, sondern konstruktiv, etwas, was die Studierenden angesichts aktueller Unübersichtlichkeiten in jeder Hinsicht sicher zu danken wissen und was den hier vorgelegten Zugang zur europäischen Kultur auch mit dem Reiz der Freundlichkeit ausstattet. Deutlich ist zu merken, dass Vietta etwas von der Faszination und Begeisterung, die er seinem Thema und seinem Fach gegenüber empfindet, weitergeben will. Die Figur eines wünschenswert präsenten akademischen Lehrers ist in den Untertönen der Darstellung deutlich zu vernehmen, gerade auch dann, wenn man, wie hier dargelegt, einiges Kontroverse vorzutragen hat.

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Denn trotz möglicher Einschränkungen und Kritik ist das, was Vietta in seinem Buch vorlegt, nicht wenig. Es ist eine bestimmte, vergleichsweise aus einer eurozentrischen Perspektive konsequent entwickelte Sichtweise der Geschichte der europäischen Kultur, die deutliche Akzente setzt und beispielsweise im Blick auf Boccaccio, Petrarca und Dante, ebenso aber auch im Kapitel zum griechischen Drama (S. 117 ff.), ein Zeittableau entwirft, von dem zu wünschen ist, dass es viele als Einführung in die Kulturgeschichte lesen werden. Der informative und in einer ersten Sichtweise auch leicht zugängliche Charakter des Buches wird durch jeweils kurze Kapitel, eingängige Überschriften, eine klare Gliederung sowie eine um Begriffe und Problemkonstellationen herum zentrierte Form der Darstellung unterstützt. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein Register der Namen sowie den einzelnen Unterkapiteln fast immer beigegebene Literaturhinweise (zum Teil sogar mit Kommentierung), erhöhen den Nutzen der Informationen und bieten insbesondere für Anfangssemester und sonstige Interessierte hilfreiche weiterführende Schritte.

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Nicht zuletzt ist wie bereits angesprochen durchweg die Präsenz eines Erzählers zu vermerken. Es bietet sich eine die Darstellung auch prägenden Stimme an, um als eine Art Vergil durch die Landschaften der europäischen Literaturen und Wissenschaften zu führen, besonders aber auch um Aspekte der Theorie, der Reflexion und der Wertung, soweit sie in den Texten vorkommen, anzusprechen, und dadurch – so individuell und konkret wie möglich – insbesondere die ›letzten‹ Fragen einer Kulturgeschichte nach dem Menschen, der Kultur, der Geschichte usw. auch für die Lesenden zum Thema und Denkanstoß zu machen. Diese können dadurch dem Erzähler beim Zusammensetzen seiner Gedanken und Informationen zuschauen, ob eher gebannt und unterhalten oder eher kritisch und auch im Widerspruch, bleibt im Einzelfall zu klären.

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Zum Kultur-Begriff dieser Kultur-Geschichte

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Im Ganzen, selbst wenn die Einleitung zunächst einen weitgehenden, der Ethnologie und den Sozialwissenschaften entnommenen ›Kultur‹-Begriff zugrunde legt (S. 24 f.), bleibt die Darstellung der in den Epochen anzusiedelnden Entwicklungen und Erscheinungen freilich auf einer weitgehend geisteswissenschaftlichen, ja sogar überwiegend literaturwissenschaftlichen Ebene stehen; in dieser Hinsicht verspricht der Titel des Buches mehr als er hält. Hier wäre – um ein Gegenstück zu der hier vorliegenden Studie anzusprechen – auf die 2004 erschienene monumentale Arbeit von Wolfgang Reinhard 2 zu verweisen, die tatsächlich all die Themen und Gegenstände enthält, die im Rahmen des weiten, auch von Vietta zunächst in Anschlag gebrachten Kulturbegriffs für die Darstellung einer »Europäischen Kulturgeschichte« unbedingt anzusprechen gewesen wären: Reinhard thematisiert erstens den Körper, insbesondere auch die damit verbundene materielle Kultur, vom Essen über Kleidung und Hygiene bis zu Gesundheit und Tod. Zweitens befasst er sich mit den Mitmenschen, wobei hier alle Formen des Sozialen von der Liebe bis zur Gewalt, von Integration bis Exklusion, und die damit verbundenen Institutionen, sowie deren Variationen und Geschichten in den Blick gebracht werden. Und schließlich thematisiert er Umwelten: die Formen und Sphären der Weltgestaltung und des Weltbezugs, in denen der Mensch sich bewegt und auslebt – Raumerfahrungen und Wirtschaft, Alltag und Wohnen, Kommunikation und Religion, schließlich die Medien der Selbstbestimmung und der Selbstprogrammierung.

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Nun hat Reinhard sicher keine Einführung im Sinn gehabt, bei Vietta steht dieser Zugang dagegen im Vordergrund. Gerade aber im Blick auf die in der Einleitung übersichtartig aneinander gereihten neueren Ansätze der Kulturwissenschaften von der Systemtheorie über die Gedächtnisforschung, die Medien- und Materialitätstheorien bis hin zur Mentalitätsforschung wäre es aber wohl sinnvoll gewesen, diese Arbeitsansätze auch in den anschließenden Darstellungen zu den Gegebenheiten der europäischen Kultur bzw. Kulturen über das Einleitungskapitel hinaus weiter zu verfolgen und gegebenenfalls an entsprechenden Konstellationen und Beispielen zu erläutern. Dass dies für die Antike auch schon so ausgearbeitet ist und sich im Anschluss hieran Einführungstexte schreiben ließen, belegen die Arbeiten von Paul Veyne ebenso wie im Blick auf Mittelalter und Neuzeit die fünfbändige Geschichte des privaten Lebens von Philippe Ariès und anderen als Beispiel für die tatsächliche Zusammenführung unterschiedlicher Disziplinen zu einem Mosaik-Bild.

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In gewissem Sinn stehen sich die beiden Bücher von Reinhard und Vietta umgekehrt proportional gegenüber. Während Reinhard seine Perspektive, den Ansatz der Kulturanthropologie, vergleichsweise präzise und mit fachlichen und konkreten Einschränkungen vorstellt, dann aber die ganze Sphäre der Lebensformen Europas in ihrer Breite und historischen Tiefe aufarbeitet, geht Vietta von einem sehr weit gefassten Begriff der Kultur aus, um die Darstellung dann aber auf die Bereiche einer traditionell am Geistigen orientierten Kulturgeschichte zu beschränken. Seine Europäische Kulturgeschichte handelt von den Denk-, Anschauungs- und Gestaltungsformen, in denen sich von der Antike an Philosophie, Künste und Wissenschaften geäußert bzw. objektiviert und entwickelt haben. Selbst die Technik, die im letzten, der Neuzeit bzw. der Moderne gewidmeten Kapitel in den Vordergrund drängt, wird im Anschluss an Heidegger als Realisation einer Denkgewohnheit gefasst und tritt als solche dann auch weltbewegend in Erscheinung. Ihr gegenüber stehen aber weiterhin denkende bzw. reflektierende oder künstlerisch gestaltende Menschen, womit die fragwürdige, seinerzeit von C. P. Snow entwickelte Problemkonstellation der Zwei Kulturen (1959) fortgeschrieben wird. Dass darüber hinaus die Menschen der Gegenwart nunmehr, so Vietta im Schlusskapitel, im Cyberspace ihre eigentümliche Reflexionsform gefunden haben, und diese Form im übrigen auch an die Stelle überkommener Transzendenzvorstellungen tritt, mag von manchen Erscheinungen im Internet belegt werden können. Ob dies freilich die ›Kultur‹ Europas im Ganzen bestimmt, lässt sich – gerade auch im Blick auf den von Vietta im übrigen auch normativ entfalteten Individualismus – bestreiten. Dass hier gerade die zeitgenössische Religionsphilosophie und Soziologie auch andere Wege geht, also auf eine Restitution einer spezifisch menschlich-körpergebundenen Vorstellung von Transzendenz-Erfahrungen zurückkommt, sei hier nur mit Hinweis auf die Arbeiten von Charles Taylor bzw. Hans Joas (Die Kreativität des Handelns, 1992; Die Entstehung der Werte, 1997) angemerkt.

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Von einer Kulturgeschichte Europas wäre unter aktuellen Vorgaben zu erwarten, dass sie sich den Gestaltungsformen und Mustern kultureller Interaktionen in den jeweiligen diskursiven Feldern, sozialen Handlungsräumen und an den entsprechenden Schnittstellen der historisch und aktuell entwickelten Codes zuwendet, also Arbeit, Sozialität, Körperdiskurse, zivilisatorische Entwicklungen und kulturell-künstlerische Objekte und Theorien als aufeinander bezogene und ineinander vermittelte vorstellt, um so – wenn es denn sein soll – einem integralen Kultur-Begriff ›der‹ europäischen Kultur Rechnung zu tragen.

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In manchen Kapiteln, so in dem Abschnitt zum griechischen Drama in der Antike (S. 117 ff.) finden sich diese Aspekte wieder, freilich immer nur angerissen und mehr im Sinne einer Erzählung als analytisch ausgeführt präsentiert. Stadt und Dorf, Familienleben und Arbeitswelt, Geschlechterordnung und Geselligkeitsformen stehen als Dispositive der europäischen Kultur(en) weitgehend außerhalb der Betrachtung, wenn überhaupt, werden sie im Rahmen von Werkanalysen und Motivgeschichte (zu Medea, vgl. S. 151 ff.) lediglich angesprochen.

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Dass eine Geschichte der Kultur, auf dem Stand aktueller sozial- und kulturgeschichtlicher Forschungsansätze, sich diesseits der Literatur und anderer ›geistiger‹ Gebilde auf den Umgang mit Leiblichkeit, Geschlechteridentität oder Tod im historischen und interkulturellen Vergleich ebenso einzulassen hätte wie auf die sozialisierenden und zerstörerischen Folgen und Funktionen sozialer Integrationsformen wie etwa des »Streits« (Georg Simmel), der Großstadt, des Marktes oder der Staatlichkeit, bleibt ebenfalls weitgehend außerhalb der hier vorliegenden Perspektive und weist damit vielleicht auf die Grenzen von Diskussionsansätzen und Modellen hin, in denen sich – unter aktuellen Vorgaben – Literatur- und andere Geisteswissenschaften einfach zu Kulturwissenschaften umzudeklarieren suchen. Vielleicht hat Vietta ja nicht nur Recht, wenn er bei seinen Leisten bleibt, vielleicht würde das anderen Schustern auch gut tun. Zumal da, wo literarische Epochen, bestimmte Konstellationen zwischen Literatur, anderen Künsten und bspw. der Philosophie im Fokus der Darstellung stehen, ist seine Geschichte der europäischen Kultur unbedingt lesenswert.

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Zu den Grenzen, auch des gut Gemeinten

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Unter den genannten Vorgaben entsteht ein großes Narrativ, das, um wenige Grundbegriffe gruppiert, den Vorteil der klaren Linien und auch der leichten Aneignungsfähigkeit mit dem Verzicht auf Differenzierung und auf Reflexivität aufwiegen muss. Denn erst im Lichte der durch die Disparität der Erscheinungen und durch die mitunter anstößige Nicht-Zusammengehörigkeit von Fakten, Personen und Konzepten erzeugten Brüche könnte sich jene »erhöhte Reflexivität« einstellen und weiterführen lassen, die nicht nur, wie dies Joachim Matthes überzeugend ausgeführt hat 3 , den Kern interkultureller Kompetenz ausmacht, sondern eine zentrale Leistung wissenschaftlichen Nachdenkens und Forschens, aber auch eines wissenschaftsbezogenen Lernens überhaupt ist. Diesen Umständen Rechnung zu tragen, ist gerade im Blick auf eine »Einführung« nicht einfach. Vietta stellt sich den Erwartungen auf Informationen und Ordnung. Dem dienen nicht zuletzt Schaubilder und Literaturverweise, wobei die letzteren, zum Beispiel im Einleitungskapitel, zu zahlreich und zu unspezifisch sind, während die Schaubilder zum Teil allzu schematisch ausfallen (so die als »Gleismodell der Literaturwissenschaften« angesprochene Übersicht zur Entstehung der Nationalphilologien, S. 21 f.), zum Teil aber auch nicht aussagekräftig genug differenziert erscheinen (vgl. die Übersicht der Revolutionen oder auch der Makro-Epochen der Europäischen Kultur, S. 44–46).

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An anderen Stellen treten Idiosynkrasien zu Tage. Am störendsten dort, wo Viettas eigene Sichtweise nicht nur sympathisch, sondern zugleich aktuell und lehrreich genannt werden kann. Setzt sich doch sein Europabild aus drei Impulsen / Epochen zusammen: antike Logos-Vorstellungen, die auf einen Kosmos gerichtet sind, mittelalterlich christliche Glaubensorientierung (Pistis), die zugleich die Welt in Richtung Transzendenz öffnete, und moderne, am Individuum angelegte Reflexivität, die ein ebenso kritisches wie vorläufiges und dadurch gegebenenfalls auch revidierbares, ja ›freies‹ Denken ermöglicht. In dieser Sichtweise hat die didaktische Anordnung der Weltalter in den drei Hauptkapiteln dann sogar noch eine leicht evolutionistische Tönung und bietet zugleich einen Baukasten, von dem aus sich ganz unterschiedliche kulturelle Muster, gesellschaftliche Erscheinungen und historische Entwicklungen aus bestimmen, analysieren und interpretieren lassen.

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Nun ist Vietta sicher kein Vertreter eines hegelschen Geschichtsgangs, vielmehr sieht er die Reichhaltigkeit und das Glück, das Europa hätte haben können und möglicherweise noch haben kann, gerade darin, dass sich diese drei Komponenten immer auch gleichzeitig in unterschiedlichen Konstellationen miteinander verbinden und voneinander lösen konnten bzw. könnten. Er schildert diese Zusammenhänge eindrucksvoll am Beispiel des Galilei und der mit ihm verbundenen Gegenüberstellung von Glaubens- und Wissens- bzw. Wissenschaftsvorstellungen (vgl. S. 338 ff.), ebenso eindrucksvoll im Blick auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts (vgl. S.348 ff.) und die Geburt des modernen Subjekts in der Literatur der Jahrhundertwende 1800. Aus den Vorgaben dieser Struktur wird als ›Lehre‹ der Darstellung der Gedanke entwickelt, dass Europa unter den Bedingungen der Ausdifferenzierungen unterschiedlicher »Wertsphären« ein Reich der Freiheit sein könnte (hätte sein können). Bei der Frage freilich, woran diese Chancen denn zu Schanden wurden, wird schnell der Gegensatz des Geistigen zur Macht erkennbar und findet in Napoleon dann sogar noch seine Personifikation, dessen Zerstörung des bunten Teppichs der Alten Reiche als Vorgriff auf die »totalitären« Systeme des 20. Jahrhunderts gesehen wird (vgl. S. 15, S. 402, 411, u.a.).

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Damit werden Argumentationsmuster der Jahrhundertwende 1900 und der konservativen Publizistik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen – eine Tendenz, die es aktuell auch in Frankreich, Russland und Polen gibt. Diese haben, diesmal aus der Perspektive des Geistigen gesehen, selbst genauso zur Zerstörung der Vernunft im Gang der europäischen Geschichte beigetragen. Napoleon andererseits kann auch als Agent einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft und ihrer Rationalitätspotenziale gesehen werden. Vom Code Napoleon einen Weg in die totalitären System des 20. Jahrhunderts zu ziehen, bedarf ziemlich viel Aufwand, der vielleicht besser im Sinne einer Dialektik der Aufklärung auf die Grundlagen des europäischen Zivilisationsprozesses selbst, darüber hinaus vielleicht aber auch besser auf die Erforschung der konkreten Macht- und Gesellschaftsverhältnisse in den europäischen Staaten im Schatten des Ersten Weltkriegs zu wenden gewesen wäre. Dass Vietta dabei den bürgerlich-rechtlichen Verhältnissen der westlichen Demokratien, zu denen sich nach 1945 zunächst die westeuropäischen, dann nach 1990 ein Großteil der osteuropäischen Gesellschaften bekennen, eine Art normative Stellung einräumt (vgl. S. 403), ist sicher ebenso begrüßens- und unterstützenswert wie die Hinweise, die er auf die Selbstgefährdungen der europäischen Moderne durch die von ihr selbst in Gang gesetzten Tendenzen der Vereinseitigung und ihrer Dynamik gibt.

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Fazit

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Insgesamt handelt es sich bei Viettas Studie um ein ebenso lesens- wie diskussionswürdiges Buch, dessen gute Seiten in der Informativität, in der didaktischen Aufbereitung und nicht zuletzt darin zu sehen sind, dass hier jemand spricht, der über genügend Gelehrsamkeit, Reflexivität und die Gabe anschaulich zu schreiben und zu argumentieren verfügt, so dass es gerade für Menschen, die sich dem Thema annähren wollen, instruktiv sein wird. Gut gemeint, in diesem Sinne also kritisch aufzunehmen und weiterzuführen, sind Viettas Gedanken und Ausführungen da, wo er zum einen mehr Sinn und evolutionäre Kräfte in der europäischen Geschichte am Werk sieht, als diese einem nüchtern-skeptischen Blick zeigen, und besonders da, wo diese Beobachtungen sich der Tendenz annähren, die Besonderheiten Europas im Sinne einer Schließung oder gar einer spezifisch eurozentrischen Höherwertung des Europäerseins in der Welt zu interpretieren. Dies liegt sicher nicht in den Intentionen Viettas, dessen Ziel offensichtlich darin besteht, Europa sich und anderen verständlicher zu machen, Kommunikation darüber anzustoßen. Gerade deshalb aber erscheint die damit verbundene Argumentationslinie mitunter als allzu gut gemeint.

 
 

Anmerkungen

Zwischen Deutschland und Frankreich stagnieren schon seit den 1980er Jahren die Beziehungen zwischen den Bürgern, von anderen Grenzüberwindungen gar nicht zu reden. Vgl. dazu Stierle, Karlheinz: Siegfried und Roland. Deutsch-französische Dialoge und Missverständnisse,.In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. April 2004.    zurück
Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München: Beck 2004.    zurück
Matthes, Joachim: Interkulturelle Kompetenz. Ein Konzept, sein Kontext und sein Potential. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 411–426, hier S. 424.   zurück