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»Snow von gestern?«

Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur

  • Thomas Macho / Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. (Fischer Sozialwissenschaft 15838) Frankfurt/M.: S. Fischer 2004. 384 S. 22 Abb. Paperback. EUR (D) 13,90.
    ISBN: 3-596-15838-9.
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Zwei, drei oder unendlich viele
Wissenschaftskulturen?

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In seinem 2002 publizierten Essay Die Poesie der Wissenschaften konstatiert Hans Magnus Enzensberger nüchtern,

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daß von einem gemeinsamen kulturellen Horizont der Human- und der Naturwissenschaftler seit langem keine Rede mehr sein kann, von den Künsten ganz zu schweigen. C.P. Snows berühmte These von den zwei Kulturen ist von der Wirklichkeit eingeholt worden. Mit zunehmender Differenzierung könnte man heute ebenso wohl von drei, fünf oder hundert Kulturen sprechen. Insofern hat sich die Diagnose des englischen Physikers und Romanautors von 1959 im Regime des babylonischen Pluralismus als allzu optimistisch erwiesen. 1
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Diese Bestandsaufnahme, getätigt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wird durch den vorliegenden Sammelband gleichzeitig bestätigt und widerlegt. Einerseits scheint er Enzensbergers Korrektur der Snowschen Rede von den zwei Kulturen, die angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung kultureller Systeme im Zeitalter der Postmoderne in der Tat anachronistisch erscheinen muss, zu unterstreichen: Schließlich vereint die von Thomas Macho und Annette Wunschel besorgte Aufsatzsammlung bewusst weit gefächerte, stellenweise aber auch höchst disparate Beiträge aus den verschiedensten Bereichen des Wissens (der Band enthält u. a. Untersuchungen von Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Medientheoretikern sowie Wissenschafts- und Kunsthistorikern). Andererseits lassen sich die hier versammelten 17 Aufsätze nicht nur auf den gemeinsamen Nenner der Interdisziplinarität bringen, sondern auch unter den schillernden, interkulturellen Begriff des Gedankenexperiments subsumieren.

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Denn im Gedankenexperiment, verstanden als eine in gleicher Weise mentale und logisch-narrativ realisierte Versuchsanordnung, in der sich Empirie und kontrafaktische Hypothese gegenseitig durchdringen, werden Literatur, Wissenschaft, Kunst und Philosophie »geradezu gezwungen, sich zu verbinden« (Vorwort, S. 11). Mit dieser Prämisse im Rücken gelingt es den Herausgebern daher auch, ein stets anregendes Panoptikum verschiedenster, nicht immer streng wissenschaftlicher Überlegungen zu präsentieren: Gedankenexperimente über die anthropologischen Konsequenzen eines ewigen Lebens, spieltheoretische Konfliktsimulationen zur Zeit des Kalten Krieges, die logischen Paradoxien von Zeitreisen, die extraterrestrische Kontaktaufnahme mit Außerirdischen oder die Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Erforschung telepathischer Phänomene.

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Das Gedankenexperiment –
Annäherungen an einen Begriff zwischen den Kulturen

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Um die vielfältigen Interferenzen zwischen Wissenschaft, Philosophie und Literatur offen zu legen, widmet sich ein Teil der versammelten Aufsätze der theoretischen Arbeit dem Begriff »Gedankenexperiment« und seinen philosophischen bzw. ästhetischen Implikationen. Dass der epistemologische Wert des Terminus dabei keinesfalls immer unumstritten war, betont in diesem Zusammenhang Matthias Kroß, der Ludwig Wittgensteins kritische Auseinandersetzung mit dem Problemfeld des Gedankenexperiments behandelt. In seinem Aufsatz zeichnet er nach, wie Wittgenstein seine Reflexionen zum Thema in distanzierender Abgrenzung zu Ernst Mach entwickelt. Für den Verfasser der Philosophischen Betrachtungen stellt der Machsche Entwurf des Gedankenexperiments nämlich zunächst nicht viel mehr dar als eine »grammatische Betrachtung« 2 ; auch scheint Wittgenstein – zumindest im Tractatus – von der prinzipiellen Unmöglichkeit des logisch-philosophischen Experimentierens in Gedanken auszugehen.

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Kroß weist jedoch darauf hin, dass sich Wittgenstein selbst sehr häufig dessen bedient, was man gemeinhin als Gedankenexperiment bezeichnet. Im Unterschied zu Mach, der den Vorrang der Empirie gegenüber einem rein spekulativ verfahrenden Denken herausstellt, geht Wittgenstein allerdings von einem symmetrischen Verhältnis zwischen dem gedanklich Möglichen und der äußeren Wirklichkeit aus. So gelingt es ihm nicht nur, der Gefahr eines »methodologischen Scheiterns des Fiktionalen am Wirklichen« (S. 139) zu entgehen, sondern auch vermeintlich gesicherte Fakten der empirischen Welt nicht selten als Produkte alltäglicher Konventionen oder gedanklicher Konstrukte sichtbar zu machen.

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Die Aufwertung des Fiktionalen strebt auch der Beitrag Sigrid Weigels an, der im Kontext der theoretischen Diskussion über Gedankenexperimente besondere Beachtung verdient. In ihrem Aufsatz setzt sich Weigel das Ziel, die Geschichte eines alternativen Verständnisses von Fiktion jenseits der rigiden Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu schreiben. Die Ursprünge dieses anderen Fiktionsbegriffs, der sich nicht allein auf die Bereiche von Kunst und Literatur reduzieren lässt, verortet Weigel dabei in der antiken Tradition. Dort wurde Fiktion als mimetisch-produktive, intellektuelle Tätigkeit ausgewiesen, der in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur eine zentrale, erkenntnistheoretische Funktion zukam.

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Auf diese weitgefasste, heuristische ›fictio‹-Definition des Altertums, langandauernd abgelöst und verschüttet durch die augustinische bzw. cartesianische Abwertung der ›poiesis‹, greift erst wieder das 18. Jahrhundert zurück, das sich für Weigel dann allerdings geradezu zum »Zeitalter des Gedankenexperiments« (S. 194) auswächst. Als Beleg für die disziplinenübergreifende, experimentelle Kultur dieser Zeit dient der Autorin am Ende ihres Beitrags vor allem Heinrich von Kleist mit seiner Erzählung Der Findling: Weigel liest Kleists Text als »direkte Übersetzung der Experimentalphysik in ein literarisches Gedankenexperiment« (S. 203) und bietet damit ein mustergültiges Beispiel für die Begegnung von Literatur und Wissenschaft auf dem »Schauplatz einer ›facultas fingendi‹« (S. 198).

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Die vierte Dimension
und das literarische Gedankenexperiment der Zeitreise

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Neben den theoretischen Bemühungen um das Gedankenexperiment bildet die Beschäftigung mit ›Science-Fiction‹ in Literatur, Kunst und Film konsequenterweise einen zweiten Schwerpunkt des vorliegenden Bandes. Denn nirgendwo sonst, so scheint es, gehen Naturwissenschaft und Dichtung eine so enge Verbindung ein wie im Feld der SF, in dem das Experimentieren in Gedanken eine gleichsam naturgemäße Überführung in die Praxis erfährt.

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In diesem Sinne spürt Thomas Macho dem »Rätsel der vierten Dimension« (so der Titel seines Beitrages) und den damit verbundenen Wechselwirkungen zwischen ›Science‹ und ›Fiction‹ nach. Er stellt dar, wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Spekulationen, die zur Begründung der nichteuklidischen Geometrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten, bereits in den 1880er Jahren in einer Reihe von literarischen Texten aufgegriffen und popularisiert wurden. Die Gedankenexperimente zur vierten Dimension in Mathematik und Physik wirkten indes nicht nur auf die Literatur, sondern auch – wegen ihrer metaphysischen Implikationen – auf Spiritisten oder Mystiker; vor allem aber beeinflussten sie die ästhetischen Avantgarden. Macho führt aus:

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Die Vorstellungen von einem vierdimensionalen Raum und dem in ihm möglichen neuen Sehen gehörten [...] zum theoretischen Background zahlreicher künstlerischer Bewegungen um die Jahrhundertwende und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: vom Kubismus und Konstruktivismus bis zum Futurismus und Surrealismus, von Malewitsch bis Dalí, von Picasso bis Mondrian oder Escher. (S. 73)
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Am Ende seines Beitrags weist Macho zudem darauf hin, dass das wissenschaftliche Spekulieren über die vierte Dimension auch das Gedankenexperiment der Zeitreise theoretisch in sich trägt. Denn fasst man die vierte Dimension als Zeit auf, so müsste diese folgerichtig ebenso bereist werden können wie der dreidimensionale Raum. Erstmals findet sich diese Setzung in H. G. Wells’ Roman The Time Machine von 1895, der – so formuliert es der Aufsatz Konrad Paul Liessmanns – als der »paradigmatische Text zur Bereisbarkeit der Zeit« (S. 210) schlechthin gelten kann.

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Mit seinem Beitrag liefert Liessmann zwar keine literarhistorisch ausgerichtete »Geschichte der Zeitreise«, wie der Untertitel seiner Abhandlung verspricht – seine Ausführungen bewegen sich eher im genretypologischen bzw. motivgeschichtlichen Bereich. Darüber hinaus beginnen die literarischen Gedankenexperimente, die sich der fiktionalen Spekulation über Zeitreisen verschreiben, keineswegs erst mit Richard Wagners Parsifal, wie dies der Autor nahe legen möchte. Mühelos ließen sich frühere Texte benennen 3 ; außerdem räumt Liessmann selbst ein, dass die Szene von Parsifals erstem Eintritt in die Gralsburg, in der die Zeit eine scheinbare Verräumlichung erfährt, »weniger als Bewegung in eine historisch andere Zeit, sondern vielmehr als ein veränderter Bewusstseinsraum zu deuten« (S. 209) ist.

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Von diesen – freilich vernachlässigenswerten – Mängeln abgesehen enthält Liessmanns Aufsatz jedoch wertvolle Hinweise zu wesentlichen Paradigmen und Problemfeldern der Gattung, die, ausgehend von Wells’ Time Machine, hauptsächlich anhand von Science-Fiction-Romanen der 1990er Jahre analysiert werden. Mit Hilfe der grundsätzlichen Frage, ob die Vergangenheit oder die Zukunft bereist werden soll, teilt Liessmann das Genre der Zeitreise-Literatur gleichsam in zwei Hälften, die sich deutlich voneinander unterscheiden:

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Wer die Reise in die Zukunft fingiert, projiziert sich und seine Bewusstseinslage in einen Möglichkeitsraum; wer in die Vergangenheit reist, kann bestenfalls damit rechnen, etwas besser zu verstehen, was schon geschehen ist. Hier sind auch der Phantasie enge Grenzen gesetzt. (S. 220)
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Dennoch verbinden beide Varianten der Zeitreise einige wesentliche, konstante Merkmale. Zu diesen gehört etwa der bei allen fiktionalen Reisen in zeitlich noch so entlegene, fremde Welten stets mitzudenkende Bezug zur eigenen (Schreib-)Gegenwart. So konzipierte bereits H. G. Wells seinen Text als negative Utopie, die der Kritik an sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheit bzw. den rigiden Klassenschranken des viktorianischen Zeitalters dienen sollte.

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Ein weiteres, genretypisches Charakteristikum bilden nach Liessmann die zahlreichen Paradoxien, die sich notwendigerweise ergeben, wenn die Linearität des Zeitablaufs aufgehoben ist. Das Aufeinandertreffen von verschiedenen Zeitebenen in ein und demselben Raum stellt eine Herausforderung an logische Handlungsstrukturen dar und bedingt ein beträchtliches Maß an spekulativer Faszinationskraft. Dies macht sich etwa Stanisław Lem in der siebten Weltraumreise seiner Sterntagebücher zu nutze, wenn er seinen Protagonisten, gefangen in einer Zeitschleife, mehrmals sich selbst begegnen lässt. Wie Christian Kassung in einem zweiten und gleichzeitig letzten Beitrag des Bandes zum Thema Zeitreisen zeigt, gelingt es Lem durch diesen Kunstgriff, Physik und Fiktion zu vermengen und die Paradoxien der Einsteinschen Relativitätstheorie in die literarische Welt seines Romans zu verlegen.

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Klonexperimente und Posthumanismus

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Von den zahlreichen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes, die sich dem Genre der ›Science Fiction‹ (zu der die eben erwähnte Zeitreise-Literatur bekanntlich einen Teilbereich bildet) verschrieben haben, seien abschließend zwei weitere Aufsätze hervorgehoben, die sich thematisch innerhalb der Posthumanismus-Debatte bewegen.

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Von den anthropologischen Konsequenzen, die der Mensch im Zeitalter seiner biotechnischen Reproduzierbarkeit möglicherweise zu gewärtigen hat, handelt ein von Raimar Zons verfasster, filmwissenschaftlicher Beitrag. In einer eingehenden Analyse der SF-Produktion Bladerunner zeigt der Autor, wie brüchig die Grenze zwischen Mensch und Maschine im posthumanen Diskurs der Zukunft geworden ist. Der Film bildet, vermittelt durch die Fortschritte einer gottähnlich gewordenen Biomechanik, das »Ende der Unterscheidungen«, ja die »Unhaltbarkeit der anthropologischen Differenz« ab (S. 337), indem er die Trennlinie zwischen Mensch und Androiden systematisch verwischt. Der posthumane Mensch erscheint in Bladerunner somit letztlich als zutiefst fragwürdige, problematische und hybride Gestalt.

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In thematisch vergleichbarem Fahrwasser bewegt sich Corina Carduff mit ihrem Beitrag, der ob seiner Affekte gegenüber bioethischen Bedenken hinsichtlich der gentechnischen Reproduktion allerdings stellenweise nicht ganz unbedenklich ist. Carduff sichtet Romane, SF-Thriller und Theaterstücke, die sich dem Experiment Klon widmen. Eine »erste Phase der Klon-Literatur« (S. 234), die sich dezidiert mit den Folgen des ›Human Cloning‹ auseinandersetzt, verortet die Autorin dabei in den 1970er Jahren. Nach dem zwischenzeitlichen Abflauen der ersten Klondebatten in den achtziger und frühen neunziger Jahren verliert sich vorübergehend auch die Behandlung des gerade erst gefundenen Sujets in der Literatur; erst im Umfeld der erfolgreichen Klonierung des Schafes Dolly (1997) und den daran anknüpfenden bioethischen Kontroversen erlebte das neue Genre eine bis heute anhaltende Renaissance.

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Übergreifende, motivbedingte Gemeinsamkeiten zwischen beiden Phasen sieht die Autorin zum einen in der dystopischen Sprechhaltung der Texte: »Sowohl in den siebziger Jahren als auch heute beziehen die Autoren Stellung gegen eine DNA-regulierte Gesellschaft und damit für die Aufrechterhaltung der genetischen Diversifikation« (S. 237). Darüber hinaus sei die »Einspielung wissenschaftlicher (Er-)Kenntnisse in den literarischen Text an der Tagesordnung« (S. 240). Manche der Werke suchen sich sogar durch Angabe der benutzten einschlägigen Fachpublikationen abzustützen und gleichsam wissenschaftlich zu autorisieren. In der Literatur um Probleme der Bio- und Gentechnologie gehen Wissenschaft und Dichtung damit, so ließe sich aufgrund von Carduffs Erkenntnissen folgern, eine selbst für SF-Verhältnisse einzigartig enge Verknüpfung ein.

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Fazit

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Mit ihren besten Beiträgen liefert die Sammlung Science & Fiction wesentliche Impulse und Anregungen für die gerade erst begonnene intensive Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Natur-Wissenschaften, Physik und Literatur. Der Gesamteindruck eines innovativen Beitrags auf einem noch jungen, ausbaufähigen Forschungsfeld wird auch durch die Tatsache nicht beeinträchtigt, dass einige der versammelten Beiträge teilweise abseitige, bisweilen skurril anmutende Nebengebiete behandeln. Doch bleibt selbst in diesen Arbeiten das beständig durchgehaltene, hohe Reflexionsniveau des Bandes gewahrt.

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Kritisch zu vermerken bleibt einzig, dass sich die überwiegende Mehrheit der Untersuchungen den Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Dichtung beinahe ausnahmslos über die Inhaltsseite annähert. Fragestellungen zur ästhetisch-formalen Faktur der behandelten Gedankenexperimente, die in dem einen oder anderen Fall (man denke nur an Lems Sternentagebücher) sicherlich gewinnbringende Ergebnisse gezeitigt hätten, geraten so (fast) nicht in den Blick.



Anmerkungen

Hans Magnus Enzensberger: Die Poesie der Wissenschaft. Ein Postskriptum. In: H.M.E.: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 261–276, hier S. 261 f.   zurück
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Betrachtungen. Philosophische Bemerkungen. Wiener Ausgabe Bd. 2. Hg. von Michael Nedo. Wien / New York: Springer 1994, S. 194.   zurück
So etwa Louis-Sébastian Merciers Roman L’an deux mille quatre cent quarante von 1770, der gemeinhin als erste Zeitreise-Utopie überhaupt gilt (vgl. Gertrud Lehnert-Rodiek: Zeitreisen. Untersuchungen zu einem Motiv der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Rheinbach-Merzbach: CMZ 1987, S. 48 ff.).   zurück