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Reisegefahren und Urlaubsängste

Die unverzichtbaren Ingredienzen eines Reiseberichts

  • Thomas Wittich: Reisegefahren und Urlaubsängste. Die touristische Erfahrung von Bedrohung und Unsicherheit als Gegenstand narrativer Darstellungen. (Internationale Hochschulschriften 427) Münster: Waxmann 2003. 412 S. Broschiert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 3-8309-1376-1.
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Reise und Identität

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In seiner Dissertation Reisegefahren und Urlaubsängste, vorgelegt 2002 in Tübingen, beschäftigt sich Thomas Wittich mit narrativen Darstellungen von Reisemissgeschicken. Er versteht sie als ein Stück »interpretierter sozialer Realität«, denn sie enthalten Erfahrungen, durch die die »Kulissen des Glücks«, als die Reisen massenhaft angeboten werden, zumindest Risse bekommen.

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Reiseberichte sind vom Reisen nicht wegzudenken; denn das Heimkommen ist stets anvisiert. Nur so wird die Spanne zwischen Ausfahrt und Rückkehr zu einer aus dem Alltag ausgegrenzten Zeit, in der andere Regeln gelten und in der Neues erfahren werden kann. Die Bewegung der Reise verläuft also in zwei Richtungen; die eine zielt auf Expansion, will das Hier und Jetzt endlich einholen im Erleben geweiteter oder beschleunigter Zeit, die andere strebt zurück zum Gewohnten, das auf diese Weise zum Ziel werden kann. Wer kennt nicht den Umschlagpunkt der Phantasietätigkeit im Urlaub, die irgendwann nach Ablauf der Hälfte der dafür abgemessenen Zeit wieder auf das »Zu Hause« zuläuft! Doch beide Welten wollen verbunden sein, sollen sie uns wirklich gehören.

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Das Erzählen über die Reise

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Die wohl älteste Form einer solchen Verbindung ist das Erzählen über die Reise. Es findet nach der Reise oder während eines Innehaltens statt und verknüpft die Erinnerung an das Erfahrene mit dem sozialen und mentalen Ort, an dem sich dieses Erzählen vollzieht: der Gruppe der Mitreisenden oder der Daheimgebliebenen, manchmal auch einem Lesepublikum. Die Reiseerzählung wird zur eigentlichen Form der Heimkehr, die das Erfahrene mit dem Gewohnten verbindet und es auch im sozialen Umfeld des Reisenden »für wahr« nimmt. Die Darstellung offenbart dabei die Weise des Erfahrens und hält zugleich das Erfahrene fest. Beides gewährt Einblick in den Zusammenhang von Identitätsbildung und Reisen, den zuerst die historische Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewusst und zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht hat. Zugleich begann in dieser Zeit auch das Reisen um des Reisens willen, das kein anderes Ziel hatte als den Zugewinn von Erfahrung, die den Reisenden »bilden« sollte. Die Neuheit des Erfahrenen wurde zunehmend weniger als eine der Objekte, sondern vielmehr als eine für die Subjekte verstanden.

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Nicht zufällig setzte damals auch der Boom des Genres Reiseliteratur ein. In den Reisebeschreibungen eines Georg Forster oder Alexander von Humboldt dokumentieren sich Art und Form der je individuellen Gewinnung eines Weltverhältnisses als Formulierung eines erzählenden Ich. Und noch bei Rolf Dieter Brinkmann gibt es diese fiktive Figur, die sich die Erfahrungsbruchstücke als »Blicke« zueignet.

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Die Reiseerzählung –
fester Bestandteil mündlicher Erzählkultur

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Der Prozess der Subjektivierung des Reisens prägt auch das Reisen unter den Bedingungen des Massentourismus. Das Neue liegt nicht mehr in den längst entdeckten und in Bildern omnipräsenten ›Fernen‹ als solchen, sondern im je individuellen Nacherleben des solcherart Bekannten. Doch sind auch unter diesen Umständen Reiseerzählungen ein fester Bestandteil mündlicher Erzählkultur. Urlaubsgeschichten sind allgegenwärtig. Dass sie einander irgendwie alle gleichen, hat seinen Grund nicht in erster Linie in der Demokratisierung des ehemals aristokratischen Reisevergnügens, sondern in der Standardisierung des Reisens und der weitgehenden medialen Überformung der Reiseziele wie der »korrekten« Einstellungen und Empfindungen der Reisenden.

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Die Reise als Prüfung –
eine historische Konstante der Gattung Reisebericht

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Zu den allgemeinsten und ältesten Erwartungen der Zuhörer bzw. Leser von Reiseberichten gehört sicher die Vorstellung einer Art »Prüfung«, nicht unähnlich der im Märchen; der Reisende muss sie bestehen, indem er der Gefahr entkommt oder den verheißenen Ort erreicht, ein Rätsel löst oder das Fremdartige furchtlos bannt und schließlich den »Schatz« der Erzählungen und der großen und kleinen Anekdoten mit nach Hause bringt. Dies ist der Nährboden für die bevorzugte Schilderung von Unglücksfällen beim Reisen. Unter den Bedingungen der weitgehenden Normierung des Reisens und der Reiseerfahrungen sind sie die Rückzugsorte des Besonderen und des Abenteuerlichen.

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Reisebericht als Gegenstand der Erzählforschung

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Noch Rudolf Schenda mahnt 1993 in seinen Bausteine(n) zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa 1 , nicht nur das Sammelgut der Volkskunde zu untersuchen, sondern das alltägliche Erzählen in den Blick zu nehmen. Das, so Schenda, habe es immer gegeben, denn es helfe, den Alltag zu bewältigen. Doch wurde es von den bildungsbürgerlichen Sammlern auf ihrer Jagd nach »Volkserzählungen« herausgefiltert. Schenda hält es dagegen mit Norbert Elias, demzufolge aus dem »Durcheinanderschrei-Erzählen« erst im 17. bis 19. Jahrhundert ein »Zuhör-Erzählen« geworden sei; das Alltagserzählen sei wie der Alltag der Mehrheit gewesen, »unsicher, unbeholfen, unbotmäßig, ungesittet, ungepflegt, unfein und unvernünftig«. 2

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Es ist das Verdienst der Arbeit von Thomas Wittich, sich einer aktuellen Erscheinungsform dieses in der Erzählforschung bisher noch wenig beachteten Erzählens angenommen zu haben. Die vom Autor untersuchten Geschichten gehören zum Erzählgut einer Alltagskultur, in der das Reisen einen festen Platz hat und zugleich mit hohen Erwartungen verknüpft ist. Die ›schönsten Wochen des Jahres‹ sollen die Mängel und die daraus resultierenden unerfüllten Sehnsüchte kompensieren, die während der ›Normalzeit‹ der Arbeit und der sozialen Verkettung aufgeschoben werden und nach ›Erlösung‹ verlangen. Umso schlimmer, wenn diese geballte Hoffnung enttäuscht wird! Zwar machen kleine Katastrophen und ihre Bewältigung eine Reiseerzählung auch interessant, ja, liefern oft erst den Anlass für eine solche; auch bieten sie eine gewisse Kompensation entgangener Urlaubsgenüsse; doch bleibt diesem Einbruch des Ungewöhnlichen ins scheinbar Gewöhnliche einer geplanten und millionenfach vollzogenen Reise für die Betroffenen etwas Verstörendes.

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Reiseerzählungen als Erzähl-Material

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Das Untersuchungsmaterial, das Wittich sich vornimmt, besteht aus 268 schriftlichen Reiseerlebnisschilderungen von enttäuschten Urlaubern. Gesammelt wurden sie nach Aussage des Verfassers zwischen 1989 und 1993 durch Schreibaufrufe in der Mitgliederzeitschrift des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs ADACmotorwelt. Durch die Vorgaben der Aufrufe handelt es sich dabei ausschließlich um negative Erfahrungen, in denen die Reisenden Opfer von Überfällen, Diebstahl, betrügerischen Machenschaften u.ä. wurden. Die Berichte waren auch als »Warnung« gedacht, was sich in der Art und Weise der Darstellung widerspiegelt.

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Das Vorgehen bei der Materialerhebung gewährleistet eine breite Streuung hinsichtlich Alter und sozialer Zusammensetzung der Textproduzenten sowie der Reiseformen und Reisestile. Obwohl es sich inhaltlich nur um einen einzelnen Aspekt der Reisewirklichkeit handelt, lässt das Material gewisse Rückschlüsse auf touristische Grundmuster und Erfahrungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu.

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Wissenschaftliche Erschließung

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Wittich rückt nun diesem Textkonvolut mit zweierlei Instrumentarium zu Leibe, dem der Erzählforschung und dem der kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung, also einer philologischen und einer volkskundlichen Betrachtungsweise, wobei er beide zueinander in Beziehung setzt und damit durchaus in der Tradition der Fachgeschichte(n) steht. Ergänzend zieht er entsprechende psychologische und soziologische Arbeiten heran. Er entwirft eine Typologie nach »Themenbereichen«, in denen das Unglück sich vollzieht, und setzt dieses in einen gesellschaftswissenschaftlichen Deutungsrahmen; er konstatiert und analysiert die Formen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung und die Erzählbausteine und -stereotypen : »Mit dem, was Urlauber bei der Rückkehr von einer Reise erzählen, entwerfen sie ein bestimmtes Weltbild von der Fremde und vom Zustand der Welt.« Dessen Darstellungsmuster werden als Indikatoren von Lebensproblemen und Bewältigungsstrategien gelesen. Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, dass deutsche Urlauber vor allem eine »unkomplizierte, störungsfreie« Reise suchen. Die Irritation durch das unvorhergesehene, bedrohliche Ereignis interpretiert er in erster Linie als Kontrollverlust.

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Angst und Gefahr als
kulturwissenschaftliches Forschungsfeld

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Für die Interpretation der Texte holt Wittich weit aus. Er betrachtet die psychologischen Implikationen seines Themas, »Angst und Gefahr als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld«, und rezipiert und referiert einschlägige Literatur; der Geschichte des Reisens und den Befunden zum Phänomen des modernen Massentourismus widmet er ein ausführliches Kapitel und einen ausführlichen Literaturbericht; auch die Vorprägung bzw. Überformung der Reiseerfahrungen durch die Medien, etwa Zeitungsberichte, populäre Reiseratgeber u.ä., kommt in einem eigenen Abschnitt zur Sprache. So schafft er ein fundiertes Vorverständnis »auf der Höhe der Diskussion« und ein Problembewusstsein beim Leser.

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Freilich steht diese bisweilen ausschweifende Gründlichkeit in einem gewissen Missverhältnis zu Qualität und Interpretation des Materials. Ein Grund mag in dem für Qualifikationsarbeiten nicht untypischen Verlangen liegen, ›alles‹ darzustellen. Doch können sich andererseits die Leser, die einen Einstieg und einen Überblick über das Thema suchen, nur freuen: man wird gründlich, differenziert und wohl raisoniert geleitet. Diese Fülle bleibt jedoch dem zu untersuchenden Textmaterial äußerlich, und man stellt sich die Frage, ob die Wahl gerade dieses Materials so glücklich war; zwar sind dessen Vorteile, die vor allem in seinem repräsentativen Charakter liegen, unbestritten; durch die Engführung der Vorgaben ist es aber in seiner Aussagekraft erheblich reduziert, und man erfährt eigentlich nur, was man ohnehin schon weiß. Denn diese Texte geben nicht mehr her.

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Schreibaufrufe an Leser –
ein problematisches Textkorpus

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Durch die starke thematische und intentionale Vorprägung in den Schreibaufrufen sind die entstandenen Berichte gleichförmig und ohne nennenswerte individuelle Merkmale. Sie lassen wenig persönliche Wahrnehmungs- und Erlebnisweisen erkennen und sind für den Erzählforscher wie den Psychologen recht unergiebig, was noch gefördert wird durch ihre unvollständige Wiedergabe am Ende des Bandes, die oft nur Paraphrase ist. Die erzählforscherische Intention wird so unterlaufen Am ehesten kann ein Tourismuswissenschaftler profitieren. Eben diese Beschaffenheit der Berichte aber hat der Autor nicht wirklich problematisiert. Denn eine solche Betrachtungsweise hätte den Schwerpunkt der Untersuchung verlagert in Richtung einer Fragestellung, die das Warum dieser Eintönigkeit in den Blick nimmt: Die Texte offenbaren auch die weitgehende Normierung des alltäglichen Erzählens; deren Untersuchung ist ein lohnendes Thema für eine Erzählforschung, die die Texte nicht nach ›Elementen‹ zerlegt und sortiert, sondern sie als ›ganze‹, einschließlich ihrer Leerstellen, zur Sprache bringt.

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Vorprägung der Wahrnehmung
und die Gefahr des Erfahrungsverlustes

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Vorprägungen des Wahrnehmens und Erzählens sind an sich nicht neu. Auch die großen Reiseschriftsteller der 18. bis 20. Jahrhunderts sahen und schrieben nicht voraussetzungslos; schon der erwähnte Georg Forster sprach explizit vom »Maaß in unserm Kopfe«, das wir den Gegenständen unserer Wahrnehmung zugrunde legen. Wir haben alle Vor-Geschichten, Vor-Bilder, narrative Muster, mit deren Hilfe wir unsere Weltsicht und unsere große, je eigene Lebensgeschichte formen. Das alltägliche Erzählen fügt die Erlebnisse und Erfahrungen in diese eine Geschichte ein und hat so eine bewältigende und integrierende Funktion, oft auch hinsichtlich des sozialen Umfeldes, vor dem sie sich »bewähren« müssen.

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Schon Forster und Humboldt kannten die Gefahr des Erfahrungsverlustes durch das, was sie »Empfindungslosigkeit« nannten; sie verstanden darunter eine fehlende Reflexion des Reisenden hinsichtlich der Erlebnisse und Eindrücke seiner Reise, die ein Innewerden emotionaler Reaktionen einschloss und durch die die Reise zur ‚Bildung‚ einer Individualität überhaupt erst beitragen konnte. »Empfindungslosigkeit« markiert auf der Seite der Subjekte eine Leerstelle, die nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert, durch ein scheinbar restloses Überziehen der äußeren Welt mit Begriffen entsteht, sondern dann, wenn die Vorprägung der Erfahrung durch Bilder und die gehandelten Identitätskonzepte erdrückend wird und keine Spielräume für Abweichungen lässt. Dann wird in den Reiseerzählungen kein Selbstentwurf erdichtet, sondern Individualität simuliert, wie in jedem Katalog der Tourismusindustrie nachzuvollziehen ist. In der Erfahrung des Unvorhergesehenen scheinen diese Muster noch einmal brüchig zu werden, in der Schilderung dieser Erlebnisse aber wird nicht nur die Vorliebe für die »störungsfreie Ferienreise« deutlich, wie der Autor betont, sondern auch die Sehnsucht nach einer gesteigerten Intensität des Erlebens.



Anmerkungen

Rudolf Schenda: Von Mund zu Ohr. Bausteine zu einer Kulturgeschichte volkstümlichen Erzählens in Europa. Göttingen 1993.   zurück
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen . 2 Bde., 3. Aufl., Frankfurt / M. 1977.    zurück