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Doppelhaus: Der Carl Hanser Verlag

  • Reinhard Wittmann: Der Carl Hanser Verlag 1928-2003. Eine Verlagsgeschichte. Unter Mitarbeit von Christoph Haas. München: Carl Hanser 2005. 391 S. 96, teilw. farb. Abb. Leinen. EUR (D) 42,00.
    ISBN: 3-446-20403-2.
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Mehrere einflussreiche Literaturverlage der Nachkriegszeit beruhen auf einer zweiteiligen Firmenstruktur: Sie wurden parallel zu bestehenden Fachverlagen entwickelt, die, obgleich selbst durchaus nicht immer krisensicher, den laufenden Geschäftsbetrieb und kontinuierliche Umsatzerlöse garantierten. Bei Luchterhand zum Beispiel war das ein 1924 gegründeter Verlag für Recht und Steuern, bei Hanser ein 1928 begonnener technisch-wissenschaftlicher Verlag. Beide Verleger, Eduard Reifferscheid (seit 1933 bei Luchterhand) wie Carl Hanser, waren sich auch darin ähnlich, dass sie auf diese Weise ihre in der Nazizeit unausgelebten literarischen Neigungen zu verwirklichen suchten, nun ohne Zensur, aber auch ohne hinderlichen »Produktionszwang«, also so ökonomisch wie möglich.

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Carl Hanser, geboren 1901, beteiligte sich 1928, nach dem Studium und der Promotion in Philosophie sowie nach einer Buchhandels- und Verlagsausbildung, am Verlag der Deutschen Polytechnischen Gesellschaft, der eine Fachzeitschrift herausgab, und gründete zudem wenige Monate später einen eigenen literarischen Verlag. 1933 stellte er das literarische Programm wieder ein, führte aber den Fachverlag unter seinem Namen weiter. Erst nach Krieg und Nazizeit begann ein neues Literaturprogramm bei Hanser. Man sieht schon: Eine Geschichte des Carl Hanser Verlages erfordert besondere methodologische und organisatorische Vorüberlegungen.

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Der erfahrene Buchhandelshistoriker Reinhard Wittmann 1 hat sich für eine thematische Gliederung seiner Arbeit entschieden, anders hätte er auch der Vielzahl der Verlagsgebiete kaum gerecht werden können. Fünf in sich chronologische Kapitel sind den verschiedenen Gebieten des Literaturverlages von Hanser gewidmet, drei dem Fachverlag. Ein Einleitungskapitel beschreibt die Anfänge des Verlages und die Aufbauzeit bis 1954, ein Schlusskapitel spart nicht mit Bewertungen. So faltet der Verfasser die Verlagsgeschichte in gesonderten Produktionsbereichen auf. Als handelnde Personen neben dem Verleger treten dabei die beauftragten Produktionsleiter auf, Herbert G. Göpfert als erster Leiter des »schöngeistigen« Verlages nach dem Krieg, ab 1969 die beiden Juniorverleger Joachim Spencker für den Fachverlag und Christoph Schlotterer für den Literaturverlag, und nach dessen frühem Tod Michael Krüger.1985 starb Carl Hanser.

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Ausbreitung eines Literaturverlages

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Der Beginn des literarischen Programms von Hanser entspricht noch ganz dem traditionellen Unterfangen eines Liebhaber-Verlegers, der sich dabei, worauf Wittmann im Einführungskapitel hinweist, vom konservativen Münchner Zeitgeist der zwanziger und dreißiger Jahre getragen fühlte. Beginnend mit dem Briefroman Die Liebe des Nikolai Pereslegin von Fedor Stepun entwickelte sich die kurze Phase des »ersten« literarischen Verlages, aber auch die literarische Sozialisation des Verlegers unter den Augen der Stammtischfreunde Georg Britting und Eugen Roth. Mit Curt Hohoff wurde dann mitten im Krieg ein neues literarisches Programm beraten, das bis zu konkreten Anthologie- und Zeitschriften-Projekten (S. 28 – 32) gedieh und reale Ansätze für den Neubeginn des 1946 von der Besatzungsmacht lizenzierten Nachkriegsverlages bot. Das gilt vor allem für Klassikerausgaben. Dieses ebenso zeitgemäße wie vom Verlag leicht zu organisierende Programm, und der nun zu Hanser wechselnde Münchner Bestseller-Autor Eugen Roth gaben dem Literaturverlag genügend Auftrieb, um ihn die Bücherkrise nach der Währungs- und Wirtschaftsreform überstehen zu lassen. Die restaurative Literaturpflege, wie sie in zwei Verlagautoren dieser Jahre, Emil Strauss (*1866) und Gerd Gaiser (*1908), noch einmal Gestalt annahm, machte 1954 einer deutlichen Modernisierung des literarischen Hanser-Verlages Platz: Es war das Gründungsjahr der Zeitschrift »Akzente«, herausgegeben von Walter Höllerer und Hans Bender.

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Bevor diese Linie vom Verfasser weiter verfolgt wird, erscheint als zweites Kapitel die Geschichte des bedeutenden Klassiker-Verlages von Hanser, die von Schlechtas Nietzsche aus dem Jahr 1954 über die umstrittene Schiller-Ausgabe bis zu den großen Goethe- und Lichtenberg-Editionen führt, philologischen Unternehmungen, die alles andere als glatte Geschäfte waren und durch ihre differenzierten Produktionskosten und ihren Organisationsaufwand den Verlag in Atem hielten. Wittmann berücksichtigt dabei die wenig erforschten äußeren Bedingungen dieses Sonder-Marktes, auf dem erst die Buchgemeinschaften, dann die Taschenbuchverlage eine wichtige Multiplikationsaufgabe wahrnahmen, und der 1981 mit der Gründung des Deutschen Klassiker Verlages in heftige Bewegung geriet. Die direkte Beziehung zum zeitgenössischen Verlagsprogramm stellte Elias Canetti her, als er an Göpfert schrieb: »Ich habe mich bei dem blasphemischen Wunsch ertappt, in hundert Jahren ein Hanser Klassiker zu werden« (S. 102).

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So genau, wie Reinhard Wittmann im ersten Kapitel die durchaus zeitgebundene literarische Vorgeschichte darstellte, so detailbeschwingt durchschreitet er nun in den Kapiteln 3 und 4 die schnell wachsende Galerie deutscher und ausländischer Hanser-Autoren von den fünfziger Jahren bis zur Gegenwart – Reinhard Lettau, Botho Strauss, Ludwig Harig, Elias Canetti, Umberto Eco, Lars Gustafsson, Harry Mulisch nur zum Beispiel – und die Jahrzehnte, in denen sich Hanser zum gleichberechtigten Konkurrenten von Fischer, Suhrkamp und Rowohlt, zur Adresse für überwechselnde Autoren wie Gert Hofmann, zum Anbieter internationaler Verlagsrechte und schließlich zum Maßstäbe setzenden, international orientierten, leserfreundlichen und nach wie vor im Familienbesitz befindlichen Publikumsverlag der Bundesrepublik entwickelte. Misserfolge, zahlenmäßig belegt, werden dabei so wenig unterschlagen, wie Autorenkonflikte oder interne Programmauseinandersetzungen (so S. 144 – 147).

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Im fünften Kapitel erzählt Wittmann, sichtlich animiert, die Erfolgsgeschichte des erst 1993 begonnenen Jugendbuchverlags von Hanser. Mit der Qualität von Text, Illustration und Ausstattung eroberte sich der Verlag, zunächst unter der Leitung des einschlägigen Fachmanns Friedbert Stohner, dieses bereits vielfach umkämpfte Marktsegment. Zahlreiche Titel erhielten öffentliche Auszeichnungen, viele erreichten Höchstauflagen. Ein Jahrzehnt nach Beginn des Kinderbuchverlages kann der Chronist in ihm eine tragende Säule des Verlagsprogramms erkennen, die mit sechs Millionen verkaufter Exemplare »Kindern, Jugendlichen und Eltern die Faszination des Mediums Buch vermittelt« (S. 204).

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Als ein anderes Gegengewicht gegen die inhärenten Risiken jeder Belletristik-Produktion betrachten die Publikumsverlage das sogenannte Sachbuch. Bei Hanser entwickelte sich dieses Programm stufenweise, ab 1954 die Monographien-Reihe »Literatur als Kunst«, ab 1968 die kritischen Texte der »Reihe Hanser«, nicht zufällig fünf Jahre nach der »edition suhrkamp« und zwei Jahre vor der »Sammlung Luchterhand«, danach die sehr anspruchvolle Reihe »Hanser Anthropologie«. Autoren wie Wolf Lepenies, Hartmut v. Hentig, Alfred Grosser, Eric Hobsbawm und Wolfgang Schivelbusch gaben dem Sachbuchprogramm mit ihren Büchern eine breite Basis und machten es zum gleichberechtigten Pendant des belletristischen Programms.

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Konstruktion eines Fachverlages

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Reinhard Wittmann hat im einleitenden Kapitel seines Buches auch die Frühgeschichte des Fachverlages dargestellt, dessen technische Zeitschrift, ab 1933 »Werkstatt und Betrieb«, und dessen Literatur zur Metallbearbeitung und Werkstoffkunde mit ihren häufigen Nachauflagen das Unternehmen relativ unangefochten durch die widrigen Zeiten und den Krieg brachte. Die weitere, zeitweise stürmische Entwicklung des inzwischen »weltweit profilierten und auf mehreren Gebieten marktführenden Fachverlages« (S. 7) wird in drei Kapitel beschrieben, die an die Geschichte des »schöngeistigen« Verlages anschließen, und die angesichts des immensen Materials vom Verfasser ähnlich strukturiert geplant, dann aber vom Haus aus mit sehr selbstbewussten Produktinformationen erweitert wurden.

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Die Darstellung beginnt mit einem Bekenntnis zur kulturellen und damit verlagsgeschichtlichen Relevanz von Fachverlagen. Das ist angesichts der überproportionalen öffentlichen und akademischen Aufmerksamkeit, die Publikumsverlage gemeinhin genießen, nicht selbstverständlich. Als Hanser nach 1946 wieder begann, konnte er für den Fachverlag gleich drei neue Gebiete – Kunststoffe, Naturwissenschaften und Zahnmedizin – vom Verlag J. F. Lehmann übernehmen, in dem er einst gelernt hatte, und dem jetzt mit Gründen die Lizenz verweigert wurde. Die fehlende eigene Sachkompetenz in technischen und naturwissenschaftlichen Feldern ersetzte er weiterhin dadurch, dass er die Herausgeber der betreffenden Fachzeitschriften als Berater für den Buchverlag gewann. Seine verlegerische Expertise war dagegen unerlässlich, nicht nur bei Großunternehmen wie dem über Jahre erscheinenden zehnbändigen Handbuch der Fertigungstechnik oder der 19-bändigen Reihe »Kunststoff-Verarbeitung«. Anders als bei der Belletristik war hier ein enger und direkter Verkehr des Verlages mit den Zielgruppen, den Hochschulen, Betrieben und Verbänden erforderlich, anders auch gestaltete sich die Variabilität (und Internationalisierung) der Fachinformationen. Waren anfangs Bücher und Zeitschriften die einzigen Publikationsformen, so kamen Loseblattwerke, digitale Datenträger, Online-Services und Seminare hinzu. Das alles führte im Jahr 2003 zu einer Jahresproduktion von annähernd 200 Titeln und einem Bestand von 23 Fachzeitschriften.

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Die Details entziehen sich dem Referat. Seit der monumentalen Frühgeschichte des wissenschaftlichen Springer-Verlages von Heinz Sarkowski 2 ist offenkundig, welch beträchtliche Beiträge zur Technik- und Wissenschaftsgeschichte in Verlagsarchiven beschlossen sind, aber auch, welche Anstrengungen nötig sind, sie für diesen Zweck objektiv, das heißt nicht allein in der Firmenperspektive zu bearbeiten.

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Innenansichten

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Wenn Reinhard Wittmann in seinem so benannten Schlusskapitel die innere Entwicklung des Verlages zusammenfassend beschreibt, dann hat er einschränkend schon im Vorwort gesagt, dass sein Vorgehen eher an den Autorenbeziehungen der Hanser Verlage orientiert ist, als an dem »unternehmenshistorischen Aspekt« (S. 8). Das hat zum Teil mit den Quellen zu tun, die, wie in gewerblichen Unternehmen fast regelmäßig, aus umfangreichen, aber thematisch ungeordneten und gelegentlich lückenhaften Registraturen bestehen, während »betriebswirtschaftliche Datenreihen« nicht zugänglich waren, und das wiederum hat mit dem Wesen eines tätigen Familienbetriebs zu tun, der keine Publikationspflicht kennt und bis 1969 als Einzelfirma geführt wurde. Dabei wäre der Leser nicht nur an betriebswirtschaftlichen Datenreihen interessiert. Auch die zahlreichen Beteiligungen, Kooperationen und Zukäufe des Literatur- und des Fachverlages, die Aufspaltung von Kapitaleinsatz, Kostenmanagement und Markenbildung durch zwei unterschiedlich operierende Verlagsteile, das Anzeigengeschäft oder die Organisation der Auslieferung können genauere Aufschlüsse über die Entwicklung des als »Zweispartenmodell« so interessanten und insgesamt so bedeutenden Unternehmens bringen. Hier hätte man gerne mehr und Genaueres erfahren.

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Hingegen findet sich in den »Innenansichten« eine gute Übersicht über die allgemeine Entwicklung des Unternehmens und eine anerkennende Charakterisierung seines Gründers. Schließlich wird hier die Leitungsstruktur und die aktuelle Situation des Verlages im Jahr 2003, dem Jahr seines 75. Jubiläums, beschrieben. In diesem Datum hat allerdings auch ein Anlass zu grundsätzlichen methodischen Klärungen bei der Planung des Buches gelegen. Offenbar waren »Selbstbild und Außenansicht« des heutigen Verlages nicht immer zur Deckung zu bringen, und die Grenzen zwischen Verlagsgeschichte und Firmenfestschrift für den Fachverlag (siehe oben) nicht eindeutig zu bestimmen. Der Verfasser als Verlagshistoriker bestand denn auch darauf, diese Grenze in aller Deutlichkeit zu bezeichnen (Vorwort, S. 9). 3

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Unerlässlich ist das detaillierte Namenregister des Bandes, hochwillkommen die reichhaltige, sinnvolle und teilweise farbige Illustration. Zu begrüßen ist aber vor allem die Verbindung von dokumentarischer Gründlichkeit und erfreulicher Lesbarkeit, mit der Reinhard Wittmann eine schwierige Aufgabe gelöst hat. Seine Arbeit sollte nicht zuletzt die Erforschung weiterer prominenter Verlagsgeschichten des 20. Jahrhunderts ermutigen.



Anmerkungen

Seine Gesamtbibliographie jetzt in: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hg. Monika Estermann, Ernst Fischer und Ute Schneider. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 591 – 606 (Hermann Staub).   zurück
Der Springer-Verlag. Stationen seiner Geschichte. Teil I: 1842 – 1945. Verfasst von Heinz Sarkowski. Berlin: Springer 1992. Der Verfasser schreibt:
Wissenschaftler haben von der Entwicklung ihres Faches in den letzten hundert Jahren zumeist eine ungefähre Vorstellung [...] Weitgehend unerforscht ist hingegen die Geschichte der Beziehungen zwischen dem Wissenschaftsverleger und seinen Autoren. (Ebd. S. XV)
Zwei Jahre später erschien Teil II: 1945 – 1992. Verfasst von Heinz Götze. Berlin: Springer 1994 – als Firmenschrift.   zurück
Der Verfasser hat sich vom Muster der Firmenschrift schon früher frei gehalten , vgl. Reinhard Wittmann, Ein Verlag und seine Geschichte. Dreihundert Jahre J. B. Metzler Stuttgart. Stuttgart: Metzler 1982.   zurück