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Bohrungen im literarischen Feld

Unter Rückgriff auf Bourdieus Kultursoziologie untersucht Christine Magerski den Paradigmenwechsel in der Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts

  • Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 101) Tübingen: Max Niemeyer 2004. VII, 177 S. Kartoniert. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 3-484-35101-2.
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Bourdieus Konzeption
des literarischen Feldes

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Die vorliegende Studie verfolgt zwei Ziele. Erstens möchte sie die von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu stammende Theorie der Entstehung des literarischen Feldes auf die deutsche Literatur übertragen. Bourdieu hat seine Theorie in Die Regeln der Kunst am Beispiel der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts entwickelt. 1 Zweitens soll gezeigt werden, »[...] dass die Entwicklung des Feldes, gerade weil sie ›in Richtung auf erhöhte Reflexivität‹ verläuft, selbst jene Anfänge einer literatursoziologischen Betrachtung provozierte, deren vorläufigen und zweifelsfrei systematischen Abschluss die Theorie des literarischen Feldes bildet« (S. 3). Mit anderen Worten: Es soll der Nachweis erbracht werden, dass die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur die Literatur revolutionierte, sondern auch deren literatursoziologische Betrachtung provozierte.

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Im ersten Teil der Arbeit wird die Feldtheorie Bourdieus erläutert. Der zweite Teil, »Literaturkritische Reflexionen auf die Moderne« betitelt, skizziert die durch naturalistische Schreibweisen initiierten Veränderungen. Teil drei nennt sich »Die Anfänge der Literatursoziologie in Deutschland«, er führt die Überlegungen der ersten beiden Teile zusammen und entwickelt sie weiter. Die wichtigsten Gewährsleute der Studie sind, neben Bourdieu, Georg Lukács und Samuel Lublinski, in deren literaturtheoretischen und literarhistorischen Werken bereits erste Strukturmerkmale des veränderten Feldes erkennbar werden.

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Bourdieus Feldtheorie bietet zweifellos wichtige und bisher noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten, die kontextuellen Voraussetzungen von Literaturproduktion und -rezeption besser verstehen zu lernen. Auch wenn sich Bourdieu selbst von Michel Foucaults Diskursanalyse distanziert hat, so teilt er mit ihm doch die Annahme, dass Literatur in einem komplexen Prozess entsteht, der durch Machtbeziehungen strukturiert wird. In Bourdieus Worten:

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Das Feld der Macht ist der Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichsten Feldern (insbesondere dem ökonomischen und dem kulturellen) zu besetzen. 2
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Für Bourdieu ist klar, dass die entscheidende Veränderung im kulturellen Feld ein ›Autonomisierungsprozess‹ war, der Kultur »zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt« werden ließ. 3 Das »Produktionsfeld« wird zum »Glaubensuniversum«. 4 Es kommt, in Christine Magerskis Worten, zu einer »fundamentale[n] und unumkehrbare[n] Trennung zwischen literarischer Moderne und bürgerlich-traditionellen Literaturvorstellungen« (S. 116). Literatur und Trivialliteratur werden fortan scharf unterschieden, da Literatur ein Eigenwert zugeschrieben wird, der nicht mit materiellem Erfolg, sondern vielmehr mit materieller Erfolglosigkeit unter Beweis gestellt werden kann. Letztere steht in Wechselwirkung mit dem Subversiven der Literatur. Der Verstoß gegen gesellschaftliche Normen wird zur Voraussetzung jedes Kunstwerks, das sich innerhalb des autonomen Feldes Anerkennung verschaffen will. Es kommt auf diese Weise zu einem geänderten Verständnis von Avantgarde-Kunst und -Literatur.

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Die Situation in Deutschland

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Für Magerski hat dieser Umbau des Feldes in Deutschland nicht, wie es Bourdieu für Frankreich postuliert, Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt, sondern mit dem Aufstieg und Fall der naturalistischen Bewegung in den 1880er und frühen 1890er Jahren. Hier wurde zunächst (etwa in dem berühmten Kunstgesetz von Arno Holz, vgl. S. 64) die Identität von Realität und Kunst angestrebt, dies aber vor allem, weil damit die Achillesferse der etablierten Kunst- und Literaturauffassung getroffen werden konnte. Magerski weist zu Recht darauf hin, dass die Autoren des Naturalismus, von Holz bis Hauptmann, nicht dem Vierten Stand, sondern dem Bürgertum entstammten, dass also die Voraussetzungen einer Schilderung sozialer Realität von vornherein durch Herkunft und Bildung eingeschränkt waren. Erst als sich (man möge mir den Kalauer verzeihen) der Holz-Weg als Holzweg herausstellte, folgte der radikale Bruch. Autoren des Symbolismus, etwa der George-Kreis, definierten Literatur nurmehr über die Form. Die Stile vervielfältigten sich, doch allen war gemeinsam, dass sie sich als Avantgarde verstanden und vom etablierten Kulturbetrieb absetzen wollten.

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Diese Entwicklung deutet sich an, wenn junge Autoren wie Heinrich und Julius Hart nach Berlin kommen und eigene Zeitschriften gründen, um die verkrusteten Strukturen des Literaturbetriebs aufzubrechen. Schon der Name der Kritischen Waffengänge ist Programm (vgl. S. 48 ff.). Divergierende Literaturauffassungen etablieren sich und finden ›ihr‹ Publikum. So kann Karl Bleibtreus Revolution der Literatur, auch ohne »systematischen und programmatischen Charakter« (S. 55), ein überraschend großes Echo erzielen. Die aus Sicht etablierter Kritiker skandalösen Aufführungen der Freien Bühne vollziehen mit Paukenschlägen die Ablösung des bürgerlichen Realismus, ohne das entstehende Vakuum mit einer neuen verbindlichen Literaturauffassung füllen zu können. Magerski stellt fest:

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Je mehr sich dieser Spannungsraum kristallisierte und je enger die wechselseitige Bezugnahme der konkurrierenden Positionen wurde, um so stärker band sich das Interesse der Literaten an ihr eigenes Universum, d.h. an die Welt der Literatur. Mit der schrittweisen Abkopplung von externen Wert- und Normvorstellungen verschob sich auch in der Berliner Moderne der Schwerpunkt auf den spezifisch künstlerischen Wert und damit gleichsam auf die Frage der Formgebung. Der spezifische Wert der Form wird dabei um so höher veranschlagt, je stärker die jeweilige Positionierung mit der Außenwelt bricht; ein Prozess, durch den sich das literarische Feld zwangsläufig immer weiter von den historischen und sozialen Bedingungen entfernt, denen es doch die Möglichkeit zum Bruch und folglich zur Eroberung eines selbst zu definierenden Freiraums verdankt. (S. 89)
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Magerski macht deutlich, dass der skizzierte Prozess zugleich von vielen Literaten wie Kritikern und Literarhistorikern reflektiert wird. Hier setzt sie mit ihrer (vor allem am Beispiel von Schriften Samuel Lublinskis entfalteten, vgl. S. 95 ff.) These an, dass sich zugleich mit der neuen Literaturauffassung auch eine soziologische Betrachtungsweise von Literatur zu etablieren beginnt, ohne dass es möglich sein wird, das angestrebte Ziel zu erreichen, »die Situation des modernen Menschen innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Einzelinteresse und gesellschaftlicher Verantwortung zu klären« (S. 97). Zu viel hat sich verändert: »Die Epoche des problematischen Individuums vermag dem Leben keine Form bzw. keinen verbindlichen Stil mehr zu geben, weshalb auch die Formen der Kunst notwendig selbst problematisch, sprich offen werden müssen« (S. 160).

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Offene Fragen

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Trotz der skizzierten Leistungen der Arbeit bleiben viele Fragen offen, sicher auch wegen der exemplarischen Vorgehensweise und der Kürze. Nachfolgend einige Beispiele. Der Begriff der Moderne hätte zumindest ansatzweise diskutiert werden können. Dabei wäre aufgefallen, dass es schon vor dem postulierten Zeitraum erfolgreiche Versuche gab, der literarischen Form das Vorrecht über den Inhalt einzuräumen – man denke an Heinrich Heines großen Richtungsstreit mit Ludwig Börne. 5 Und noch davor war es dem damals gänzlich unbekannten, jungen Autor Wilhelm Hauff möglich, den angesehenen H. Clauren (Pseudonym für Carl Heun) vom literarischen Thron zu stoßen, weil Hauff nachweisen konnte, dass der angesehene Claurensche Stil nichts anderes war als Maskerade für heteronome Inhalte – vor allem erotischer Natur. 6

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Die größte Lücke ist, dass auf die beiden wichtigsten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Paradigmenwechsels nicht hingewiesen wird, die man an zwei Namen festmachen kann: Darwin und Freud. In Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse hat Freud die Reihe mit dem Namen Kopernikus eröffnet, der die Vorstellung einer »zentrale[n] Stellung der Erde« als Mythos entlarvte. 7 Selbstbewusst, aber durchaus mit Berechtigung hat Freud die »dritte Kränkung« durch die Psychoanalyse als die für den Menschen schlimmste bezeichnet, 8 denn sie bedeutet, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«. 9 Doch weder Darwin noch Freud, die als Begründer einer neuen Sicht auf menschliche Bedingtheiten und Abhängigkeiten gelten können, werden in der vorliegenden Studie erwähnt. Ohne sie kann aber die radikale Veränderung von einer Literatur, die Gesellschaft als erfahr- und darstellbar betrachtet, hin zu einer fragmentarischen Weltsicht und subjektproblematischen Textkonzeption nicht hinreichend erklärt werden.

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Von Bourdieu sind vier Schriften herangezogen worden. Da seine Feldtheorie zum »methodologische[n] Rahmen« (S. 6) erklärt wird, hätten andere Texte ebenfalls berücksichtigt werden können, insbesondere Bourdieus umfangreichstes und grundlegendes Werk Die feinen Unterschiede, das programmatisch so beginnt: »Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt diese über ihre eigene Logik.« 10 Darin entwickelt Bourdieu den Rahmen späterer Arbeiten wie Die Regeln der Kunst und er erklärt die Voraussetzungen seiner Habitus-Theorie, die zum besseren Verständnis des Verhaltens naturalistischer oder symbolistischer Autoren hätte herangezogen werden können.

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Angesprochen wird die Rolle der »Literaturkritik als Verbindungsglied zwischen dem Feld literarischer Produktion und seiner soziologischen Erfassung« (S. 43), ohne dass der Begriff ›Literaturkritik‹ genauer geklärt oder näher an Beispielen erläutert würde. Natürlich kann man, etwa mit Norbert Mecklenburg, 11 jede kritische Beschäftigung mit Literatur unter Literaturkritik verbuchen – aber ist das hier gemeint?

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Letztlich fehlt es an der kritischen Perspektive auf den beobachteten Paradigmenwechsel. Bourdieu hat in wünschenswerter Klarheit für den von nun an kontinuierlichen Wechsel von Avantgarde zu Avantgarde festgestellt: »Auf die anfängliche Askese- und Verzichtsphase, die Phase der Akkumulation symbolischen Kapitals, folgt eine Phase der Verwertung dieses Kapitals und des Erwerbs weltlicher Profite und dank ihrer ein Wandel in der Lebensweise, der den Verlust symbolischen Kapitals mit sich bringen kann und den Erfolg konkurrierender Häresien begünstigt.« 12 Welche Konsequenzen daraus für die Literaturgeschichtsschreibung wie für die Beschreibung des literarischen Feldes der Gegenwart zu ziehen sind, bleibt weiterhin offen.

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Fazit

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Die Sprache der Arbeit gibt manchmal Rätsel auf, vor allem dann, wenn Schachtelsätze dominieren. Für das Problem der Verständlichkeit hier ein vergleichsweise kurzes Beispiel: »Das von Lukács selbst analysierte Wechselverhältnis zwischen sozialen und ästhetischen Momenten gefriert an diesem Punkt gewissermaßen zugunsten der zum einzig Norm gebenden Prinzip der Gesellschaft stilisierten dramatischen Form« (S. 162). Angesichts relativ zahlreicher Fehler wäre zudem ein weiterer Korrekturdurchgang hilfreich gewesen.

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In der Summe handelt es sich zweifellos um eine kenntnisreiche und zum Verständnis der Entwicklung des literarischen Feldes um 1900 beitragende Studie. Sie ist nicht zur Einführung konzipiert, 13 sondern richtet sich an jene Forscher/innen, die sich mit Literatursoziologie und / oder der Literatur des berücksichtigten Zeitraums näher beschäftigen. Die Studie zeigt, wie fruchtbar es sein kann, sich auf Bourdieu und auch überhaupt auf einen soziologischen Blick auf Literatur einzulassen. Angesichts der skizzierten Knappheit der Arbeit bleibt allerdings zu wünschen, dass sich die Verfasserin vielleicht an anderer Stelle darum bemüht, den ertragreichen punktuellen Bohrungen im Feld einige weiter ausgreifende Spatenstiche folgen zu lassen.



Anmerkungen

Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs u. Achim Russer (stw 1539) Frankfurt / Main: Suhrkamp 2001.   zurück
Ebd., S. 342.   zurück
Ebd., S. 362.   zurück
Vgl. Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Ludwig Börne und Heinrich Heine: Ein deutsches Zerwürfnis. Frankfurt / Main: Eichborn 1986.   zurück
Vgl. H. Clauren: Mimili / Wilhelm Hauff: Kontrovers-Predigt über H. Clauren und den »Mann im Monde«. Hg. von Joachim Schöberl (RUB 2055) Stuttgart: Reclam 1984.   zurück
Sigmund Freud: Werke aus den Jahren 1917–1920 (Gesammelte Werke, Band 12) Frankfurt / Main: Fischer 1999, S. 7.   zurück
Ebd., S. 7.   zurück
Ebd., S. 11.   zurück
10 
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer (stw Sonderausg.) Frankfurt / Main: Suhrkamp 2003, S. 17.   zurück
11 
Vgl. Norbert Mecklenburg: Wertung und Kritik als praktische Aufgaben der Literaturwissenschaft. In: Peter Gebhardt (Hg.): Literaturkritik und literarische Wertung (Wege der Forschung 334) Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1980, S. 388–411.   zurück
12 
Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 405.   zurück
13 
Fundiert und neu: Dorothee Kimmich / Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende (Einführungen Germanistik) Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2006.   zurück