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»Was Schrift 'ist', zeigt sich in ihrem Gebrauch«

Eine lautsprachenneutrale Revision
der Kulturtechnik Schrift

  • Gernot Grube / Werner Kogge / Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. (Kulturtechnik) München: Wilhelm Fink 2005. 472 S. 77 s/w, 17 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-7705-4190-1.
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Schon im ersten Satz des Eingangsbeitrags von Sybille Krämer (»›Operationsraum Schrift‹: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift«) wird eine veränderte Betrachtungsweise der Schrift angekündigt. Ein »Perspektivenwechsel« (S. 23) also, dessen Absolutheitsanspruch jedoch schon im nächsten Satz relativiert wird – zu Recht, denn der vorliegende Sammelband 1 leistet keine völlige Neuorientierung, wie es der Begriff des Perspektivenwechsels suggeriert. Er stellt vielmehr eine verdienstvolle und beachtenswerte Bündelung und Fortführung mehrerer Ansätze der letzten Jahre dar 2 , die auf eine längst fällige Revision des Schriftbegriffs und -verständnisses zielen und lange Zeit vernachlässigte Phänomene des Schriftgebrauchs in Mathematik, Musik, Logik, Naturwissenschaft, Tanz, Diagrammatik, Computerprogrammierung und Literatur in den Blick nehmen.

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Positionierung im Dazwischen

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Alle 21 Originalbeiträge des Bandes vereint die fundamentale Absage an das traditionelle phonographische Verständnis der Schrift als aufgeschriebene Sprache. Am deutlichsten wird dies in der vernichtenden Kritik, die Roy Harris der traditionellen, »orthodoxen« Schrifttheorie und dem ihr zugrunde liegenden phonetischen Dogma in seinem Beitrag »Schrift und linguistische Theorie« zukommen lässt. Das Primat der Rede, dessen prominentester Verfechter Ferdinand de Saussure war, sei in der Sprachwissenschaft nie theoretisch begründet und nicht als Axiom behandelt worden, wie es wissenschaftlich redlich gewesen wäre. Diese Unfähigkeit und Weigerung der Linguistik des 20. Jahrhunderts, das Problem der Schrift anzugehen, sei Ursache ihrer grundsätzlichen Schwäche, denn ohne ein Studium der Schrift könne Sprache nicht verstanden werden.

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Im Gegensatz zu ähnlichen kritischen Studien von vor einigen Jahren bedarf ein solch lautsprachenneutraler Schriftansatz heutzutage kaum noch der Rechtfertigung. Zugleich bleibt im vorliegenden Band nicht unreflektiert, dass natürlich auch dieser Ansatz nur eine begrenzte Perspektive bietet, die spätestens mit der weiteren Evolution unserer Schriftpraktiken überschritten werden wird, wie Sybille Krämer prognostiziert (vgl. S. 53).

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Auf der anderen Seite grenzen sich viele Beiträge – implizit oder explizit – vom weiten dekonstruktivistischen Schriftbegriff und der aus ihm folgenden Universalisierung der Schrift ab (vgl. insb. Werner Kogges Beitrag »Erschriebene Denkräume. Grammatologie in der Perspektive einer Philosophie der Praxis«). Jacques Derrida ist es zwar zu verdanken, dass die Schrift zu einem eigenständigen philosophischen Thema wurde und ihr gegenüber der Sprache sogar eine Vorgängigkeit zugesprochen wurde, doch war dies auch der Moment, in dem Schrift aus der Diskussion schon wieder verschwand, wie Werner Kogge pointiert und provokant bemerkt (vgl. S. 137). Denn nach Derrida beruht Schrift auf der immateriellen Differenz zwischen materiellen Signifikanten. Doch sei dies eine Definition, die nicht schriftspezifisch ist, sondern auf alle Symbolsysteme, auf alles Zeichenhafte zutrifft. Eine solche Totalisierung des systemischen und Ausblendung des aktualen und materiellen Aspekts von Schrift verhindere nun aber den Zugriff auf Schrift als spezifische und eigenständige Kulturtechnik, deren Erfassung sich der vorliegende Band doch gerade zum Ziel gesetzt hat. 3

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Trotz dieser Polemik gegen zwei wirkungsmächtige Schriftdiskurse entgeht der Band der Gefahr starrer Gegenüberstellungen. Die Beiträge hüten sich wohltuend vor Universalisierungen, Dichotomien und Hierarchisierungen und siedeln sich und die untersuchten Phänomene eher in den Zwischenräumen einer Schrift als Hybrid an. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Ludwig Jäger (»Versuch über den Ort der Schrift. Die Geburt der Schrift aus dem Geist der Rede«). Dieser redet keineswegs der die Literalitätstheorie prägenden These das Wort, dass die Rede der Schrift in Bezug auf ihre genuinen kognitiven Leistungen unterlegen sei. Stattdessen sucht er unter Verweis auf Ergebnisse der jüngeren ethnologischen Gesprächsforschung den systematischen Ort der Schrift in der Rede zu bestimmen und definiert die Schrift als Fortsetzung der Rede mit anderen Mitteln. Eine ähnlich vorsichtige Positionierung jenseits von Absolutierungen kommt auch in den drei Formulierungen zum Ausdruck, mit denen Sybille Krämer eingangs einzufangen sucht, wie die in den Beiträgen diskutierten Arten des Schriftgebrauchs »die Präsuppositionen des sprachzentrierten Schriftbegriffs« (S. 28) unterlaufen: Nach dem lautsprachenneutralen Schriftgebrauch sei Schrift nämlich »nicht nur Sprache, sondern auch Bild« (S. 28), »nicht nur Zeichen, auch Technik« (S. 29), »nicht nur Kommunikation, auch Kognition« (S. 30) und nicht nur »transparentes Fenster des logos, [...] [auch] ›opaker‹ Operationsraum« (S. 31).

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Triadisches Spannungsfeld

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Damit ist das bereits im Untertitel implizierte theoretische Spannungsfeld skizziert, innerhalb dessen das Spezifische der Schrift ausgelotet wird. Dabei geht es weniger um die Bestimmung einer kategorialen Schriftlichkeit als vielmehr um die konkreten Erscheinungsformen von Schrift und damit schließlich auch und vor allem um die Etablierung der Schrift als eigenständige Kulturtechnik, denn: »Was Schrift ›ist‹, zeigt sich in ihrem Gebrauch« (Krämer, S. 52).

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Konsens aller Beiträge ist es, dass sich die Kulturtechnik Schrift insbesondere durch die Wechselwirkung von Wahrnehmbarkeit und Operationalisierbarkeit, in anderen Worten: durch ihr spezifisches aisthetisches und operatives Potential auszeichnet. Kulturtechnik Schrift meint also den spezifischen Operationsraum ästhetischen und kognitiven Handelns, der eingelassen ist in ein Bedingungsverhältnis mit den Eckpunkten der Referentialität, der Operationalität und der aisthetischen Präsenz.

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Wie man sich dieses Zusammenspiel vorzustellen habe, wird gleich eingangs, gewissermaßen en passant, in einer »Kleinen Kosmologie der Beiträge) zum Schriftbegriff« (S. 20f) ausgeführt, die von den Herausgebern Gernot Grube und Werner Kogge zwischen die Einführungsworte (»Zur Einleitung: Was ist Schrift?«) und den ersten Beitrag geschaltet wurde. Diagrammatisch wird hier versucht, die Spannweite der kommenden Beiträge zu konturieren und sie sowohl zueinander als auch zu Polen wie Sprache, Bild, Maschine, Schrift und Schreibhandlung in Beziehung zu setzen. In Ergänzung zum Inhaltsverzeichnis, das nach bewährtem Usus eine eher traditionell gehaltene Dreiteilung des Bandes in die Abteilungen »Schrifttheorien«, »exemplarische Studien« und »kulturgeschichtliche Betrachtungen« vornimmt, wird in dieser zusätzlichen Einleitungspassage also das Potential der Schrift erprobt, Ordnungszusammenhänge zum Vorschein zu bringen. 4 Wie Christian Stetter in seinem Beitrag »Bild, Diagramm, Schrift« ausführt, bildet das Diagramm ein fast schon klassisch zu nennendes Beispiel für dieses Potential, das eben auf dem der Kulturtechnik Schrift eigenen Nexus von Referentialität, Operationalität und Aisthesis gründet. Im Diagramm wird die Schrift über ihre bloße Referentialität hinausgeführt und zum Operationsraum erweitert, denn Schrift wirkt hier auch als eine der Aisthesis zugängliche Gestaltformation, die die gedankliche Organisation des Buches kartographiert und so epistemische Zusammenhänge generiert.

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Wie es die diagrammatische Kosmologie veranschaulicht und die einzelnen Beiträge ausführen, kann in den spezifischen Gebrauchsformen der Schrift jeder dieser drei Aspekte bis zum Äußersten ausgereizt, aber auch völlig ausgeblendet oder aber mit anderen kombiniert werden. Die Faszination und wohl auch die »Wirkmächtigkeit der Kulturtechnik Schrift« liegen offenbar darin, »durch den Spielraum, den die drei Aspekte gewähren, immer wieder neue interessante Grenzfälle zu erproben und neue Praktiken zu erzeugen« (so die Herausgeber, S. 17).

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Das schriftliche Rechnen
als Schlüssel zum Operationsraum Schrift

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Im Vorgriff auf die weiteren Beiträge des Bandes skizziert Sybille Krämer den Operationsraum Schrift und systematisiert die verschiedenen Formen des operativen Umgangs mit Schrift in einer Typologie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wie schon in früheren Arbeiten Krämers dient auch hier das Beispiel der Zahlen als Beweis dafür, dass die »Exteriorität der Schrift [...] nicht nur der dialogischen ›zerdehnten‹ Verständigung, sondern auch dem monologischen Problemelösen [dient]« (S. 31). Die Autorin erklärt ihre Vorliebe für das in gewisser Weise triviale Beispiel des schriftlichen Rechnens damit, dass dieses als Schlüssel verstanden werden kann: »[...] unsere Vermutung ist [...], dass, was in diesem Schriftgebrauch unverhüllt zutage tritt, für alle Formen des Umgangs mit Schrift (allerdings in graduell je unterschiedlichem Maße) Gültigkeit hat« (ebd., Hervorhebung im Original).

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Dieter Mersch vertieft in seinem Beitrag die Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Rechnen und stellt »[d]ie Geburt der Mathematik aus der Struktur der Schrift« (so der Titel des Aufsatzes) heraus, beruhe diese doch ebenfalls auf einer Ordnung von Differenzen. Im Unterschied zur Alphabetschrift schließen mathematisch-logische Skripturen aber jegliche iterative Alteration aus – vielmehr ist ihre eineindeutige und widerspruchsfreie Definition essentiell. Zudem kommt es nirgends auf ihre Referenz an, stattdessen steht die Syntax als formale Relation der Zeichen untereinander im Vordergrund.

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Die Autooperativität des Computers
als neue Spielart im Operationsraum Schrift

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Eine seiner Meinung nach völlig neuartige Spielart des Umgangs mit Schrift entdeckt Gernot Grube in der dem Computer eigenen Autooperativität. In seinem anregenden, wenn auch mitunter zu Wiederholungen neigenden Artikel »Autooperative Schrift – und eine Kritik der Hypertexttheorie« schließt Grube nur auf den ersten Blick an die weit verbreitete These an, dass das neue Medium des Computers die Kulturtechniken geändert habe. Während diese Aussage in der Regel vorrangig die veränderten Rezeptions- und Produktionsbedingungen meint, untersucht hingegen Grube, ob das technische Medium nicht vielmehr einen neuen, nämlich autooperativen Schrifttypus hervorgebracht habe. Dieser lässt sich in zweierlei Hinsicht vom referentiellen und vom operativen Schrifttyp abgrenzen: Er ist auf die selbsttätige Operativität einer Maschine angewiesen und gründet auf (re)agierenden Zeichensystemen. Charakteristisch sei die Trennung von operativer Ebene und Erscheinungsebene der Schrift und von Deklaration und Exekution: Der Schreiber deklariert die Zeichen nur noch, die Maschine verarbeitet sie und führt sie aus. Grube verdeutlicht diesen Aspekt am Beispiel des Links in einem Hypertext, der sowohl für den Leser als auch für die Maschine geschrieben ist, welche die Verknüpfung zweier Texte selbsttätig realisiert. Der Link ist damit zwar immer noch Verweis, darüber hinaus aber auch und vor allem ein in den Text eingeschriebener und zugleich den Text in Bewegung versetzender Mechanismus. Es handele sich demnach keineswegs – wie häufig landläufig angenommen – um ein bloßes Gemisch aus alphabetischem Code und Programmiercode, sondern um eine funktional angereicherte Schrift, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, von einem neuen Schrifttypus zu sprechen.

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»Erschriebene Denkräume«

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In den Beiträgen von Werner Kogge und Rainer Totzke wird das operative Potential der Schrift mit der ikonographischen Dimension verbunden und an bestechenden Beispielen demonstriert, wie Schrift einen Denkraum eröffnen, formieren und abbilden kann.

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Rainer Totzke eröffnet aus dieser Perspektive mit dem Beitrag »Logik, Metaphysik und Gänsefüßchen. Derridas Dekonstruktion und der operative Raum der Schrift« einen ungewöhnlichen Zugang zu den Schriften Jacques Derridas und zeigt, wie Schrifttheorie und Schriftpraxis zusammenfallen, wenn Derrida in seinen Texten mit den schriftspezifischen Darstellungsformen experimentiert. Eine herausgehobene Rolle spielen dabei diejenigen Verfahren, mit deren Hilfe der Schreiber »(problematische) Wörter (Begriffe) benutzen und zugleich umnutzen und in dieser Be- und Umnutzung sichtbar machen [kann]« (S. 171, Hervorhebungen im Original). Auffällig sind insbesondere die ungewöhnliche Anmerkungspraxis, die eigenwillige Orthographie (man denke nur an den Begriff der différance), die Hypertrophie von Kursivsetzungen, Durchstreichungen und Anführungszeichen. Diese Aufmerksamkeit für die Semiotik der Textgestalt trage in sich einen dekonstruktivistischen Kern, denn sie verdeutliche »schriftbildlich die komplexen Operationen der Dekonstruktion: das simultane Zitieren, Distanzieren, Ironisieren und Transformieren« (S. 185).

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Werner Kogge stützt sich in seiner (bereits vorher genannten) Analyse »erschriebene[r] Denkräume« (S. 137) auf Wolfgang Raible, der das aus der Schreibprozessforschung stammende Konzept des epistemischen Schreibens für die Schriftforschung produktiv gemacht hat. 5 Da Verschriftlichung immer auch Vergegenständlichung bedeutet und damit die Möglichkeit zur Exteriorisierung und Distanzierung beinhaltet, haben im Schreiben »so grundsätzliche Erfahrungen wie das Ringen um Formulierungen, das überraschende Sehen von Zusammenhängen, das Umformen nach einer Ahnung, das Scheitern einer Komposition und viele mehr, die alles andere als maschinenhaft und logisch eindeutig verlaufen, ihren Ort« (S. 139). An so unterschiedlichen Beispielen wie den Notizblättern Ludwig Wittgensteins und Ernst Machs unter besonderer Berücksichtigung der Interpunktion, aber auch am Beispiel der Geschichte der Schreibung chemischer Formeln und der Tanznotationen – eine sowohl in der Tanz- als auch in der Schriftforschung 6 arg vernachlässigte Schriftpraxis –, zeigt Kogge absolut überzeugend, wie die Schrift zum epistemologischen Werkzeug wird. All diese Schriftbilder stellen systematisch sowohl das Repertoire der Einzelelemente und ihrer Kombinationsmöglichkeiten als auch die Gesamtkomposition vor Augen und ermöglichen so das »Wechseln[.] zwischen isolierendem Zugriff und synthetisierendem Zusammensehen« (S. 166). Jede Notation ist daher Werkzeug und Medium der Erkenntnis und Erfindung zugleich, in der und mit der Strukturen sichtbar werden, analysiert, erkannt und geändert werden können.

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Noch ein letzter Beitrag zum operativen Potential der Schrift sei seiner neuen Perspektive auf ein unterschätztes Phänomen der Schriftlichkeit wegen genannt: Ursula Klein legt in ihrem Beitrag »Visualität, Ikonizität, Manipulierbarkeit: Chemische Formeln als ›Paper Tools‹« die wissensgenerierende Funktion chemischer Formeln anhand des geschichtlichen Wandels in der Formelschreibweise offen. Die sparsame Symbolik und Reduktion der Syntax auf Verschiebung und Additivität machten chemische Formeln zu idealen »paper tools«. Sie lassen sich leicht manipulieren, wobei das Umgruppieren von Buchstaben, das Aussondern oder Hinzufügen von Pluszeichen und Klammern und das Ändern von Zahlen immer auch »drastische semantische Konsequenzen in der Modell- und Theoriebildung« (S. 247) gehabt hätten.

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Gegen die Blindheit gegenüber dem Sichtbaren

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Nicht nur in diesem Beitrag wird jedoch darauf hingewiesen, dass wesentliche Voraussetzung des operativen Potentials der Schrift ihre notationale Ikonizität und ihre aisthetische Präsenz sind. Diesen Aspekt stellt der Großteil der exemplarischen Studien in den Mittelpunkt.

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So untersucht Georg Witte in »Textflächen und Flächentexte. Das Schriftsehen der literarischen Avantgarden«, wie sich das Schriftsehen der russischen Avantgarde in den Kontext graphozentristischer Orientierungen der Literatur einordnen lässt. Am Beispiel der futuristischen handschriftlichen scriptura und der konstruktivistischen Typographie lässt sich zeigen, dass die experimentelle avantgardistische Schriftpraxis die Literarität statt der Literarizität favorisiert. Das avantgardistische Schriftartefakt zeichne sich durch eine Betonung der Textur und der Faktur von Schrift aus, über die die Sichtbarkeit von Schrift gesteigert und der »Anschauungsblindheit« und der »Diaphanieblindheit« (S. 382f.) entgegengetreten werden soll.

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Andrea Polaschegg widmet sich in ihrem anregenden Beitrag (»diese geistig technischen Bemühungen ...«. Zum Verhältnis von Gestalt und Sinnversprechen der Schrift: Goethes arabische Schreibübungen und E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf) ebenfalls einer eher randständigen Schreibpraxis, nämlich den Schreibübungen eines der Schrift unkundigen Schreibers, wie wir sie bei den Schreibern Goethe und Anselmus in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf finden. Diese beiden Beispiele beweisen nicht nur, dass man auch ohne Verständnis der Schrift Zugang zu ihr finden kann, sondern an ihnen lässt sich auch zeigen, dass gerade das Ausblenden der gewöhnlich dominierenden Referentialität von Schrift und die damit einhergehende Fokussierung auf ihre notationale Ikonizität, »die sich [...] gemeinhin der Beobachtung entzieht« (S. 281), Einsichten in die Bedingungen, Grenzen und Potentiale der Schrift als Kulturtechnik ermöglichen. Faszinierend zu lesen, wie die ›Schreiberlinge‹ Goethe und Anselmus sich nicht nur auf die visuell-rezeptive Wahrnehmung der Schriftformationen einlassen, sondern die ihnen unverständliche Schrift »tatsächlich in schreib-handelnden Gebrauch« (S. 282) nehmen und so die Schrift aus ihrer Zweidimensionalität auf dem Blatt in die Dreidimensionalität einer Bewegungsfigur beim Schreiben überführen. Der Schreiber ahmt die spezifischen Schreibbewegungen der unbekannten Schrift nach, bis der Rhythmus irgendwann die Bewegung von allein weiterlaufen lässt. Polaschegg beschreibt dies als ästhetischen Akkulturationsprozess, der jedoch keineswegs das Sinnversprechen, das Schrift immer inhärent ist, außer Kraft setze – vielmehr werde dieses noch gesteigert, denn die Schreiber arbeiten mit der sinnhaften Potenz der unlesbaren Schrift. Und diese ist – verglichen mit der konkreten und begrenzten Bedeutung lesbarer Schrift, so vieldeutig diese auch sei – potentiell unendlich.

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Weitere Artikel beschäftigen sich mit der Frage, wie die Notation die musikalische Wahrnehmung und das musikalische Denken strukturiert und vice versa (Hermann Gottschewski: »Musikalische Schriftsysteme und die Bedeutung ihrer ›Perspektive‹ für die Musikkultur. Ein Vergleich europäischer und japanischer Quellen«); wie die Einbindung von Künstlersignaturen in die Bilderzählung zu einem (Be-)Deutungsgewinn führen kann (Karin Gludovatz: »Malerische Worte. Die Künstlersignatur als Schrift-Bild«); wie Lesen nicht als starre Alternative von wilder Semiose und reiner Transitorik, sondern vielmehr als komplexe und auch konflikthafte Wechselbeziehung von Erkennen und Wahrnehmen zu fassen ist (Susanne Strätling: »Das alphabetische Auge und die Ordnung der Schrift im Bild«); wie gängige Gattungsdifferenzierungen gegenüber outsider art wie der von Adolf Wölfli versagen (Stephan Kammer: »Auf / Zeichnung. Funktionen des Skripturalen bei Adolf Wölfli«) und wie sich im Schriftbild Johann Georg Hamanns das Wesen philologischer Verfahren offenbart, die in der Regel auf das Herstellen textueller Beziehungen und das deutliche Ausweisen dieser Verbindungen gerichtet sind (Stefan Willer: »›Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischen Zeichen‹. Philologische Schriftbildlichkeit am Beispiel Johann Georg Hamanns«).

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Kulturgeschichte der Kulturtechnik

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Den Abschluss des Bandes bilden fünf Beiträge, die die kulturhistorisch bedingte Veränderlichkeit von Schrift, Schriftlichkeit und Schriftpraxis in den Mittelpunkt stellen. Eva Cancik-Kirschbaum zeigt in »Beschreiben, Erklären, Deuten. Ein Beispiel für die Operationalisierung von Schrift im alten Zweistromland«, wie die altorientalischen Schriftkulturen systematisch mit unterschiedlichen Notationssystemen experimentierten, und postuliert, dass die Beziehung zwischen Phoné und Graphé erst nach der Erfindung der Schrift diese beeinflusst habe. Das berechtige dazu, von der Schrift als eigenständiger Kulturtechnik zu sprechen.

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Nicht um die Anfänge der Kulturtechnik Schrift, sondern um einen Ausblick, nämlich um ihre Transformation in den modernen Wissenschaften und durch das Medium des Computers, geht es den letzten beiden Beiträgen des Bandes. Gabriele Gramelsberger zeigt in ihrem Beitrag »Im Zeichen der Wissenschaften. Simulation als semiotische Rekonstruktion wissenschaftlicher Objekte«, wie Computersimulationen zu einer neuen Schrift- und Erkenntnistechnik führen. Im Computer fallen Erzeugung, Speicherung und Präsentation der Schrift auseinander. Die Referenzobjekte werden in rein formale Daten zerlegt, deren notationale Ikonizität keine Rolle mehr spielt, da sie anschließend in beliebiger Form, z.B. als Bild, Klang oder Zahl, präsentiert werden können. Werden diese Daten und ihre Kontexte nun in Simulationen rekonstruiert, werden sie für die Wissenschaft zugänglich und manipulierbar. Simulationen erlauben damit eine spezifische Art des Experimentierens im virtuellen Raum und neue Erkenntnismöglichkeiten. Ganz wie der vorliegende Band, der sein Versprechen einlöst und erfrischend neue und vielfältige Betrachtungsweisen eines (scheinbar) bekannten Phänomens bietet.



Anmerkungen

Hervorgegangen aus drei von der DFG geförderten Forschungsprojekten zur Schriftbildlichkeit (»›Schriftbildlichkeit‹: Über die Visualität von Texten als kulturtechnisches und lektüretheoretisches Potential«), zur Operativität der Schrift (»››Operativität der Schrift‹‹: Textur und Text als kulturtechnisches Potential«) und zur Spur (»Von der Schrift zur Spur: Das Spurenlesen als Kulturtechnik im Spannungsfeld von Medientheorie, Genforschung und Computertechnik«), die alle im Forschungsbereich »Bild, Schrift, Zahl« am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt sind.   zurück
Aus dem deutschsprachigen Raum allein wären beispielsweise zu nennen: Wolfgang Raible: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses, Heidelberg 1991; Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Schrift, München 1993; Susi Kotzinger und Gabriele Rippl (Hrsg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam 1994; Sabine Gross: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß, Darmstadt 1994; Peter Koch und Sybille Krämer (Hrsg.): Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997; Erika Greber, Konrad Ehlich und Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld 2002; Horst Bredekamp und Sybille Krämer (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003; Susanne Strätling und Georg Witte (Hrsg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2005.   zurück
Diesem Ziel widmet sich auch die neue Reihe des Fink-Verlags, in der der vorliegende Sammelband bereits den vierten Band bildet.   zurück
Dieser Aspekt wird insbesondere in den Beiträgen von Susanne Strätling, Werner Kogge und Ursula Klein vertieft.   zurück
Vgl. z.B. Wolfgang Raible: Über das Entstehen der Gedanken beim Schreiben. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 191–214.   zurück
In der Tanzforschung hat sich einzig Claudia Jeschke ausführlich damit beschäftigt. Vgl. Claudia Jeschke: Tanzschriften. Ihre Geschichte und ihre Methoden, Bad Reichenhall 1983.   zurück