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Lebendige Erzählung

Shimon Bar-Efrats Untersuchung der Erzähltechniken der Bibel

  • Bar-Efrat Shimon: Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006. 318 S. Kartoniert. EUR (D) 29,95.
    ISBN: 978-3-579-05215-1.
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In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich in der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft ein neues Interesse an Religion ab – das zeigt etwa die Konjunktur der politischen Theologie oder der späte, aber steile Aufstieg des Denkens von Giorgio Agamben. Tatsächlich ist eine solche Aufmerksamkeit überfällig, waren doch mit der Erweiterung des Faches bereits vor längerer Zeit politische, historische, philosophische und zuletzt auch wissenschaftliche Texte zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Überlegungen geworden, sodass es nur konsequent erscheint, sich nun auch in Richtung religiöser Texte zu öffnen. Allerdings steht diese Öffnung vor dem Problem, dass ausgerechnet der Punkt, an dem sich Literatur und Religion am nächsten zu sein scheinen, in der deutschen Forschung eher gemieden wird: Die Bibel.

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Die meisten literaturwissenschaftlichen Arbeiten zur Bibel sind entweder autormonographisch –›Die Bibel im Werk (der Weltanschauung) von ...‹ – oder motivgeschichtlich –›Esther in der Literatur‹. Beide Ansätze, so verdienstvoll ihre Leistungen auch sein können, sind in der gegenwärtigen Situation wenig anschlussfähig. 1 Und wenn die Bibel als Ganzes in den Blick kommt, dann meist als dogmatischer Text, von dem sich die Literatur habe befreien müssen bzw. in der Moderne mit dichterischer Freiheit gegenüberstehe. Die Bibel erscheint so als etwas ›der Literatur‹ gegenüber radikal Fremdes – und das, obwohl sie doch auch eine bestimmte Form von Literatur ist.

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Wie unselbstverständlich diese Situation ist, zeigt einen Blick in die Nachbarländer, besonders nach England und Amerika. Hier gibt es schon seit längerer Zeit eine breite und reflektierte Forschung über die Bibelbezüge der Literatur, die etwa das Werk Miltons, Melvilles oder der englischen Romantiker betrifft und auch höchst anspruchsvolle allgemeine Theorien hervorgebracht hat, für die etwa Stanley Fish, Kenneth Burke, Northrop Frye und Harold Bloom stehen können. Und auch über die Bibel selbst gibt es seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten, die zu einer breiten und inzwischen höchst differenzierten Forschungsrichtung der Bible as Literature geworden sind, mit eigenen Universitätsprogrammen, eigenen Zeitschriften und auch bereits mit eigenen Klassikern.

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Jetzt liegt endlich ein Buch aus dieser Bible as Literature-Debatte in deutscher Übersetzung vor. Shimon Bar-Efrats Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen, das bereits 1979 auf hebräisch und 1989 in englischer Übersetzung erschien. Sowohl die Übersetzung als solche als auch die Auswahl gerade dieses Werkes ist dabei nur zu begrüßen. Denn es ist auch für den Nicht-Fachmann gut lesbar und bewusst als Überblick angelegt, der zunächst umfassend die verschiedenen Erzähltechniken der hebräischen Bibel für sich dargestellt, an Beispielen illustriert und das durch eine detailliertere Analyse der Erzählung von Ammon und Thamar (2 Sam 13) abschließt, die sozusagen modellhaft das Zusammenwirken verschiedener Erzähltechniken zeigt.

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Dieser Aufbau kommt verschiedenen Lesergruppen zu gute: Für den Literaturwissenschaftler ermöglicht er eine umfassende Übersicht und verlangt ihm keine speziellen exegetischen Kenntnisse – insbesondere: keine Hebräischkenntnisse – ab, allerdings wird er durch den Wechsel der Beispiele in den ersten Teilen des Buches zu beständigem Blättern in der Bibel gezwungen – was ja auch wieder sein Gutes hat. Dem Theologen kann das Buch durch seine Orientierung an literaturwissenschaftlichen Kategorien und den weitgehenden Verzicht auf Terminologie auch als Einführung in die Erzähltheorie dienen. Da es hier nicht möglich ist, die Analysen des Buches im Einzelnen zu besprechen – obwohl gerade dort seine Stärken liegen –, soll es im Folgenden kurz in der Bible as Literature-Debatte verortet werden, bevor an drei seiner Themen – die Thematisierung des Erzählens, der Figuren und der Zeit – versucht wird, die Stärken und die Grenzen des Bar-Efratschen Ansatzes zu zeigen.

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Geschichte einer Debatte

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Die Diskussion über Bible as Literature hat ihre eigene Geschichte. Die literaturwissenschaftlichen Ansätze sind gewissermaßen zwischen den Stühlen entstanden: zwischen der historisch-kritischen und der theologischen Bibelexegese. Unmittelbarer Anlass war meist eine Ablehnung der historisch-kritischen Methoden, die allzu oft zu einer atomisierenden Aufspaltung des biblischen Textes in verschiedene ›Quellen‹ führte, deren einseitig historisches Interesse wenig auf den literarischen Charakter der Texte achtete. Es war gerade die Erfahrung mit moderner Literatur, die die Bibel interessant macht und Widersprüche, Unbestimmtheiten und Wiederholungen in einem Text nicht von vornherein und ausschließlich als Symptom einer Textkorruption betrachtete, sondern auch als spezifisch literarische Sinnpotentiale.

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Schwieriger und komplizierter war das Verhältnis zur theologischen Exegese: Teilweise wurde die neue Lektüre als Erneuerung einer durch die historisierende Kritik verloren gegangenen Unmittelbarkeit begrüßt, teilweise aber auch die strikte Distanz gegenüber jedem theologischen Interesse bemerkt. Grob können für den ersten Zugang etwa die Arbeiten von Franz Rosenzweig und Martin Buber gelten, deren wichtige und höchst einflussreiche literarische Beobachtungen gerade dazu dienen sollten, dem modernen, von der Bibel entfremdeten Menschen einen Zugang zu ihr zu eröffnen. Eher der zweiten Position zuzuordnen war die ebenfalls wichtige und wirksame Position Erich Auerbachs, der in der Bibel eine bestimmte Form des literarischen ›Realismus‹ sah, der Darstellung der menschlichen Existenz in all ihrer Komplexität.

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Diese Ansätze wurden zunächst nicht weiter verfolgt, die deutsche Diskussion verebbte aus nahe liegenden Gründen. Die gegen Ende der siebziger Jahre entstehende angloamerikanische Debatte folgte zuerst eher der zweiten Orientierung, verstärkt durch das theoretische Instrumentarium, das diese Arbeiten benutzten: die Werkinterpretation, der New Criticism und die Narratologie. Insbesondere erstere betonte die ästhetische Autonomie von Texten und konnte jeden – etwa religiösen – Zweck nur als ein außerliterarisches, störendes Element betrachten. Dagegen betonte der New Criticism vor allem das Eigenrecht des literarischen Textes gegenüber der Historisierung und die Bedeutung des close reading und der formalistischen Analyse. Dominant wurde aber bald der dritte Ansatz, die Narratologie, die dann überhaupt in den achtziger Jahren ihre Konjunktur erlebte. Für die Bibel war sie besonders interessant, gerade weil sie es erlaubte, Texte auf hohem Reflexionsgrad zu untersuchen, unabhängig von der Frage, ob es sich bei ihnen um Kunst handele oder nicht. So konzentrierte sich die Bible as Literature-Debatte bald auf die Erzählungen des Alten Testaments, insbesondere die der Königszeit. Zugleich entstanden dann, freilich in gewissem Sinne unabhängig, semiotische und strukturalistische Ansätze, später wurden auch Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion aufgenommen, aber zumindest für die angloamerikanische Diskussion bleibt eine stark formalistische Ausrichtung bestimmend, wie ja auch die amerikanische Dekonstruktion viel stärker formalistisch geprägt ist als die europäische.

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Bar-Efrats Buch steht hier, wie die Einleitung des Herausgebers Thomas Naumann betont, relativ am Anfang dieser Entwicklung. Das mag ein Grund dafür sein, dass Bar-Efrat sich anders als andere Autoren wie etwa Robert Alter nicht oder nur in Randbemerkungen mit der historisch-kritischen Exegese auseinandersetzt; der Leser wird diese implizite Polemik freilich immer mit bedenken müssen. Theoretisch steht Bar-Efrat in der Nähe zur Werkinterpretation, aber auch zu den Frühformen der Narratologie. eigenartigerweise verdeckt der deutsche Untertitel Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen die grundsätzlich formalistische Orientierung des Buches eher – weder geht es hier um Kunstwerke, noch um Verstehen. Die Grundfrage des Buches geht eben nicht um das Verhältnis Kunstwerk – Künstler, sondern um Erzählen – Erzähltes, und diese Orientierung ist auch schon deshalb angemessen als wir doch bei den in Frage stehenden Texten die Autoren nicht kennen. Auch hat das genuin deskriptive Verfahren eben nichts mit Verstehen zu tun: es geht nicht um den Sinn der Texte, sei es ihren religiösen oder auch ihren ästhetischen, sondern um die Verfahren, mit denen sie arbeiten. Genau das sagte der ursprüngliche hebräische Titel (Die Gestaltung der biblischen Erzählung) ebenso wie der der englischen Ausgabe (Narrative Art in the Bible), denn Art hat hier wenig mit Kunst, aber viel mit Verfahren zu tun.

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Der strategische Erzähler

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Das erste Kapitel – »Der Erzähler« – macht diese Orientierung sehr deutlich. Denn es sind nach Bar-Efrat gerade die erzählenden Teile der hebräischen Bibel, die eine besondere Untersuchung verlangen:

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Während die prophetische und die Weisheitsliteratur ihren Ansichten jeweils direkt Ausdruck verliehen, geht die Erzählung indirekt und unaufdringlich vor. Darum spielen Erzähltechniken im Allgemeinen und die Auswahl der Perspektive im Besonderen eine entscheidende Rolle. (S. 26)
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Natürlich ist immer schon bekannt gewesen, dass die biblischen Texte Geschichte aus einer bestimmten zeitlichen und ideologischen Perspektive erzählen, meist wurde aber einfach kurzschlüssig die Perspektive der Autoren mit der der Erzähler und der zentralen Figuren gleichgesetzt. Die literaturwissenschaftliche Analyse zeigt aber, dass hier eine große Variabilität möglich ist und eine Vielzahl von Techniken das Wissen steuert: So weist etwa das biblische hinneh (»siehe«) oft auf einen Fokalisierungswechsel hin. Sehr verbreitete ist auch die Verschmelzung von auktorialer Perspektive und Figurenperspektive.

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Vor allem aber waltet eine dynamische Wissensökonomie: Zwar ist der biblische Erzähler durchaus allwissend – er kennt nicht nur das geheime Fühlen und Denken der Menschen, sondern auch die Ratschlüsse Gottes. Aber seine Allwissenheit unterscheidet sich von der göttlichen nicht nur dadurch, dass er gezwungen ist, die Ereignisse sprachlich wiederzugeben. Er muss seine Hörer auch interessieren und hat dazu nur rhetorische und literarische Mittel zur Verfügung. Faktisch geht der Erzähler daher mit seinem Wissen höchst sparsam um und lässt die Lesenden an seinem unbegrenzten Wissen meist nicht teilhaben. Diese Zurückhaltung geht so weit, dass der biblische Erzähler oft vollkommen abwesend erscheint bzw. nur als rein neutrales Medium der Wiedergabe der Handlung: »Direkte Einmischung ist nicht häufig und nicht ausgedehnt, und dies trägt maßgeblich zur Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der biblischen Erzählungen bei.« (S. 42) Allerdings bezieht der biblische Erzähler immer wieder Stellung, oft nur durch einzelne Worte, durch eine bestimmte Charakterisierung der Personen oder eine bestimmte Weise der Zusammenfassung: »Gerade weil sie [diese Methode] nicht offenkundig, sondern verdeckt ist, vermittelt sie den Lesern die Werte der Erzählung sogar noch effektiver.« (S. 43) Die »Lebendigkeit« der biblischen Erzählung führt den Leser zur Identifizierung mit dem Geschehen, in der die Eingriffe des Erzählers um so wirksamer sind; die »Einfachheit« der biblischen Erzählungen beruht also nicht etwa auf Unfähigkeit oder Naivität, sondern impliziert eine ganz bestimmte Rhetorik und Erzähltechnik.

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Lebendige Personen

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Für die »Lebendigkeit« der Erzählungen spielen die Personen eine besonders wichtige Rolle. Verbreitet ist das Vorurteil, die biblischen Erzähler seien eigentlich nicht in der Lage, lebendige Figuren zu erschaffen, es handle sich hier lediglich um immer gleiche Typen oder Marionetten theologischer Anschauungen. Aber Bar-Efrat zeigt, dass der biblische Erzähler auch bei der Charakterisierung seiner Figuren gerade in seiner Zurückhaltung höchst effektiv ist. Teils werden die Figuren durch knappe und ökonomisch platzierte Bemerkungen des Erzählers charakterisiert, teils indirekt, durch ihre Position in der Figurenkonstellation, ihre Taten und ihre Worte. Zwar ist der biblische Text grundsätzlich nicht dialogisch, insofern auch die Sprache der handelnden Personen durch den Erzähler vermittelt wird – die einzelnen Personen also kein Idiom sprechen –, aber es gibt doch eine Fülle von Abwandlungen des Ausdrucks, welche den Charakter und Zustand der Sprechenden hervortreten lassen. So spiegeln sich etwa in der Breite und Kürze, oder der Modifikation im Dialog nicht nur die Figuren und ihre Absichten und Gefühle, sondern auch die Perspektive des Erzählers auf diese Figuren.

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Durch all diese Techniken entstehen tatsächlich höchst »lebendige« Personen:

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Die Hauptfiguren werden vor allem durch indirekte Mittel charakterisiert, d.h. durch ihre Taten und Worte. Dies ist unserem Verhalten im wirklichen Leben nicht unähnlich, wenn wir aus dem, was Menschen sagen und tun, Rückschlüsse auf ihren Charakter ziehen. Insofern kann man sagen, dass das bevorzugte Mittel der Charakterisierung in biblischen Erzählungen durchaus ›realistisch‹ ist. (S. 103)
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Die biblische Erzählung ist also »realistisch« nicht im Sinne einer breit ausgeführten Darstellung des Äußeren einer Person oder breite Wiedergabe ihrer Äußerungen, sondern in dem Sinne, dass sie für uns komplexe Figuren erfahrbar macht.

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Handlung und Wahrheit

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Die spezifische Form des Realismus spiegelt sich – hier folgt Bar-Efrat den Anregungen Auerbachs – auch im Überwiegen der Handlung vor der Beschreibung wieder:

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Biblische Erzählungen stellen uns die Geschäftigkeit des Lebens vor Augen und sind durchsetzt von Bewegung und Aktivität. Weil sie so dramatisch sind, müssen sie primär auf die Dimension der Zeit zurückgreifen, um die Entwicklung der Handlung voranzutreiben, und darum hat Raum für sie untergeordnete Bedeutung. (S. 212)
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Eine besondere Rolle spielt dabei die Untersuchung der Zeitstruktur und der Gestaltung des Plots durch Prinzipien wie Symmetrie und Kontrast, die Aufteilung in verschiedene Szenen usw. Bar-Efrat zeigt hier detailliert, dass das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ausgesprochen variabel ist, dass es oft einen periodischen Wechsel von Szene und summary gibt und dass der Erzähler zwar gelegentlich in die Vergangenheit, aber höchst selten in die Zukunft springt – wieder macht er also von seiner Allwissenheit keinen Gebrauch. Besonders interessant ist dabei, wie (am Beispiel der Adonija-Episode 1 Kön 1) parallele Handlungen dargestellt werden: In einer Art Montage wechselt die Erzählung von einem Schauplatz zum anderen, ohne den kontinuierlichen Fluss der Zeit zu unterbrechen und ohne etwas zweimal zu erzählen; motiviert wird der Wechsel durch Handlungselemente (Boten, Geräusche) oder auch nur durch Wortassoziationen.

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Ein weiteres wichtiges und auf allen Ebenen wiederkehrendes Kompositionselement ist die Wiederholung: Sie prägt den Umgang mit der Zeit, aber auch oft die Konstruktion des Plots und schließlich den Stil, der oft ganze Passagen durch einzelne wiederholte Worte (»Leitworte«) gliedert und integriert. Gerade diese Wiederholung galt der historisch-kritischen Auslegung immer als Symptom der Inhomogenität der Texte: Wenn etwa die Genesis dreimal nacheinander die »Gefährdung der Ahnfrau« nennt, wurde das als Symptom dreier verschiedener Quellen gesehen. Für Bar-Efrat sind aber auch diese Wiederholungen erzählerische Mittel: Teils dienen sie schlicht der Verlangsamung, teils betonen sie »dass alles genauso geschieht, wie Gott es befohlen hat« (S. 177), teils haben auch gerade ihre Abweichungen Bedeutung. Die Verschwörung Adonijas wird innerhalb kürzesten Raumes vom Erzähler, von Natan und Batseba immer wieder anders erzählt:

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So wiederholt niemand exakt das, was vorher gesagt wurde, jeder und jede fügt dem Bericht über Adonijas Versuch der Machtergreifung etwas hinzu. Die Wiederholungen können als intensivierend bezeichnet werden, und ihr Ziel ist es, David davon zu überzeugen, gegen Adonija vorzugehen. (S. 179)
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Wieder verbirgt sich unter dem Anschein einer Unfähigkeit – klar und glatt zu erzählen – eine literarische Technik, die zumal aus moderner Literatur hinlänglich bekannt ist. Allerdings sollte deren Realismus nicht dazu verleiten, zu vergessen, dass es sich hier um Geschichten handelt. Es ist nicht das einzige Mal, dass Bar-Efrat seine Figuren psychologisiert – ähnlich wird im fünften Kapitel über den biblischen Stil die Rede von Huschai (2 Sam 17) als »sowohl psychologisch als auch rhetorisch exzellente Darbietung« bezeichnet, die ihre Adressaten notwendig überzeugen müsse (S. 255), obwohl hier doch eigentlich der Leser überzeugt werden soll. Eigentlich handelt es sich bei diesen Texten ja um Binnenerzählungen, ein Phänomen, das Bar-Efrat aber nicht eigens thematisiert, so wie er auch – wie allgemein in der Narratologie vor Genette – unter der Perspektive unterschiedslos Fokalisierung (wer sieht?) und Stimme (wer erzählt?) versteht.

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Das Problem von Rahmenerzählungen kommt aber auch deshalb nicht vor, weil sich Bar-Efrat – darin in ganz eigentümlicher Parallele zur historischen Kritik – in der Regel auf Einzelerzählungen konzentriert und weniger nach den größeren Zusammenhängen fragt. Dabei sind gerade die Techniken der Rahmenerzählungen in der Bibel – etwa den verschiedenen und teilweise kontradiktorischen Rahmen von direkter mosaischer Rede und durch den Erzähler berichtete Rede im Deuteronomium, die Robert Polzin detailliert untersucht hat 2 – konstitutiv. In solchen Verschachtelungen, wie auch in den Wiederholungen, muss man tatsächlich nicht nur die verschiedenen Perspektiven der Akteure sehen, sondern eben auch eine rhetorische Strategie – gerade der unzuverlässige Erzähler, der wesentliche Informationen auslässt, sich wiederholt und dabei widerspricht, setzt, wie Meir Sternberg in rezeptionstheoretischer Argumentation gezeigt hat, seine Ideologie um so deutlicher durch. 3

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Ein wertvoller Schritt

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Insgesamt gibt Bar-Efrat eine formale Analyse der Erzählweise, die besonders am ›Realismus‹ der Darstellung interessiert ist. Der sparsame Gebrauch von Terminologie macht das Buch leserfreundlich, aber er führt auch zu einem Verlust an Anschlussfähigkeit an aktuelle Debatten. Es ist eben ein frühes Buch, und manches ist noch nicht erreicht, sowohl in der Narratologie, als auch in der Bible as Literature-Debatte: Gelegentlich fehlt ihm die Genettsche Trennschärfe, auch die Herausforderungen der Dekonstruktion und der Rezeptionsästhetik sind noch nicht wirksam. Demgegenüber hat die Debatte über die Bibel eine selbstkritische Wendung genommen, die sie auch theoretisch besonders interessant machte. Denn bald wurde klar, dass der rein formalistische Ansatz nicht ausreicht, jedenfalls wenn er die ästhetische Autonomie der Texte zu sehr betont; vielmehr kommt es darauf an zu beschreiben, wie die Texte mit ästhetischen Mitteln einen metaästhetischen Anspruch erheben – das tut etwa Sternberg oder, in anderer Weise Harold Fischs Untersuchung der biblischen Poetry with a Purpose. 4

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Trotz dieser Grenzen handelt es sich hier um ein ausgesprochen nützliches Buch. Wie der Herausgeber in seiner Einleitung zu Recht betont, ist die klassische Erzähltheorie mit diesen Entwicklungen noch nicht obsolet, sondern stellt weiter einen Weg zum Text dar. Für Literaturwissenschaftler eröffnet das Buch einen Zugang zur Bibel als Text, den er in der theologischen Exegese genauso wenig finden wird wie in der Motivgeschichte. Für den Theologen eröffnet das Buch gerade durch seinen propädeutischen Charakter eine literaturwissenschaftliche Perspektive, die das eine oder das andere schärfer sehen lässt. Eine solche Sichtweise muss ja nicht gleich zu einer Schule werden und muss nicht gegen die historisch-kritische Exegese ausgespielt werden, denn es wäre sicher unfruchtbar, hier eine Methodenkonkurrenz zu postulieren und auszutragen. Gerade wegen seiner unpolemischen Natur und gerade wegen seiner formalistischen Nüchternheit – die sich von vornherein der Frage: Kunst oder Religion entziehen sollte – ist das Buch zu begrüßen. Es ist zu hoffen, dass es endlich auch in Deutschland eine seit langem überfällige Diskussion anstößt. 5

 
 

Anmerkungen

Als Forschungsübersicht vgl. Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005; vgl. dazu auch meine Rezension des Buches in IASLonline.   zurück
Vgl. Robert Polzin: Moses and the Deuteronomist. Deuteronomy, Joshua, Judges, New York 1980.   zurück
Vgl. Meir Sternberg: The poetics of biblical narrative. Ideological literature and the drama of reading. Bloomington, Ind. 1985.   zurück
Vgl. Harold Fisch: Poetry with a Purpose. Biblical Poetics and Interpretation, Bloomington Ind. 1985.   zurück
Im Sommer diesen Jahres erscheint im Fink Verlag eine von Daniel Weidner und Hans-Peter Schmidt herausgegebene Anthologie mit Texten aus der Bible as Literature-Debatte, die unter anderem Texte von Meir Sternberg, Robert Polzin und Harold Fisch enthält.   zurück