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Die Ordnung der Verbrechen

Eine diskursanalytische Typologie des Wissens über
Gewaltverbrechen in der Weimarer Republik

  • Hania Siebenpfeiffer: »Böse Lust«. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik. Köln, Weimar: Böhlau 2005. XII, 409 S. 15 s/w, 2 farb. Abb. Broschiert. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 3-412-17505-6.
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Geschlechtsspezifische Konstruktionen
des kriminellen Menschen

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Die vorliegende Studie (eine überarbeitete Fassung der Dissertation der Verfasserin an der Freien Universität Berlin 2002) verbindet Diskursanalyse und Geschlechterforschung für eine umfangreiche Untersuchung männlicher und weiblicher Täterbilder und -konstruktionen zur Zeit der Weimarer Republik. Am Beispiel der prototypisch ›weiblichen‹ Gewaltverbrechen Giftmord und Kindstötung sowie des prototypisch ›männlichen‹ Lustmords kann die Autorin dabei zeigen, dass die weibliche Täterin gleich aus zwei Ordnungen ausgeschlossen wurde. Ihre Tat verstieß nicht nur gegen die Rechtsnorm, sondern immer auch gegen die Geschlechtsnorm:

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Während die Taten des männlichen Gewaltverbrechers lediglich als einfache Verstöße gegen die Rechtsnorm verstanden wurden, implizierten die Taten der weiblichen Gewaltverbrecherin einen zweifachen Normbruch: Sie stellten nicht nur den Bruch der Rechtsnorm dar, sie verstießen zugleich gegen die Norm des passiven, gewaltfreien und auf Mütterlichkeit ausgerichteten weiblichen ›Geschlechtscharakters‹. (S. 9)
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Somit bestätigte eine solche »Naturierung des kriminellen Menschen« (ebd.) die Geschlechterdichotomie von einer als ›männlich‹ ausgewiesenen Aktivität, Aggression und Triebhaftigkeit gegenüber einer als ›weiblich‹ definierten Passivität, Schwäche und Trieblosigkeit: »Die Konstruktionen des kriminellen Menschen verliefen dezidiert geschlechtsspezifisch« (S. 8). Vor dem Hintergrund einer systematischen Verschränkung des juristischen mit dem medizinisch-psychiatrischen und sexualwissenschaftlichen Diskurs, seitdem die aufgeklärte Justiz nicht mehr die Tat, sondern den Täter / die Täterin mitsamt seiner / ihrer Herkunft, Veranlagung und Motivation in den Mittelpunkt des Interesses gestellt hatte, erstaunt dieser Befund weniger an sich, als vielmehr dadurch, dass er hier erstmals in einer synchron vergleichenden Gegenüberstellung von weiblichen und männlichen Gewaltverbrechern erbracht und erhärtet werden kann. Denn die Kategorie des Geschlechts lässt sich innerhalb einer produktiven Form von Geschlechtergeschichte und ihrer Diskursivierungen eigentlich erst als relationale Beziehung untersuchen. 1 Die Wirkungsmacht der beschriebenen Naturierung kriminellen Verhaltens zur Zeit der Weimarer Republik bezeuge zudem die geschlechtsspezifische Codierung der gewählten Deliktformen als typisch ›weiblich‹ beziehungsweise ›männlich‹:

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Mit dem Ziel, eine höchstmögliche Kongruenz zwischen Delikt- und Täter/innen/typologie herzustellen, wurden die Art des Delikts und das Geschlecht des Täters / der Täterin einander so angepasst, dass sie sich wechselseitig begründeten. Männliche Täter, die ein ›weibliches‹ Verbrechen begingen, wie z.B. der männliche Giftmörder, wurden effeminiert, weibliche Täterinnen hingegen wurden virilisiert oder – wie beim Lustmord – ganz aus der jeweiligen Delikttypologie ausgeschlossen. (S. 9)
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(Inter-)Diskursanalytische Methode
auf breit gefächerter Materialbasis

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Im Anschluss an Michel Foucaults Diskurs- und Dispositiv-Begrifflichkeit, Jürgen Links Differenzierung von Spezial- und Interdiskursen sowie im Rückgriff auf konstruktivistische Geschlechtertheorien im Sinne Judith Butlers entfaltet Hania Siebenpfeiffer ihre These auf einer beeindruckend breit gefächerten und ausführlich dargelegten Materialbasis:

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1. Gesetzestexte aus dem Reichsstrafgesetzbuch und der Strafprozessordnung,

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2. Prozessakten,

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3. psychiatrische und psychologische Gutachten,

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4. journalistische Fallberichterstattungen in regionalen und überregionalen Zeitungen mit einem breiten politischen und distributiven Spektrum,

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5. Gerichtsreportagen von bekannten und weniger bekannten Autorinnen und Autoren wie Gabriele Tergit, Kurt Tucholsky, Siegfried Kracauer, Joseph Roth, Alfred Polgar, Paul Schlesinger, Moritz Goldstein oder Paul Fechter,

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6. Literarisierungen realer Fälle in der aktualisierten Pitavaltradition der zwischen 1924 und 1926 von Rudolf Leonhard herausgegebenen Serie »Außenseiter der Gesellschaft – Verbrechen der Gegenwart« (ihr entnimmt die Studie die drei prominenten Texte Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord von Alfred Döblin [über den Fall Klein / Nebbe], Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs von Theodor Lessing und Der Fall Vukobrankovics von Ernst Weiß),

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7. vollständig fiktiv erzählte Verbrechen unterschiedlicher Gattungen und Erzählniveaus von Bertolt Brecht (Von der Kindesmörderin Marie Farrar), Norbert Jacques (Dr. Mabuse – Der Spieler), Rahel Sanzara (Das verlorene Kind), Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz), Claire Goll (Jedes Opfer tötet seinen Mörder / Arsenik) und Paul Leppin (Rede der Kindsmörderin vor dem Weltgericht),

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8. Beispiele aus bildender Kunst und Film der Weimarer Republik werden (vor allem zum Thema »Lustmord«) punktuell und gewinnbringend in die Untersuchung einbezogen.

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Im ersten Teil der Arbeit erfolgt zunächst eine Darlegung der speziellen »Diskursformationen«:

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1. das zeitgenössische Strafrecht (mit seinen öffentlichkeitswirksamen Reformdiskussionen um Todesstrafe und Zurechnungsfähigkeit),

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2. eine sich weiter ausdifferenzierende Kriminologie mit ihren konkurrierenden Wissensbeständen aus Biologie, Psychologie / Psychoanalyse und Soziologie (fokussiert auf die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Nachkriegskriminalität im Sinne einer allgemeinen »Verrohung« und einer »verspätete[n] Kriegskriminalität« [S. 58 f.]),

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3. die besondere Stellung von Literatur als kriminalliterarischer Interdiskurs (erweitert durch das Subgenre der Justizliteratur von Gerichts- und Gefängnisromanen).

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Denn »[a]ls vermeintlich autonome, künstlerische Ausdrucksweisen [!] kam der Literatur eine spezielle, d.h. höhere Wahrheit zu, die sie für die wissenschaftliche Analyse der ›Verbrecherpersönlichkeit‹ besonders attraktiv machte« (S. 89). In diesem Sinne verfuhr zum Beispiel der Jurist Erich Wulffen in seiner einflussreichen, populärwissenschaftlich-sexualpathologischen Abhandlung Das Weib als Sexualverbrecherin von 1923. Indem er seine Darstellung der Giftmörderin als ›geschlechtscharakteristisch weibliche‹ Verbrecherin mit einer ausführlichen Beschreibung der mythologischen Figur der Medea (bei Euripides, Seneca und Grillparzer) eröffnete, unterlege dieser Bezug »der ›modernen‹ Giftmordtypologie Wulffens [...] ein archaisch-zeitloses Fundament« (ebd.). Anders agierte hingegen Gabriele Tergit mit ihren Gerichtsreportagen über Kindsmörderinnen. Durch deutliche Anspielungen auf Goethes Gretchen-Figur akzentuiere sie hier vor allem die soziale »Tragödie« hinter den einzelnen Fällen und weise auf die »geschlechtsspezifische Hierarchie des Rechtssystems« hin (S. 162 f.). Im zweiten Teil geht es Siebenpfeiffer daher um solch »interdiskursive Zirkulation[en]« (S. 92), durch die eben »jene geschlechtsspezifisch segmentierten Verbrechensformen« des »Kriminalitätsdispositivs der Weimarer Republik« (S. 91 f.) generiert werden, wie sie sich unter dem Obertitel »Verbrechensformen« an den drei Beispielen des ›weiblich‹ codierten Gift- und Kindsmords sowie des typisch ›männlichen‹ Lustmords aufzeigen lassen.

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Verbrechensdispositive:
Stärken des interdiskursiven Analyseansatzes

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Als besonders gelungen stellt sich vor diesem Hintergrund das Kapitel zum Giftmord dar. Im Vordergrund steht hier der spektakuläre Berliner Fall Klein / Nebbe von 1923. Die Ermordung des Tischlers Klein durch seine Ehefrau mittels in stetigen Dosen verabreichten Rattengifts zog insbesondere aufgrund der homosexuellen Liebesbeziehung zwischen Ella Klein und Margarete Nebbe, die der Mittäterschaft beschuldigt wurde, ein besonderes öffentliches und über die Zeit hinaus auch literarisches Interesse auf sich. 2 Die realitätskonstruierende Macht der diskursiven Stereotypenbildung zeigt hier schon die journalistische Berichterstattung des Prozessverlaufs. Denn die bewährte (und durch Lombrosos kriminalanthropologische Verbrechenstypologie institutionalisierte) physiognomische Abgleichung der Angeklagten mit dem seit den Pitavalgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts gepflegten Stereotyp einer durch ›weibliche‹ Heimlichkeit, List und Tücke gekennzeichneten Giftmörderin erwies sich zunächst als durchaus problematisch:

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Anstelle zweier sadistischer, hysterischer, skrupelloser, berechnender, hinterlistiger und verschlagener Frauen, denen die ›moralische Verkommenheit‹ ihres Verbrechertypus ›ins Gesicht geschrieben stand‹, entpuppte sich vor allem die Hauptangeklagte Ella Klein als eine eingeschüchterte, kleinbürgerliche und ganz und gar unheroische Person. (S. 105)
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Erst vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen, als ›abnorm‹ disqualifizierten Liebesbeziehung als möglichem Tatmotiv einer zudem kontinuierlich vom alkoholisierten Gatten misshandelten Ehefrau schienen solche Widersprüche auflösbar. Die journalistische Interpretation ihrer zunächst ›unpassend‹ wirkenden äußeren Erscheinung veränderte sich – ebenso, wie 1929 dann im umgekehrten Fall eines männlichen Giftmörders, des Arztes Peter Richter. Sein ursprünglich souverän wirkendes Auftreten vor Gericht wurde mit zunehmender Beweislast durch die Presse effeminiert, um selbst ihn in das Stereotyp der ›weiblichen‹ Giftmordtypologie integrieren zu können. Im Fall Klein / Nebbe deutete man solche Widersprüchlichkeiten hingegen zum ›typischen Erscheinungsbild‹ der perfiden Giftmischerin um und konnte dadurch auch die Täterin Klein in das bekannte System »der weiblichen sexualpathologischen Devianz« einordnen (S. 108). Dabei handelte es sich um ein Kriterium, dem auch die am Prozess beteiligten psychiatrischen Gutachter anhingen, unter ihnen immerhin der bekannte Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, dem eigentlich an einer Entpathologisierung der Homosexualität gelegen war.

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Zeigt sich hier zugleich die Überschneidung von psychiatrischem und sexualwissenschaftlichem Diskurs, so kann mit Döblins Literarisierung des Falls, unter dem anonymisierenden Titel Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord 1924 erschienen, eine weitere interdiskursive Akzentuierung vorgenommen werden. Im Unterschied zu den thematisch anders gelagerten literarischen Giftmord-Beispielen von Ernst Weiß und Claire Goll funktioniert Döblins Text zudem als elaborierter Gegendiskurs.

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Siebenpfeiffer macht hier nicht nur, wie andere InterpretInnen vor ihr auch, 3 eine Montage aus spezialdiskursiven, publizistischen und literarischen Wissensbeständen aus. Das Stereotyp der weiblichen Giftmörderin werde so über einen narrativen »Gestus der Vermutung« (S. 120) dekonstruiert, welcher selbstreflexiv sogar noch den anschließenden Epilog und (im medialen Wechsel) das vom Nervenarzt Döblin beigefügte Schaubild »Räumliche Darstellung der Seelenveränderung« dominiere. Darüber hinaus werde dem »Giftmord als Handlungsmoment eine umfassende Metaphorik des Gifts zur Seite gestellt«, sodass »die Vergiftung [...] nicht mehr länger der ›weiblichen Natur‹ der Täterin« entspringe, sondern »Teil einer größeren Psycho-Logik des Gifts [ist], die der Text entfaltet« (S. 131). Diese stelle der körperlichen Vergiftung des Ehemanns die ›psychische Vergiftung‹ seiner Frau gegenüber, wodurch »die Wahl des Giftmords nicht mehr länger ihrer ›Sexualnatur‹ geschuldet« sei (ebd.), sondern sich vielmehr als Fortsetzung der eigenen Seelenvergiftung gestalte.

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Als ebenso überzeugend erweist sich auch die Lesart von Brechts bekannter Ballade Von der Kindesmörderin Marie Farrar (1925/27), die das Kapitel über die Kindstötung abschließt. Wieder handelt es sich um ein Delikt, das schon seit den strafrechtlichen und literarischen Diskussionen Ende des 18. Jahrhunderts als genuin ›weibliches‹ Verbrechen galt. Diesmal wird es zur spezifisch »mütterlichen Kriminalität« (S. 156) zwischen sozialer Verzweiflungstat (der unehelich Schwangeren) und sexualphysiologischer beziehungsweise psychischer Devianz erklärt. Brechts Text stellt geradezu ein Paradebeispiel für Siebenpfeiffers interdiskursiven Ansatz dar, indem seine Ballade bis in den uneindeutigen Refrain hinein als eine Collage der unterschiedlichen Kindsmord-Zuschreibungen aus juristischen, kriminologischen und christlich-theologischen Diskursen interpretiert wird. In ihrer Übermacht bringe diese Diskursmaschinerie die fiktive Täterin als sprechendes Subjekt regelrecht »zum Verstummen« (S. 185).

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Die Mehrdeutigkeit der Quellen
und die Macht der Ordnung:
Schwächen der diskursanalytisch-
genderorientierten Anwendung

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Möglicherweise ließe sich die hier beobachtete Ausblendung jeglicher Emotionen der Titelfigur sich selbst, ihren Handlungen, dem Kind oder der Tat gegenüber aber auch noch anders lesen: vor dem Hintergrund von Einflüssen der jetzt dezidiert antipsychologisch und unsentimental auftretenden Neuen Sachlichkeit nämlich, als deren kriminalliterarisches Produkt die Autorin an anderer Stelle den Typ des ›kalten Killers‹ ausmacht (verkörpert durch die Figur Reinholds als ›coolem‹ Gegenspieler zum (spät)expressionistisch-›kreatürlichen‹ Gewaltverbrecher Franz Biberkopf in Döblins Berlin Alexanderplatz [S. 207 ff.]). Da Siebenpfeiffer diesen ›Kälte‹-Typus – ihrer eigenen, strikt zweigeschlechtlich angeordneten Verbrechenstypologie entsprechend – jedoch allein der männlichen Figur des Lustmörders vorbehält, können solche Überschneidungen und Ambivalenzen leider nicht in den Blick geraten.

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Ähnlich verhält es sich mit der Fallgeschichte von Käte Hagedorn, die 1927 des Mordes an zwei älteren, fremden Kindern in Duisburg angeklagt wurde. Offensichtlich – das legen die Zitate aus den journalistischen und gutachterlichen Quellen nahe und auch Siebenpfeiffer deutet es mehrfach an – handelte es sich um ein Sittlichkeitsverbrechen, um die skandalöse Besonderheit eines weiblichen Lustmords also. In den einzelnen Spezialdiskursen wird die Tat indes durchgängig als (weniger brisanter und schon traditionell ›weiblicher‹) Kindsmord kategorisiert. Dies ließe sich vielleicht eher als eine Strategie der Verharmlosung und als Ausdruck einer geschlechtsspezifischen Integrationsbewegung deuten anstatt bloß als neuerliche Bestätigung der These vom doppelten Ausschluss weiblicher Gewaltverbrecherinnen aus Rechts- und Geschlechtsnorm, da sie »das absolute Negativ einer ›gesunden‹, weil mütterlichen Weiblichkeit [verkörperten]« (S. 162).

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Interessanter wäre hier eine direkte Gegenüberstellung mit dem im letzten Kapitel thematisierten, prominenten Fall des mehrfachen ›Lustmörders‹ Fritz Haarmann gewesen. Zwischen 1918 und 1924 hatte er in Hannover über zwanzig Morde begangen, indem er seinen männlichen Opfern die Kehle durchbiss und ihre Leichen anschließend zerstückelte. Die mittels kollektivsymbolischer und genretypischer Elemente erzeugten Konstruktionen des Täters als mythischer ›Werwolf‹ und ›Vampir‹ bewirkten eine deutliche Dämonisierung und grenzten den Serienmörder damit vollständig aus dem Bereich der ›Normalität‹ aus. 4 Ob gerade mit Haarmann allerdings ein treffendes Beispiel für Siebenpfeiffers genderorientierte These von der »Erfindung des Lustmords im ausgehenden 19. Jahrhundert [...] als männliches Gewaltverbrechen par excellence« vorliegt (S. 9), bei dem sich »die männliche ›Sexualnatur‹ in zwar übersteigerter, jedoch ungebrochener Form« zeige (S. 10), erscheint nicht nur aufgrund von Haarmanns Homosexualität zweifelhaft. Auch hier legen die zitierten Spezialdiskurse ebenso wie Theodor Lessings interdiskursiver Reportageroman Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs (1925) eine zumindest differenziertere Lesart nahe, wenn dem Täter wiederholt ein androgyner, ja femininer Habitus zugeschrieben wird.

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Fazit:
Die Ordnung der Verbrechen

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An einigen Stellen der Arbeit entsteht daher der Eindruck, als ob der Hang zur schematischen Typologisierung in den besprochenen Quellen, der allerdings nicht im Umfeld anderer Typenanordnungen der Weimarer Moderne diskutiert wird, 5 selbst ein wenig auf die Struktur und Argumentation abgefärbt habe. Das liegt einerseits (wie schon gezeigt) an der Konzentration auf eine streng geschlechterdichotomische Verbrechertypologie, wie sie in den untersuchten Diskursen vorgenommen, aber ebenso auch unterlaufen wird. Dadurch gerät außerdem die Verankerung des Geschlechterdiskurses im soziokulturellen Kontext der Weimarer Republik, etwa vor dem Hintergrund der Diskussionen und medialen Inszenierungsformen zeitweiliger Tendenzen zur Entpolarisierung ›neuer‹ Frauen- und Männertypen, etwas aus dem Blickfeld. Andererseits hängt dies aber wohl auch mit der, hier zudem den Dissertationsstandards geschuldeten, inzwischen akademisch genormten Ordnung und Abfolge diskursanalytisch operierender Arbeiten allgemein zusammen: 6 Das konsequente Nacheinander in der Präsentation von Einzel- und Interdiskursen, Fallgeschichten und ihrer literarischen Aneignung führt dabei nicht nur zu einigen leseunfreundlichen Redundanzen. Unter der Hand wird so zugleich eine (schein)logische Abfolge von ›Original‹ und ›Kopie‹, historischem Rahmen, spezifischer Ausführung und ›Fiktionalisierung‹ suggeriert, mit der die Diskursanalyse eigentlich brechen wollte. Noch stärker als auf die Frage, inwiefern (wissenschaftliche) Spezialdiskurse in (literarisch-künstlerische) Inter- und Gegendiskurse eingehen, sollte daher doch der Blick auf das »wechselseitige[ ] Austauschverhältnis« von Spezial- und Interdiskursen gelenkt beziehungsweise auch gliederungstechnisch umgesetzt werden. 7

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Insgesamt liegt mit Siebenpfeiffers Arbeit aber zweifellos eine (ge)wichtige Studie zum geschlechtsspezifisch segmentierten Gewaltdispositiv der Weimarer Republik vor. Dafür zeugt allein schon die Fülle des gesichteten und analysierten Materials sowie die Stringenz und die methodische Reflexion der Deutung. An ihren Ergebnissen werden daher auch andere, an diesem Themenkomplex Interessierte in Zukunft nicht vorbeikommen.

 
 

Anmerkungen

So, bezogen auf die Geschichtswissenschaft, auch Gisela Bock: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988) 3, S. 364–391, hier S. 379 f. Vgl. demgegenüber z.B. die im vorliegenden Verbrechenskontext bei Siebenpfeiffer diskutierten Einzelstudien von Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen. Eine diskursgeschichtliche Studie (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 65) Tübingen: Niemeyer 1998 und Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany. Princeton: Princeton University Press 1995.   zurück
Vgl. neben Döblins zeitgenössischer Thematisierung des Falls auch den 1991 im Rowohlt Verlag erschienenen Roman Die Giftmörderinnen der österreichischen Autorin Elfriede Czurda.   zurück
Vgl. vor allem Inge Weiler (Anm. 1), S. 228–247.   zurück
Vgl. hier zur interdiskursiven Verschränkung ›Serienmörder Vampir‹ auch: Julia Bertschik: »Bluterguß der Seele«. Diskursformen vampiristischer Ökonomie in der Zwischenkriegszeit. In: J. B. / Christa Agnes Tuczay (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke 2005, S. 233–246 und Jörg Waltje: Blood Obsession. Vampires, Serial Murders, and the Popular Imagination. New York u.a.: Lang 2005, S. 105–134.   zurück
Vgl. dazu z.B. Claudia Schmölders / Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln: DuMont 2000 sowie Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005, S. 180–273.   zurück
So auch die Kritik bei Moritz Baßler, Rezension über: Inge Weiler: Giftmordwissen und Giftmörderinnen 1998. In: IASLonline (25.01.1999). URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/bassler.htm (Datum des Zugriffs: 19.07.2006).   zurück
Vgl. in diesem Sinne z.B., mit Bezug auf den ›Fall Haarmann‹: Stefan Andriopoulos: Ungeheuer, Vampire, Werwölfe: Fiktionale Strategien der Horrorliteratur in kriminologischen Darstellungen von Serienmördern. In: Frank J. Robertz / Alexandra Thomas (Hg.): Serienmord. Kriminologische und kulturwissenschaftliche Skizzierungen eines ungeheuerlichen Phänomens. München: belleville 2004, S. 314–329, v.a. S. 323–327.   zurück