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Verschmelzende Felder - entgrenzte Wissenschaft

Die viktorianische Erfindung der Telepathie

  • Roger Luckhurst: The Invention of Telepathy. 1870-1901. Oxford: Oxford University Press 2002. 334 S. 8 Abb. Hardback. GBP 46,00.
    ISBN: 0-19-924962-8.
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Offene Felder

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Was Roger Luckhurst mit seiner vorliegenden Studie zur ›Erfindung‹ (im doppelten Wortsinne als ›Entdeckung‹ und ›Phantasieprodukt‹) der Telepathie im viktorianischen Fin-de-siècle beabsichtigt, ist so ambitioniert wie begrüßenswert: Das schwer fassbare aber sehr wirkmächtige Konzept der Telepathie als »occult relation or communication between people at distance« (S. 1) soll einerseits in seinen wissenschaftshistorischen Entstehungskontexten im England des späten 19. Jahrhunderts lokalisiert werden (dies geschieht in zwei Kapiteln und bildet Teil I des Buches), andererseits soll der Einfluss dieses Konzeptes in den verschiedensten kulturellen Feldern und Diskursen vom New Journalism über den Kolonialismus bis zur Debatte um die New Women nachgezeichnet werden (in fünf weiteren Kapiteln, aus denen Teil II besteht). Dabei – darauf legt Luckhurst großen Wert – soll es eben nicht wie in anderen Darstellungen der viktorianischen Beschäftigung mit sogenannten ›grenzwissenschaftlichen‹ Phänomenen 1 darum gehen, »how this absurd pseudo-science ensnared apparently intelligent men and women in the nineteenth century before being properly dismissed to the margins of knowledge« (S. 2).

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Um einem solchen aufgeklärten Fortschrittsnarrativ zu entgehen, lässt Luckhurst die Unsicherheit bezüglich des Realitätsstatus der Telepathie zunächst bestehen, um seinem Ziel gerecht zu werden: »to write a history of telepathy that does not prejudge« (S. 1). Dasselbe gilt für den Begriff der »Wissenschaft«, den Luckhurst nicht in einem absoluten Sinn verwendet. Vielmehr versteht Luckhurst »Wissenschaft« in Anlehnung an die Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte und -theorie im Gefolge von Foucault, Kuhn, Latour und Rheinberger nicht als klar umrissenen Begriff, sondern möchte die zeitgenössischen Kämpfe um eben diese ›Grenzen‹ dessen, was als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt gelten darf und was nicht, nachzeichnen.

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Telepathie im Spannungsfeld
viktorianischer Wissenschaften

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Der erste Teil des Buches beleuchtet dementsprechend die verschiedensten Instanzen, Institutionen, Disziplinen etc. aus denen sich die Society for Psychical Research (SPR) speist bzw. die das Feld bilden, innerhalb dessen das Phänomen Telepathie sich im untersuchten Zeitraum von 1870–1901 als wissenschaftliches Forschungsobjekt theoretisieren und konzeptualisieren lässt. Luckhurst stützt sich dabei auf einerseits auf Foucaults Archäologie des Wissens und sein Konzept der episteme, andererseits auf Bruno Latour und dessen Beschreibung von wissenschaftlicher Erkenntnisbildung als Resultat eines komplexen Geflechts von Institutionen, Personen, Organen und deren autoritäts- und legitimitätsproduzierende Mechanismen strategischer Ein- und Ausschlüsse.

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Luckhurst beschreibt äußerst detailliert das weitverzweigte Geflecht aus personellen Beziehungen und textuellen Bezugnahmen, innerhalb dessen die Telepathie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ein wissenschaftliches Objekt entsteht, das einerseits die Erforschung jenseitiger Phänomene legitimieren soll, indem diese auf diesseitige Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden, das andererseits aber selbst erst legitimiert werden muss. Seine durchaus überzeugende These ist, dass die Telepathie den Viktorianern gerade deshalb als wissenschaftliches ›Faktum‹ so plausibel erschien, weil sie an andere Diskurse andocken konnte, die weitaus wirkmächtiger waren, nämlich »transformations in energy physics, and the reorientation of conceptions of mind in psychology« (S. 75). Wenn es unsichtbare elektro-magnetische Kraftfelder gab, so fragten sich viktorianische Laien ebenso wie Experten, wieso sollte es dann nicht auch psychische Kräfte geben, die ebenso manifeste Auswirkungen haben?

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Die beiden ersten Kapitel vermögen inhaltlich voll zu überzeugen und sind an Detailreichtum kaum zu überbieten. Allerdings deutet sich schon hier an, was sich im zweiten Teil des Buches sehr unangenehm bemerkbar macht: dass sich die Thesen im Dschungel der Details zu verlieren drohen und die LeserInnen mit der interpretierenden Gewichtung der vorgebrachten Einzelheiten öfters alleine gelassen werden, z.B. wenn sämtliche Teilnehmer einer Séanceaufgezählt und zu jedem noch mindestens ein von ihm verfasster Text und eine Replik darauf referiert werden, ohne dass dies für den weiteren Verlauf der Argumentation von größerer Bedeutung ist. Statt in historischer Akkuratesse Namen auf Namen und Schriften auf Schriften zu häufen, wäre es stellenweise hilfreicher gewesen, Gruppierungen vorzunehmen, selbst auf die Gefahr hin, dann die sicherlich zahlreichen Unterschiede im Detail unterschlagen (oder besser: in den Fußnotenapparat verbannen) zu müssen.

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Brückenschläge

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Der zweite Teil des Buches nimmt eine Erweiterung des Blickwinkels vor und verfolgt das Konzept der Telepathie, wie es im späten 19. Jahrhundert in den unterschiedlichsten literarischen, gesellschaftlichen, journalistischen und kolonialistischen Kontexten (also eben nicht nur im Expertenkreis viktorianischer Wissenschaftler) Verwendung findet. Den Anfang macht W.T. Stead mit seinem Entwurf eines New Journalism, der durch die Möglichkeiten der schnellen Kommunikation eine Art vox populi schaffen sollte. Steads Vorstellung von dieser Repräsentation der öffentlichen Meinung als eigentlichem Souverän verbindet Luckhurst mit dem Empire-Diskurs. Als Brücke dient hier die Verbindung von Telepathie mit den Möglichkeiten der technischen Tele-Kommunikation (z.B. Telegraf und Telefon), wie sie in Steads Überzeugung zum Ausdruck kommt, der menschliche Körper könne als Telefon fungieren, so wie er es selbst in telepathischen Ferngesprächen mit seiner Mitarbeiterin erlebt habe. Wie der Telegraf die technische Grundlage für den Zusammenhalt des Empires auf der Ebene von Kommunikation und Kontrolle leisten sollte und in populären Lobpreisungen zum Instrument der Völkerverständigung stilisiert wurde, so sieht Stead auch die Telepathie im Dienste der Verbrüderung der verstreuten angelsächsischen communities zu einer (föderalen) Einheit.

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Um das Empire und seine kolonialen Ränder geht es auch im vierten Kapitel. Hier betrachtet Luckhurst die unzähligen Erzählungen über Geistererscheinungen und ›abnormal phenomena‹ unter kolonialen Gesichtspunkten, wobei darunter nicht nur die als ›Tatsachenberichte‹ daherkommenden Fälle subsumiert werden, die von der SPR untersucht und überprüft werden, sondern auch die in ethnographischen Arbeiten von Andrew Lang und Mary Kingsley auftauchende Folklore, sowie die angeblich auf solcher Folklore beruhenden Erzählungen Rudyard Kiplings. Luckhurst sieht all diese Materialien als Quellen für eine Rekonstruktion okkulter Vorstellungen (oder doxai, wie Luckhurst es nennt), die im kulturellen Imaginären der Viktorianer kursieren. Luckhurst beschreibt die Ränder des Empires als eine Kontaktzone, in der die im imperialen Zentrum Londons gültigen Grenzziehungen zwischen wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen und populärem Aberglauben nicht ganz so starr sind und die somit Platz lassen für okkulte Vorstellungen.

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Hier und in den weiteren Kapiteln bleibt der Bezug der Beispiele zum Kernthema der »Telepathie« manchmal etwas unklar. So werden selbst Mary Kingsleys Berichte über ihre Adaption des Fetischdenkens während ihrer Expeditionen für Luckhurst zum Beispiel einer telepathischen Kommunikation. In den zitierten Textbeispielen geht es jedoch keineswegs um eine Kommunikation zwischen Personen, sondern lediglich um (zeitweilige) Übernahme von Denkmustern. Hier scheinen Telepathie, Empathie und Sympathie zu einer einzigen übersinnlichen Fähigkeit zu verschmelzen; was am so genannten going native jedoch auf okkulte Phänomene schließen lassen soll und ob dies nicht bedeutet, die Grenzen des Begriffes »Telepathie« über Gebühr auszudehnen, bleibt letztlich fraglich. Luckhurst ist sich dieses Umstandes sehr wohl bewusst, auch wenn er ihn offenbar nicht als problematisch empfindet, wie seine Ausführungen im Vorwort zeigen: »At a certain point, then, telepathy becomes less of an object than an instrument in this study, a device for traversing the knowledge networks of the late Victorian era« (S. 4).

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Im fünften Kapitel wendet sich Luckhurst gegen eine zu klare Subsumierung der spätviktorianischen Gothic Fiction unter dem Label der Degeneration. Zwar sei es durchaus richtig, dass diese Texte von der Sorge um die Degeneration umgetrieben werden, doch dürfe dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass in ihnen auch entgegengesetzte Kräfte wirken. So werde die Hyperästhesie keinesfalls nur als Zeichen der pathologischen Deviation lesbar, sondern eben in Anlehnung an Fredric Myers auch als eines der Progression, der evolutionären Weiterentwicklung. Myers, ein prominentes Mitglied der SPR, hatte nämlich in seiner Theorie des Subliminal Consciousness eine solche positive Bewertung vorgenommen, die Luckhurst zufolge durchaus auch Einfluss auf andere Theoretiker wie z. B. Eugene Talbot hatte. Luckhurst holt also die Psychical Research in die Betrachtung des late victorian gothic zurück, um ein polyvalenteres Bild zu zeichnen, als es eine allzu glatte Vereinheitlichung unter dem Paradigma der Degeneration seiner Meinung nach getan hatte.

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Zu diesem Zweck zeigt Luckhurst in einer Reihe literarischer und biographischer Analysen das diffizile Verhältnis von Autoren wie Richard Marsh, Bram Stoker, R. L. Stevenson und Arthur Machen zur Psychical Research auf und kommt so z. B. bezüglich Stokers Dracula zu dem Ergebnis, dass Friedrich Kittlers Lesart von Mina als Mittelpunkt und Relaisstation in einem informativen Netzwerk, um den telepathischen Kontakt mit Dracula erweitert werden müsse.

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Zwei weitere Kapitel, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden soll, bringen den angestrebten Rundgang durch die zeitgenössischen Netzwerke des Wissens zu seinem Abschluss. Zunächst beleuchtet Luckhurst die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Mediumismus und Nervosität im Hinblick auf das in ihnen vorgenommene gendering und wirft einen Blick auf die diversen biographischen Verbindungen der James-Geschwister zur Psychical Research, um dies für die Analyse okkulter Beziehungen in den literarischen Texten von Henry James fruchtbar zu machen. Im Anschluss daran gibt Luckhurst einen Ausblick auf den Einfluss der Telepathie und verwandter Konzepte auf den Modernismus des beginnenden 20. Jahrhunderts und die kontinentale Entwicklung der Freudschen Psychoanalyse.

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Was bleibt?

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Luckhursts penibel recherchierte und minutiös dargelegte Geschichte der Telepathie zeichnet sich durch die Weigerung aus, die Akteure und ihr Forschungsobjekt ins Lächerliche zu ziehen. Gerade durch die offene Konzeption von Wissenschaftlichkeit wird Luckhurst seinem Gegenstand besonders gerecht, denn nur so gelingt es ihm, den Blick auf die historische Bedingtheit der von ihm skizzierten Diskurse nicht zu verstellen, sondern die Wissenschaftslandschaft des Fin-de-siècle in ihrer Komplexität anschaulich werden zu lassen, in der eben die Grenzen dessen, was als wissenschaftlich zu gelten vermag, noch nicht so eng gezogen waren. Luckhurst entgeht damit den Fallen eben jener (Wissenschafts-)Geschichtsschreibung, die ihre Akteure fein säuberlich in eine wissenschaftlich-orthodoxe und eine kauzig-okkulte Hälfte trennt und damit genau das reproduziert, was den Wissenschaftler William Crookes zu dem von Luckhurst zitierten Ausspruch veranlasste: »I have, it appears, two allo-tropic personalities, which I may designate, in chemical language, Ortho-Crookes and Pseudo-Crookes« (S. 36).

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Beachtenswert ist insbesondere auch Luckhurst gewichtiger Einwand, dass um 1900 noch verschiedene psychologische Modelle um Deutungsmacht konkurrierten und (zumindest in England) die Freudsche Konzeption der menschlichen Psyche weitaus weniger einflussreich war, als beispielsweise Myers Theorie des Subliminal Consciousness. Dass es sich dabei keineswegs um eine Spitzfindigkeit handelt, zeigt sich daran, dass Myers Modell, das mehrere gleichwertige Persönlichkeiten gleichzeitig in einem Körper zuließ, viel mehr Spielraum für eine Verwischung der Identitäten (z.B. im Mediumismus) bereitstellte, als das seines Wiener Kollegen.

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Den LeserInnen, die sich weder durch den stolzen Preis noch durch die etwas mühsame Lektüre abhalten lassen, bieten sich somit faszinierende Einblicke in die viktorianische Kultur in ihrem ganzen Facettenreichtum, von emergenten Wissenschaftsdiskursen über imperiale Degenerationssorgen bis zum Streit nervöser Männer und hysterischer Frauen.

 
 

Anmerkungen

Luckhurst bezieht sich hier vor allem auf Janet Oppenheim: The Other World. Spiritualism and Psychical Research in England, 1850–1914. Cambridge: Cambridge University Press 1983.   zurück