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  • Claudia Gehards / Stephan Borg / Bettina Lambert (Hg.): TV-Skandale. (Kommunikation audiovisuell 35) Konstanz: UVK 2005. 408 S. Broschiert. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 3-89669-470-7.
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Alles, was es über TV-Skandale
zu sagen gibt

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Es ist ein Skandal: Es gibt den Fernseher. Von Beginn an begleitete diesen schmucken Einrichtungsgegenstand ein Image als bad boy, der Kinder verführen und Erwachsene in ihrem moralischen Empfinden tief treffen könnte. Er unterminierte mit seinem Einzug die Grenzen zwischen dem trauten Heim und der unsicheren Umwelt. Mit ihm kam das Fremde geradewegs ins heimische Wohnzimmer. In dem Maße, in dem das Fernsehen Teil unseres Alltags ist, wir das Medium als natürlichen Begleitgegenstand gewohnt sind, treffen uns die Skandale, die dieses Medium vermittelt.

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Am 30. September 2000 wurde Mohammed al-Dura gefilmt. Man sieht den zwölfjährigen Jungen weinend Schutz vor einem Kugelhagel im Gazastreifen suchend. Wenig später ist der Junge tot. Für viele Palästinenser ist er zum Märtyrer geworden, ein unschuldiges Opfer der brutalen Tyrannei Israels. Der Bericht, der ihn kurz vor seinem Tod zu seiner traurigen Berühmtheit kommen ließ, wurde für das Französische Fernsehen gedreht und auf France 2 ausgestrahlt. Kurz darauf kamen Zweifel an der Echtheit des Materials auf. Im Auftrag des Hessischen Rundfunks wurde von Esther Schapira ein Dokumentarfilm zu dem Fall gedreht. Seitdem reißt die Kritik an der Berichterstattung des Französischen Fernsehens in diesem Fall nicht ab. Schapiras vielfach ausgezeichneter Film wurde bisher nicht im Französischen Fernsehen ausgestrahlt. Das weitere Vorgehen in diesem Fall wird zurzeit vor Gericht verhandelt. Die Wahrheit wird sich aller Voraussicht nach nicht rekonstruieren lassen, festzustellen bleibt aber, dass dieser Bericht, der für die Intifada zu einem Schlüsselerlebnis wurde, Anschuldigungen gegen die Israelische Armee erhob, die in ihrer Eindeutigkeit in diesem Fall nicht zu belegen sind. Unabhängig davon beanspruchte der Bericht allein durch seine Ausstrahlung seine eigene Wahrheit, die ihrerseits gewalttätige Ereignisse nach sich zog.

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Das Problem mit TV-Skandalen ist sicherlich, dass ihre Thematisierung stets der Gefahr ausgesetzt ist, dem Medium selbst zu erliegen. Neben der Werbung ist die Eigenwerbung für das Medium Fernsehen unabdingbarer Teil seiner Existenz. Die Thematisierung der Skandale in und um das Fernsehen ist zugleich ein Werben für dieses Medium, das ohne Reden in und über sich nicht auszukommen vermag.

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Hierbei streift man ein weiteres, grundlegenderes Problem: Wie kann man dem Fernsehen in einem analytischen Blick gerecht werden? Wie kann man die allgegenwärtige unübersehbare Flut von Bildern unter einem Begriff subsumieren und wie kann man das Reden, besser noch das Skandalisieren des Fernsehens in einer Form betreiben, die nicht die Skandalträchtigkeit dieses Mediums fördert?

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Am Beginn war der Apparat

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Sinnvoll scheint hier entweder eine empirische Arbeit im Bergwerk des Begriffs Skandal am Beispiel der Fernsehgeschichte, oder aber eine Beschäftigung mit den verschiedenen Facetten des Begriffs Skandal am Beispiel des Fernsehens. Der vorliegende Band versucht eine Kombination aus beiden und stellt sich darüber hinaus die Aufgabe, den Skandal im, am und um das Fernsehen zu beleuchten. Dabei trägt er heterogene Ansätze mit unterschiedlichen Analysemethoden zusammen. Die Vielzahl der in diesem Band versammelten Artikel zeigt auf, dass es nicht den Prototyp eines Fernsehskandals gibt, sondern vielmehr unterschiedliche Arten von TV-Skandalen und ihrer Bewertung. Dies ist insgesamt entgegen der ersten Betrachtung eine der Stärken dieses Bandes. Versteht er sich doch als Schnittstelle zwischen praktischen, dem Betrieb des Mediums geschuldeten Betrachtungsweisen und theoretischen Reflexionen über die prinzipiellen Möglichkeiten und Reichweiten eines Fernsehskandals. Nicht zuletzt an dieser Stelle zeigt sich der Vorteil des unspezifisch gefassten Titels des vorliegenden Bandes. Denn so gelingt es, die verschiedenen Arten und Facetten der Skandalisierung in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Der Skandal selbst verliert dabei eine seiner vermeintlich wesentlichen Eigenschaften: die der Eindeutigkeit.

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Annäherung an
die Überproduktion

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Die 24 Artikel sind in vier Rubriken zusammengefasst und werden durch eine kleine Philosophie des Fernsehskandals von Lorenz Engell eingeleitet. Engell analysiert die etymologische Bedeutung des Wortes Skandal und kommt auf die von sexuellen Untertönen begleitete Beschreibung des Skandalons, den Stein des Anstoßes oder den Fallstrick. Schon in seiner ursprünglichen Bedeutung verweist der Begriff somit nicht nur auf ein Skandalgeschrei, sondern implizit stets auf eine Apparatur: hier die eines Steins, der mit einem Stellholz, an dem eine Leine befestigt ist, zu einer tödlichen Falle wird. Zieht man das Stellholz weg, wird die Beute unter dem herabfallenden Stein begraben.

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Die Beschreibung des Skandals als Apparat verweist zugleich auf einen nicht offensichtlichen Umstand: Skandale werden bewusst programmiert und medial inszeniert. Insgesamt versichert sich das Medium Fernsehen erst anhand der durch es produzierten, generierten oder reflektierten Skandale seiner eigenen Existenz, die stets zwischen den Extrempunkten Leere und Fülle angesiedelt ist.

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Skandalöse Unterscheidung

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Nach dieser Grundlegung erkennt man, dass die folgenden, thematisch gebündelten Artikel angetreten sind, die verschiedenen Facetten dieses umfangreichen Bereichs, der nach Engell nichts geringeres als die Welt und ihr Gegenteil darstellt, zu analysieren.

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Die Rubrik »Show« zeigt nicht nur die Genealogie bekannter Fernsehshows und ihrer Skandale auf, sie beschäftigt sich ebenso mit der Geschichte des Heiratens im Fernsehen und analysiert die Formate, in denen das Fernsehen angeblich der Wahrheit so nahe kommt, wie es lediglich Realität adaptiert und sendet. Hier, bei der Betrachtung des Reality-TV zeigt der Skandal seine inhärente Funktionsweise: er beschreibt das Normale und schreibt sich somit selber in den Bereich der Normalität ein, wie Nicolas Pethes am Beispiel von »Ich bin ein Star« mustergültig vorführt.

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Anknüpfend an diese Überlegungen entwickelt Peter M. Spangenberg die Koordinaten der ästhetischen und pragmatischen Koordinaten des Fernsehskandals und rückt damit nicht den Begriff des Skandals, sondern die alltäglichen Kommunikationsprozesse, ihre Voraussetzungen und Veränderungen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Je mehr sich das Fernsehen das Ziel setzt, die Privatheit, wie zum Beispiel in den Big Brother Staffeln, zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen, desto offensichtlicher werden die heimlichen Zugeständnisse an die Produktion eines solchen Unternehmens. Hier zeigt sich das Paradox des Versprechens von Reality-TV: um Reales fernsehkompatibel zu machen, muss diese Realität inszeniert werden.

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Die zweite Abteilung ist mit dem weit zu verstehenden Wort der »Fiktion« überschrieben und subsumiert die Entwürfe von Skandalen geschlechtlicher Darstellung im Fernsehen, handelt davon, was passiert, wenn ein Tatort zu gewalttätig ist, und stellt sich die Frage, welche Verdachtsmomente der Zeit nach Sendeschluss innewohnen. Auch wenn die einzelnen Artikel informativ sind, so wird hier leider nicht der Versuch unternommen, den Bereich der Fiktion als einen zu verstehen, der den gesamten Apparat Fernsehen durch eine obszöne Nicht-Wahrheit unterlegt und damit die Grundlage einer Vielzahl von Skandalgeschichten um dieses Medium bildet. Gerade die Skandalisierung der Abweichung von vorgenommenen Normen markiert eines der wesentlichen Merkmale dieses Mediums.

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Die dritte Gruppe »Musikfernsehen & Videoclips« versammelt Aufsätze zu Musikikonen wie Elvis Presley, Madonna oder Eminem, Gespräche über Skandale, Tabubrüche, aktives Marketing und der Skandalisierung von Gewaltdarstellungen. In seinem Aufsatz zum Rapper Eminem zeichnet Malte Friedrich die Inszenierungen von Grenzüberschreitungen als inhaltliches Programm nach. Schließlich musste sich der weiße Sänger in einem durch Farbige dominierten Metier durchsetzen und gleichzeitig stets neue sexuelle Anzüglichkeiten präsentieren, um sich im Rap-Gerede halten zu können. Ähnlich nüchtern und erfrischend normal zeigt Lothar Mikos in seinem programmatischen Artikel über Aufmerksamkeitsrituale, dass es sehr wohl eine Anwendung von Strukturen und Funktionen der Skandalisierung medialer Gewaltanwendungen gibt. Am Beispiel der Videos der Gruppe Rammstein zeichnet Mikos nach, dass diese Gruppe konzeptuell Normen verletzt, um eine öffentliche Empörung zu provozieren. Schon mit ihrem Debutalbum 1995 verfolgte die Gruppe dieses Konzept und erreichte durch die Empörung eine verkaufsfördernde Skandalisierung ihres Vorgehens.

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Dass hier ein Konzept verfolgt wird, welches moralische Paniken entstehen lässt, da unter anderem Gewalt dargestellt wird, zeigt letztlich lediglich die Grenze von moralischer Entrüstung. Denn hier geht die Sensibilität für Differenzen in der Bewertung verloren, die Skandalisierung sichert sich lediglich die Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs und bewirkt somit das Gegenteil des intendierten Zwecks.

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Die abschließende Rubrik »TV-Magazine: Der ›Fall Michael Born‹« beschäftigt sich facettenreich mit der Inszenierung und Planung von Fernsehwirklichkeiten, ihren Grenzen und prinzipiellen Voraussetzungen.

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Neben den Gesprächen mit Michael Born, der inszenierte Dokumentationen an kaufwillige Politmagazine veräußerte, und Michael Berger, der Born noch einmal spezifisch etikettiert, lohnt es an dieser Stelle den Aufsatz von Alexander Plappert hervorzuheben. In seiner juristischen Betrachtung führt er anhand des Falls Born und Kummer aus, wann ein Fernsehbetrug überhaupt erst justiziabel zu verfolgen ist. Der Filmemacher wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, nicht weil er gefälschte, erfundene oder nachgestellte Szenen als Dokumentationen etikettierte, sondern weil er hiermit einen ökonomischen Betrug beging. Denn zentrales Kriterium sind nicht die öffentlich skandalisierten Fälschungen, die dann in Nachrichtenmagazinen ausgestrahlt wurden und zu Falschinformationen des Zuschauers führten, sondern die Beschädigung des Vermögens eines Dritten. Nicht die auf einer Lüge basierende Faschmeldung ist somit das juristisch zentrale Kriterium eines Betruges, sondern die auf der Lüge basierende Täuschung, die sich in einem Geldwert bemessen lässt.

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Der Fälscher
als Medientheoretiker

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Ausgehend von diesem vor zehn Jahren Aufsehen erregenden Fall untersucht Matthias Bickenbach in seinem Beitrag »Der Fälscher als Poetologe und Medientheoretiker« den Fake als grundlegende Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf des Mediums Fernsehen. Damit stellt er die abschließenden Reflektionen über das Medium an Hand eines konkreten Falles an, um den allgemeinen Überlegungen von Engells zu Beginn des Bandes ein Komplementär gegen Ende zu liefern.

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Erst die Fälschung bringt ein Medium hervor. Die Werkstattberichte Tom Kummers und Michael Borns dienen Bickenbach dazu, um die grundlegenden Merkmale eines Mediums und deren begrenzte Wahrheitseffekte extrapolieren zu können. Da ein moralisches Urteil eine weitergehende Kritik, welche auf die medientheoretischen und poetologischen Fundamente abhebt, blockiert, forscht Bickenbach nach einer außermoralischen Möglichkeit, die Fälschung als blinden Fleck im System eines Mediums zu begreifen. Auf diese Weise erst kann man die Stellen der Fälschung als systemisch ausgeblendete Felder auffassen.

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Letztlich legt der Skandal um Tom Kummer und Michael Born lediglich die konkrete Wahrheit des Mediums im außermoralischen Sinne offen. Hierbei muss eine Poetologie der Fälschung von den Geschichten der Personen abstrahieren und die Texte als Darstellung lesen, um die Protagonisten als die offen versteckten Regeln des Mediums zu verstehen.

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Die Fälschung als solche setzt lediglich dezidierte Kenntnisse und ein hohes Maß der Bezugnahme auf das zu Fälschende voraus. Sie triumphiert erst, wenn sie täuschend echt wirkt. Zum Skandal aber kommt es nur dann, wenn mit der Aufdeckung einer Fälschung zugleich eine bisher verborgene Struktur in den Fokus der öffentlichen Meinung rückt. Der Skandal im Fall Kummer / Born lag weniger in der Fälschung an sich als vielmehr im Aufdecken der Strukturen, die nach solchem Material verlangen, um es als Nachricht senden zu können, und damit letztlich auf ein Bedürfnis der Öffentlichkeit verweisen, das diese empört von sich weist.

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Nietzsche legte in seiner frühen sprachphilosophischen Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn dar, dass die Sprache nach ihren eigenen medialen Regeln Wahrheiten produziert und damit in ihrer sprachlichen Umformung von Wahrnehmungen und Empfinden schon systematisch lügt, da diesem Umwandlungsprozess eine systematische Verfälschung zu Grunde liegt. So wie sich Gefühle sprachlich ausdrücken lassen, drückt die Sprache keine Gefühle aus, sondern lediglich ihre konventionellen Zeichen, die letztlich den Bruch, den sie markieren, verdecken. Indem Nietzsche hier Sprache als Medium begreift, das nach seinen eigenen Regeln funktioniert, ist er ein Vorläufer aller späteren Medientheorien.

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Der Fall Rodney King veranschaulicht diesen Sachverhalt. Die Videoaufnahmen, die George Holiday 1991 zufällig drehte, dokumentieren eine Prügelorgie: Der farbige Autofahrer Rodney King wird von der Los Angeles Police brutal zusammengeschlagen. Die Veröffentlichung dieser Bilder, die gerade durch ihre Unschärfe ungeheuer authentisch wirken, führt zu tagelangen Ausschreitungen farbiger Bewohner von Los Angeles. Holiday erschuf mit seinen Bildern einen neuen Stil, der analog zu Aufnahmen aus Überwachungskameras statt auf Recherche für einen Bericht auf pure Anwesenheit setzt, größte Nähe suggeriert und gerade dadurch für jede Art der Fälschung sowie der fälschlichen Interpretation prädestiniert ist. Indem Medien nach ihren Regeln darstellen, lügen sie zugleich, und im selben Atemzug können wir unser Wissen lediglich über die Medien beziehen. Die von McLuhan geprägte Erkenntnis bleibt auch hier gültig: dort, wo das Medium die größte Annäherung an die Wahrheit verspricht, gar Realität abbilden möchte, erreicht sie den Punkt ihrer größten Täuschung.

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Nach dem Geschrei

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Die Auswahl der Gruppen markiert die Beschränkung auf das selbstreferentielle Fernsehen und lässt neben den Fernsehsportübertragungen leider auch die Nachrichtensendungen außen vor.

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Auch wenn insgesamt unklar bleibt, weshalb in diesem aktuellen Band ein Aufsatz aufgenommen wurde, der schon vor fünf Jahren veröffentlicht wurde (Pruys), und ein anderer drei Jahre nach seiner Veröffentlichung hier wieder abgedruckt wird (Bronfen), stellt der Band durch seinen Facettenreichtum seine heterogene Zusammenstellung, philosophische, theoretische Reflexionen und Interviews im Bezug zur Fernsehpraxis einen umfassenden Überblick über Formen, Arten und Grenzen des Skandals im und um das Fernsehen dar. Letztlich lernt man weniger über das Medium TV als über das Medium Umwelt, nicht das schlechteste Kompliment, das man einer so vielschichtigen Darstellung der Skandale aussprechen kann.