IASLonline

Frivoles Schreiben.
C.J.L. Almqvists Exil-Manuskripte

  • Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C. J. L. Almqvist. (Beiträge zur Nordischen Philologie 39) Tübingen, Basel: Francke 2005. 510 S. Kartoniert. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 3-7720-8086-3.
[1] 

Einer 510 engbedruckte und großformatige Seiten starken Abhandlung entgegenzuhalten, sie sei zu knapp geraten, erscheint abwegig. Gleichwohl legt die ob ihrer Gründlichkeit und gedanklichen Schärfe imponierende Almqvist-Studie Klaus Müller-Willes diesen Einwand nahe.

[2] 

Die Almqvist-Forschung boomt

[3] 

Das Werk des schwedischen Schriftstellers Carl Jonas Love Almqvist (1793–1866) stellt eine spezielle Herausforderung für den Leser dar – insbesondere für den Literaturwissenschaftler. Zum einen ist es ein Konglomerat unterschiedlichster Textsorten: literarischer, wissenschaftlicher, pädagogischer u. a. Schriften, die sich meist klaren Gattungszuordnungen entziehen. Zum anderen zeichnen sich die Texte durch eine hochkomplexe, vielfach selbstreflexiv umgestülpte Struktur aus. Und zum dritten weisen die während vier Jahrzehnten und über mindestens zwei literaturgeschichtliche Epochen hinweg entstandenen Schriften eine große stilistische und formale Heterogenität auf. Schließlich bietet die von Almqvist selbst veranstaltete, aber mehrfach revidierte Zusammenstellung der Mehrzahl seiner Schriften in dem Sammelwerk Törnrosens bok Anlass zu eingehenden Reflexionen über mögliche textüberschreitende Ordnungsprinzipien und Bedeutungsgefüge.

[4] 

Diese Herausforderung übt auf die gegenwärtige Literaturwissenschaft eine besondere Attraktivität aus. So sind allein seit 2002 neben der hier besprochenen Studie sechs weitere Monographien zu Almqvist erschienen 1 – eine für die Verhältnisse in der skandinavischen und skandinavistischen Literaturwissenschaft bemerkenswerte Forschungsdichte. Klaus Müller-Wille fügt den genannten Anstößen für eine Beschäftigung mit Almqvist einen weiteren hinzu: den erstaunlichen Sachverhalt, dass trotz der großen Aufmerksamkeit für einen der bedeutendsten schwedischen Autoren des 19. Jahrhunderts ein umfangreiches Manuskriptmaterial unpubliziert in der Königlichen Bibliothek und im Archiv des Nordischen Museums in Stockholm schlummert. 2 Es handelt sich um Texte, die allesamt in den Jahren von Almqvists Exil (1851–1866) entstanden sind und von denen Müller-Wille auch wieder nur einen Ausschnitt behandelt: nämlich diejenigen Schriften, die als Teil von Törnrosens bok verstanden werden können, und von diesen wieder nur die kürzeren Texte ohne die 1400 Manuskriptseiten umfassende Abhandlung Om svenska rim. Om svenska rim wiederum steht im Zentrum von Per Mårtensons zeitgleich publizierten Stilstudier i Almqvists exilförfattarskap (2005). Beide Arbeiten zusammen füllen also eine wesentliche Lücke der Almqvist-Forschung. 3

[5] 

Theorie des Archivs

[6] 

Die Erschließung neuen Materials ist verdienstvoll genug, besonders wenn sich die in der Forschung bislang als »Schreibereien« abgetanen Texte als so fruchtbar und aussagekräftig erweisen, wie dies Müller-Wille vor Augen führt. 4 Es ist aber keineswegs die einzige Leistung seiner Studie. Sie ist nur der Ausgangspunkte für eine akribische Analyse des ›Archivs‹ (zu diesem Begriff gleich mehr), in dem sich Almqvists Schriften als Texte konstituieren: eine Analyse der diskursiven und medialen Rahmen, die die Semiose der Texte begrenzen und u. a. die Vorstellungen von ›Sinn‹, ›Subjekt‹ und ›Autorschaft‹ regulieren. Entscheidend ist aber, dass Klaus Müller-Wille stets die paradoxe Bewegung in den Blick nimmt, in der Almqvists Texte sich auf ihr Aufschreibesystem und ihre Rahmungen rückbeziehen und so zu einer »textinterne[n] Reflexion der spezifischen Zeichensysteme, diskursiven Praktiken, medialen Formierungen und Körpertechniken führen, welche maßgeblich zur Regulation von Denken und Handeln im Schweden des 19. Jahrhunderts beigetragen haben.« (S. 18 f.) Mit dieser Weitung des Blickwinkels wird die Arbeit zu sehr viel mehr als einer weiteren Almqvist-Werkstudie. Sie lässt sich auf eine grundlegende theoretische Reflexion der historisch je spezifischen Möglichkeitsbedingungen von Literatur und Wissen ein, die für eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft, die ein Mindestmaß an theoretischer Reflektiertheit für sich in Anspruch nimmt, über den Rahmen der Skandinavistik hinaus Maßstäbe setzt.

[7] 

Während Almqvists Werk aus den Jahren des Exils bislang, wenn überhaupt, im Wesentlichen aus einem biographischen Blickwinkel betrachtet wurde, wählt Klaus Müller-Wille einen Ansatz, der vom Autor als Person absieht und durch eine fundierte literaturtheoretische Perspektivierung ganz neue Einsichten eröffnet. Er verbindet Derridas Dekonstruktion mit diskursanalytischen und medientheoretischen Ansätzen (er spricht ausdrücklich von bricolage und geht mit den Spannungen zwischen den genannten theoretischen Blickwinkeln offensiv um). Dabei ist es ihm wichtig, sich von einem vereinfachenden Verständnis der Dekonstruktion als einer ahistorisch gedachten, infiniten Entgrenzung der Sinnpotenziale eines Textes oder einer unendlich subversiven Textbewegung abzusetzen. Dass Almqvists Werk eine solche Lektüre nahe legt, insbesondere wenn man es mit frühromantischen Ästhetiken in Beziehung setzt, hat zu einem Florieren dekonstruktivistischer Ansätze in der schwedischen Almqvist-Forschung seit den 1980er Jahren geführt. Müller-Wille setzt demgegenüber darauf, Derridas Einsicht in die unhintergehbare Exteriorität des Geistes mit Hilfe von Diskursanalyse und Medientheorie historisch zu konkretisieren. Hier kommt nun der von Foucaults Archäologie des Wissens entlehnte Begriff des Archivs ins Spiel, nämlich als einem »historischen Apriori« (Foucault), das »über die spezifischen Äußerungsmodalitäten und diskursiv bestimmten Regeln Aufschluß geben [soll], über die sich Subjekte, Gegenstände, Begriffe und Textstrategien konstituieren« (S. 21). Foucaults Konzept wird von Müller-Wille zudem mediengeschichtlich fundiert, d. h. die mediale Hardware wird berücksichtigt, die einem historisch spezifischen Archiv zugrunde liegt.

[8] 

Rahmungen des Wissens

[9] 

In den folgenden Großabschnitten umkreist Müller-Wille je einen wesentlichen Aspekt des Archivs und verbindet dies mit einer Analyse der genannten Handschriften Almqvists: In Abschnitt I diskutiert er anhand einer Schrift über Plinius’ Historia Naturalis Almqvists Überlegungen zu möglichen Ordnungen des Wissens, die im Gegensatz zu Hegels idealistischer Konzeption in der Phänomenologie des Geistes insbesondere deren sprachliche Bedingtheit in den Blick nimmt. Zum einen lenke Plinius’ enzyklopädisches Projekt in Almqvists Schrift die Aufmerksamkeit auf die »spezifische[ ] Text- und Datenverarbeitungstechnik« (S. 117), die einem Wissenssystem zu Grunde liege. Zum anderen wird auf die Bedeutsamkeit der Paratexte – hier: des Vorworts – hingewiesen, nicht nur weil sie den textuellen Rahmen für die Konstitution von Wissen bereitstellen, sondern weil sie ein temporales und mediales Außerhalb der Wissensordnung bezeichnen, das den Blick auf die Performanz von Sprache und Schrift lenkt (auf die konstituierende Sprachhandlung, die die Narration fundiert) und damit die Reduktion des Textes auf eine reine Bewegung des Geistes unterläuft (S. 118).

[10] 

Almqvist als Sprachlehrer

[11] 

Während in Abschnitt I ausführliche philosophiegeschichtliche Erörterungen zu Hegel und Kierkegaard (Forord) breiten Raum einnehmen (bei aller Bewunderung für die Tiefenschärfe der Reflexionen eine echte Herausforderung, dies sei eingestanden, für die Aufmerksamkeit des eher literaturgeschichtlich interessierten Lesers), wendet sich Müller-Wille im zweiten Großabschnitt den pädagogischen und sprachtheoretischen Diskursen der Zeit um 1800 zu. Er legt zunächst dar, wie der Übergang von mechanischen und zitierenden (von den Reformpädagogen als Kompilation »toten« Wissens verurteilten) zu organizistischen und ganzheitlichen Lerntechniken als Teil neuer Machtpraktiken verstanden werden kann, die die Disziplinierung in die Körper der Schüler selbst verlagern. »Modelle der Fremdkontrolle werden durch solche der effektiveren Selbstregulierung ersetzt.« (S. 179) Vor allem Foucault, aber auch Kittler bilden hier wesentliche Bezugspunkte der Argumentation.

[12] 

Als Schulleiter und Lehrbuchverfasser hatte Almqvist unmittelbar teil an den reformpädagogischen Bestrebungen in Schweden und befasste sich auch mit der Sprach- und Schreiblehre. Die genauere Auseinandersetzung mit Almqvists Sprachlehrbüchern erlaubt Müller-Wille, dessen Verständnis der Medialität von Sprache und insbesondere von Schrift genauer zu beleuchten. In Analogie zu Sprachkonzepten im deutschsprachigen Raum (Friedrich Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Jacob Grimm, Franz Bopp) zeigt sich deutlich der Charakter der Internalisierung eines organisch gedachten Regelwerks in Almqvists Sprach- und Schreibpädagogik, das sich scharf von älteren auf mechanischer Imitation beruhenden Pädagogiken absetzt. Interessanter ist freilich, dass sich eine solche Naturalisierung von Sprechen und Schreiben in ihr Gegenteil zu verkehren scheint, wenn die Medialität der Signifikanten (etwa in Almqvists Svensk rättstafningslära) und die Eigendynamik des Sprach- und Schriftsystems in den Blick kommen. Müller-Wille spricht mit Kittler vom »take-off der Operatoren« (S. 186), die die Vorstellung einer Organizität von Sprache und Schrift unterlaufen und die ›seelenlose‹ Buchstabenkombinatorik des 18. Jahrhunderts über die Hintertür wieder einlassen.

[13] 

Performativität des Manuskripts

[14] 

Der letztgenannte Aspekt wird in Abschnitt III in Bezug auf die Schriften Om Mamseller und Nattstycke weiter vertieft. Ich konzentriere mich auf Nattstycke, weil es sich um einen Dialog über das Schreiben, genauer: um technische Modi der Handschrift, handelt, der unmittelbar an die schrifttechnisch-performativen Überlegungen des vorigen Abschnitts anschließt. Wie kaum ein anderer Text Almqvists lenkt Nattstycke die Aufmerksamkeit auf die Materialität des Schreibens selbst und unterläuft damit die reformpädagogischen Disziplinierungstechniken, die gerade auf die »Loslösung von der materiellen Grundlage der Texte« zielen, auf die »Verflüssigung der Signifikanten, welche es den Interpreten erlaubt, aktiv mit den Textdaten umzugehen und das durch den Buchdruck beschleunigte Anwachsen der Buchstabenmassen zu bewältigen« (S. 253). Aus dieser Perspektive erscheint es als logische Konsequenz, dass Nattstycke nicht ediert und nicht gedruckt wurde. Denn eine Schrift, die mit unterschiedlichen Papiersorten und Tintenfarben experimentiert, kann ihre spezifische Performativität nur in der Singularität der Handschrift entfalten. Sie erscheint so als Illustration zu den in den Roman Hinden eingefügten Reflexionen des fiktiven Herausgebers der Sammlung Törnrosens bok, des Herrn Hugo Löwenstjerna, dass seine Kompilation sich der allgemeinen Entwertung der Schriftkunst, die der Buchdruck mit sich gebracht habe, nur entziehen könne, indem sie (kunstvoll gestaltetes) Manuskript bleibe (was das nicht-fiktive Törnrosens bok wohlgemerkt nicht geblieben ist). Solche performativen Widersprüche werden immer wieder zu Angelpunkten in Müller-Willes Argumentation – und sein Buch transformiert diese wenigstens an einer Stelle unmittelbar in seine eigene Performanz, wenn ein in das Manuskript eingelegter »grosser [sic] Bogen groben braunen Packpapiers« (S. 250), der mit unterschiedlichen Tinten beschrieben ist, dankenswerter Weise als faksimilierte Tafel samt Schreibmaschinentranskription beigefügt ist. Die Singularität der Handschrift wird damit einer doppelten technischen Reproduktionsmaschinerie überantwortet – und wenn wir eine Müller-Willesche Gedankenfigur übernehmen, stellt sich damit wohl die Frage nach dem Handschriften‑(oder Schreibszenen‑?)Zentrismus einer philologischen / mediologischen Verfahrensweise, derer die Studie sich selbst bedient. Im Übrigen müssen die akribisch genauen Transkriptionen gelobt werden, die zusammen mit den Faksimiletafeln ein instruktives und anschauliches Bild des Manuskriptmaterials vermitteln.

[15] 

Anekdotisches im Zettelkasten

[16] 

In Abschnitt IV schließlich wird der Blick von der technischen Bedingtheit des Schreibens wieder geweitet zur Frage nach einer »Grammatologie des Wissens«, »nach der sprachlichen und medialen Bedingung der Möglichkeit, einzelne Wissenschaften in einen übergreifenden Ordnungszusammenhang zu integrieren« (S. 343). Ausgangspunkt ist das Anecdoticon magnum almaquianum, das Müller-Wille zusammen mit Almqvists Reflexion über Plinius’ Naturalis Historia als Zentrum des Konvoluts der in Amerika entstandenen Schriften sieht (S. 343). Technische Grundlage des Anecdoticons ist der Zettelkasten, seine Genregrundlage die Anekdote. Als einzige der behandelten Schriften ist das Anecdoticon bereits einmal ediert worden, nämlich von Magnus Florin, Anders Olsson und Håkan Rehnberg in Bonniers litterära magasin 1988. Müller-Willes Erörterungen des Anecdoticons und seine Kritik an den früheren Lesarten fassen noch einmal Grundzüge seiner Argumentation zusammen. Gegen eine zu schlichte dekonstruktivistische Lektüre wendet er ein, der Text ziele gerade nicht auf eine Entgrenzung der Semiose, sondern auf deren Verhinderung.

[17] 
Anstatt sprachliche Normen zu subvertieren und mit dem ›offenen‹ Erzählen eine neue sprachliche ›Authentizität‹ zu restituieren, führt der Text in seiner ›perversen‹ Performanz die Kontingenzen vor, die den sprachlichen Normen selbst inhärent sind. (S. 324)
[18] 

Und weil ihm der gängige Verweis auf die frühromantische Fragmentpoetik als Missverständnis erscheint, 5 setzt er sich mit Novalis’ Anekdoten-Konzept auseinander, wodurch die Anekdote (im Gegensatz zum Fragment) als eine didaktische Gattung erkennbar wird, die die Schnittstelle zwischen der Singularität des sprachlichen Ereignisses und seiner Rahmung performativ sichtbar macht. Das Anecdoticon zeigt sich in dieser Lesart nicht schlicht als eine romantische Kritik am Enzyklopädismus der Aufklärung, sondern als ein Text, der sowohl die Kompilations- und Klassifizierungsphantasien des 18. Jahrhunderts als auch die organizistischen Wissensmodelle der Romantik unterläuft.

[19] 

Von der »Textualität« zur »Frivolität«

[20] 

Auf was bezieht sich nun aber die einleitend angedeutete Kritik, die besprochene Arbeit sei zu knapp ausgefallen? Sie bezieht sich auf die Neugier des Lesers, welche Reichweite und Relevanz die an einem begrenzten und im Verhältnis zu Almqvists gesamter Textproduktion ephemer erscheinenden Textmaterial gewonnenen Erkenntnisse denn für die Lektüre seiner früheren publizierten Schriften haben (vielleicht sogar der kanonisierten und in der Forschung vielfach behandelten wie Drottningens juvelsmycke oder Amorina oder Det går an oder Om det europeiska missnöjets grunder). Klaus Müller-Wille widmet dieser Frage den Abschnitt V seiner Studie mit dem ausdrücklichen Anspruch, »einen völlig neuen […] Blick auf das theoretische Potential vorhergehender Texte zu gewinnen« und aufgrund der Beobachtung semiotischer und medialer Veränderungen insbesondere »die traditionelle Gliederung seiner Produktion in eine ›romantische‹ und eine ›realistische‹ Schaffensphase anzufechten« (S. 363).

[21] 

Im Folgenden skizziert er als Gegenkonzept zur Romantik-Realismus-Dichotomie eine Entwicklung in Almqvists schriftstellerischer Produktion, die zwar mit einem romantisch-ganzheitlichen Textmodell anhebt (erläutert an Om det hela, einem religiös-spekulativen Text von 1819), aber schon in Törnrosens bok grundsätzlich in Frage gestellt wird. Schon in dem frühen Roman Hinden, der als Metatext der ganzen Sammlung fungiere, werde deutlich, »daß das abstrakte Textualitätsmodell, das Almqvist in Om det hela entwickelt, in Törnrosens bok durch die Aufmerksamkeit für die spezifische Medialität von Schrift und Bild zur Auflösung gebracht wird« (S. 397). Die Entwicklung münde schließlich in einen produktiv spielerischen (»frivolen«) Umgang mit Zeichensystemen. Müller-Wille exemplifiziert dies am Essay Om poesi i sak (1839), der an der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Formen sprachlicher ›Scharlatanerie‹ deutlich mache, dass es keinen eigentlichen, authentischen Sprachgebrauch gebe.

[22] 
Aus diesem Blickwinkel wirkt die traditionelle Beanspruchung der um 1840 entstandenen Schriften als Exempel des frühen ›Realismus‹ bzw. des ›poetischen Realismus‹ m. E. völlig abstrus. Fast alle Stücke der in diesem Zeitraum publizierten zweiten Reihe der Duodezausgabe von Törnrosens bok (Bd. 8–13) handeln von ›scharlatanischen‹ Sprach- und Zeichenexperimenten, die in eine reine Inszenierung des Zeichengebrauchs selbst münden. (S. 403)
[23] 

Um dies zu belegen, greift Müller-Wille in den abschließenden Kapiteln 17–19 wenige Schriften heraus. Die Auseinandersetzung mit dem orientalistischen Diskurs in der Novelle Palatset und dem historischen Werk Menniskoslägtets saga zeige die Kritik an einem wissenschaftlichen Diskurs, »der in seinem Bemühen, das Fremde als das Andere zu repräsentieren, dieses genau verfehlt« (S. 403). So stelle die Novelle Palatset mit dem »an der Schrift und nicht am transzendenten Signifikat orientierten Taktiken der Japaner« eine sprachliche Praktik dar, »in der die Instanzen von ›Sinn‹ und ›Subjektivität‹ durch Spiel- und Schreibregeln ersetzt werden« (S. 433). Zwei weitere kurze Textanalysen (von Hvad är penningen? und Ormus och Ariman; beide 1839) zielen darauf, die politischen Implikationen von Almqvists Sprachverständnis auszuloten. Bei den Erörterungen von Palatset und Hvad är penningen? handelt es sich um leicht überarbeitete Versionen früherer Aufsätze. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, dass sie (aber auch die entsprechenden Abschnitte zu den anderen beiden behandelten Schriften) als lose Anhängsel der bis zu diesem Punkt außerordentlich dichten Argumentation erscheinen. Dies ist insofern bedauerlich, als man sich die These einer Entwicklung in Almqvists Schreiben von »Textualität« über »Skripturalität« zu »Frivolität« an einem breiteren Textmaterial untermauert wünschte. So steht der sehr dezidiert vorgetragene Generalangriff auf die Romantik-Realismus-Dichotomie der früheren Almqvist-Forschung bei aller Plausibilität der Darlegungen auf relativ dünnen Material-Beinen.

[24] 

Fazit

[25] 

Angesichts all der unbestreitbaren Qualitäten der Arbeit hat dieser Einwand allerdings kein großes Gewicht. Das hohe theoretische Reflexionsniveau, die akribische Aufmerksamkeit für das Detail, die gründliche Durcharbeitung (und in vielen Fällen zunächst einmal Aufarbeitung) des Textmaterials sind imponierend genug. Und sie gehen in keinem Fall auf Kosten der sprachlichen Prägnanz, was bei der Vielfalt der Perspektiven und thematischen Fäden, die der Autor auffächert und immer wieder auch zusammenführt, keine Selbstverständlichkeit ist. So stellt Klaus Müller-Willes Arbeit einen Grundbaustein für zukünftige Almqvist-Studien dar, der besonders wegen seines Theorie-Potenzials hoffentlich auch in der skandinavischen Forschung angemessen zur Kenntnis genommen werden wird.

 
 

Anmerkungen

Anders Burmans Politik i sak. C.J.L. Almqvists samhällstänkande 1839–1851 (2005), Gunilla Hermanssons At fortælle verden. En studie i C.J.L. Almqvists Törnrosens bok (2006), Per Mårtensons Stilstudier i C.J.L. Almqvists exilförfattarskap (2005), Eivor Perssons C.J.L. Almqvists slottskrönika och det indirekta skrivsättet (2003), Jakob Stabergs Att skapa en ny man. C.J.L. Almqvist och MannaSamfund 1816–1824 (2002) und Jon Viklunds Ett vidunder i sitt sekel. Retoriska studier i C.J.L. Almqvists kritiska prosa 1815–1851 (2004).   zurück
Eine Publikation der Manuskripte ist im Rahmen der von Bertil Romberg und Johan Svedjedal herausgegebenen, in Erscheinung befindlichen Ausgabe von Almqvists Samlade verk vorgesehen. Die betreffenden Bände sind noch nicht erschienen.   zurück
Ein Vergleich der beiden, sehr unterschiedlich konzipierten Arbeiten kann hier im Einzelnen nicht geleistet werden. Mårtensons Studie zeigt sich theorie-abstinent, referiert dafür ausführlicher als Müller-Wille die behandelten Texte und konzentriert sich neben einer philologischen Untersuchung des Manuskriptmaterials auf Inhalts- und Stilanalysen.   zurück
Per Mårtensons Studie bestätigt nachdrücklich, dass es sich bei den Exilmanuskripten um ein konsequent konzipiertes und detailliert durchgearbeitetes Textkorpus handelt.   zurück
Auch Mårtenson spricht in Bezug auf Nattstycke vom Fragment als einem Grundstein der Kunstauffassung Almqvists, ohne die Differenz von Fragment und Anekdote zu reflektieren (Mårtenson, Stilstudier i Almqvists exilförfattarskap, S. 153).   zurück