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Frömmigkeit und Poetologie

  • Markus Steinmayr: Menschenwissen. Zur Poetik des religiösen Menschen in 17. und 18. Jahrhundert. (Communicatio 35) Tübingen: Max Niemeyer 2006. VIII, 323 S. Kartoniert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 3-484-63035-3.
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Noch 1989 musste Wolfgang Martens konstatieren, dass die deutsche Literatur der Frühaufklärung »literar-historisch als wenig gründlich untersucht angesprochen werden« könne. Und er fuhr fort:

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Zwischen der Barockzeit, deren Erforschung namentlich unter sozialgeschichtlichen Fragestellungen bedeutende Fortschritte gemacht hat, und der Zeit, da Klopstock, Lessing und Wieland auf den Plan treten und germanistische Bemühungen in Fleiß und Fülle inspirieren, liegt ein zwei Generationen umspannender Abschnitt, dessen Physiognomie etwas undeutlich zu sein scheint und der nach seinen literarisch-ästhetischen Leistungen offenbar wenig zu näherer Beschäftigung verlockt. 1
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Martens selbst hat mit seiner Aufsatzsammlung, die vornehmlich pietistische Kontexte behandelt, wichtige Anstöße für weitere Forschungen gegeben. Acht Jahre zuvor war bereits Hans-Georg Kempers Habilitationsschrift im Druck erschienen, in der für die Lyrikproduktion in der frühen Neuzeit ein »Säkularisierungsprozeß« konstatiert wurde, in dessen Ergebnis die »Herausbildung eines von theologischen Prämissen weitgehend unabhängigen Weltbildes und bürgerlichen Kulturmusters einen gewissen Abschluß« 2 findet. Zudem publizierte Kemper in den Jahren 1987 bis 2002 sein sechsbändiges Opus Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, das mittlerweile zum Standardwerk für Entwicklungsprozesse der deutschen Lyrik in der Zeit von 1500 bis 1785 geworden ist. Die Bemühungen von Martens und Kemper sind nicht folgenlos geblieben. Es ist hier nicht der Platz, auf die Fülle von Publikationen zu verweisen, die in den letzten Jahren zur deutschen Literatur der frühen Neuzeit vorgelegt worden sind und sich, neben einzelnen literarischen Gattungen, auch Fragestellungen der Poetologie und Ästhetik gewidmet haben.

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In der Dissertation von Markus Steinmayr nun geht es um die Frage nach den inneren Zusammenhängen dieses Säkularisierungsprozesses, der in einem »Anthropologisierungsschub« (S. 1) am Ende des 18. Jahrhunderts seinen sichtbaren Ausdruck fand. Mit Joseph Vogl sucht er in der »Geschichte des Wissens« deren »poetologische Dimension«, die wiederum eine »Poetologie des Wissens« ermögliche, welche

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das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift. Sie folgt der These, daß jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert, und sie interessiert sich demnach für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichert. 3
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Das vormals im wesentlichen von der christlichen Theologie geprägte »Wissen über den Menschen« (S. 1) erfährt, so Steinmayr, um 1800 eine Neubestimmung dahingehend, dass dieses durch »naturwissenschaftliche Erkenntnismethoden« (S. 1) eine solidere Basis erhält, das »allmähliche Schwinden der Erbsünde als Ordnungswissen über den Menschen« (S. 3) macht einer »Erschreibung des Menschen« (S. 2) mit Hilfe erfahrungsseelenkundlicher Beobachtungen Platz. Dieser »Anthropologisierungsschub« beruhe im Wesentlichen auf dem im endenden 18. Jahrhundert festzustellenden »Verlust der religiösen Integrationsleistung«, der seinen Ausdruck in der »Ausdifferenzierung des Religionssystems« (S. 25) fand.

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Steinmayr unternimmt den Versuch, »zentrale Probleme der Anthropologie und der literarischen Kommunikation vor dem Hintergrund ihrer religiösen ›Sinngeschichte‹ erneut zu befragen«, d. h. die »Funktion des Religiösen für die Selbstwerdung des modernen Individuums« zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang erscheint ihm der Begriff »Säkularisierung« für diesen Vorgang zu eng gefasst, vielmehr gehe es um »Strukturveränderungen des Sozialen«, um einen »Funktionswandel der Selbstbeschreibung des modernen Individuums«, der erst durch den »religiöse[n] Diskurs« ermöglicht werde (S. 295). In der modernen Autobiographie des endenden 18. Jahrhunderts werde das »Religiöse aus Gründen sozialer Evolution durch das Anthropologische ersetzt« (S. 296).

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Steinmayr geht davon aus, dass die »bekenntnishaften Verhaltensweisen Alteuropas vom Interaktionsparadigma her organisiert« (S. 251) waren, wobei Interaktion als Kommunikation des Beobachtenden mit sich selbst bzw. mit anderen verstanden wird. Ihn interessieren hier die Selbstbeobachtungen durch den Beobachtenden, die zum einen der Selbstverständigung und zum anderen der Mitteilung an andere (Beichte etc.) dienen und schließlich in einen Kommunikationsprozess über individuelle Stärken und Schwächen einmünden. Als Grundlage der Arbeit dienen Quellen, die bislang nicht von der Forschung zur literarischen Anthropologie berücksichtigt worden sind: »Visitationstabellen und -berichte, Beichtverhöre und deren Beschreibung in Erbauungsbüchern, Beichthandbücher und -regularien« (S. 17 f.). Steinmayr spricht von einem ständig praktizierten »Austauschverhältnis« (S. 3 f.), einer Kommunikation zwischen religiösen und literarischen Texten, deren Beobachtung Aufschlüsse über die »Anthropologisierung des Menschen« (S. 5) im 18. Jahrhundert zu geben vermag. Befragte man diese nach ihrem »implizite[n] Wissen vom Menschen« (S. 5), könne »ein Beitrag zu einer methodisch wie historisch noch immer nicht restlos profilierten [...] literarischen Anthropologie« (S. 5) entstehen.

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1. Zur Vorgeschichte

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Nach der Markierung eines »systemtheoretischen Theorierahmens« in Anlehnung an Luhmann, in dessen Zentrum das »Religionssystem und die religiöse Kommunikation« (S. 7) situiert sind, behandelt der Autor die Vorgeschichte seines Themas. Mit dem Wirken des Apostels Paulus könne eine Zäsur in der Geschichte der »Institution Gemeinde« festgestellt werden: Das göttliche Gesetz regelte bislang die Stellung des »Einzelnen zur sozialen Ordnung«, eine »konkrete Gesetzesüberschreitung« galt als »Sünde« (S. 35) und wurde als solche geahndet. Die von Paulus initiierte christliche Gemeinschaft hingegen fügte dem Gesetz den Begriff der Liebe (caritas) hinzu, deren Praktizierung das Gesetz gleichermaßen erfüllt wie überflüssig macht. Dieses wird zu einer Herzenssache, zu einem »inneren Gesetz«. Ihm zugesellt ist das Gewissen, das als »ein beredter Zeuge eines sich klärenden und vertiefenden sittlichen Bewußtseins« (S. 39) fungiert. Als äußerer Ausdruck dieser neuen Gemeindevorstellung kann die Eucharistie gesehen werden. Im Abendmahl genießen die Gläubigen den Leib Christi und werden so ein Leib mit ihm. Mit Augustinus’ Confessiones (um 400 n. Chr.) begegnet dem abendländischen Leser erstmals ein christliches Bekenntnis, das von einer Bekehrung handelt und in schriftlicher Form vorgelegt wurde. Dies hatte, so Steinmayr, Konsequenzen in zweierlei Hinsicht: Zum einen war es dem Schreibenden möglich, »sich in ein beobachtendes und damit abstraktes Verhältnis zu sich selbst zu setzen und die eigene Biographie als Material für das Wirken Gottes zu gestalten«, zum anderen konnte er so »einen größeren Kreis von Adressaten über einen längeren Zeitraum erreichen« – der Text besaß also eine nicht zu unterschätzende »Missionsfunktion« (S. 46). Nicht unwichtig dabei ist die Aufgabe der Intimität des Bekenntnisses: Indem die Schrift die Zeugenschaft für das Mitgeteilte übernimmt, gewinnt der Vorgang an Authentizität.

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In der Entblößung des eigenen Körpers als Ort der Begierden, als Eröffnung eines Schauplatzes, gestaltet sich der einzelne sichtbar, stellt sich in den Raum der Öffentlichkeit. Die Wahrheit des geschlechtlichen Körpers ist obszön, die nuda veritas setzt Enthüllung voraus. (S. 65)
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Auch die Seele wird hier unverhüllt gezeigt, das Schreiben erweist sich als Akt der »Ent-Kleidung der Wahrheit« (S. 66), die ohne rhetorische Verbrämung transparent erscheint.

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Eine andere Form des Bekenntnisses entstand im Gefolge des Beichtdekrets durch das IV. Laterankonzil von 1215. Im Gefolge der Einführung der Pflichtbeichte entwickelte sich ein inquisitorisches Prozessrecht im Hinblick auf die Beichte. Auch hier stand die Erforschung der Wahrheit im Mittelpunkt der inquisitorischen Praxis. Dazu bedurfte es vielfältig ausgeprägter Techniken des Befragens. Beichthandbücher geben Auskunft, welche Techniken der Befragung sich als praktikabel bei der Erforschung der Seelenlage des Beichtenden erweisen.

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2. Reformation und Puritanismus

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Mit der »Abwertung der Äußerlichkeit« im Vollzug der Reformation könne auch eine »Verschiebung innerhalb der religiösen Kommunikation«, d. h. ein »Wegfall symbolischer Formen des Glaubens« festgestellt werden. Die Macht der Bilder wird im protestantischen Ikonoklasmus gebrochen, an deren Stelle rückt »das Wort Christi« (S. 104) in den Mittelpunkt des Geschehens. Über das geschriebene Wort wird die Botschaft transportiert. Das hatte Folgen für die Beichte. Beichten sollte man lediglich aus »Gewissensnot« (S. 113), also aus innerem Antrieb und nicht, weil ein Gesetz es fordert. Die Ausforschung des inneren Menschen wurde, wie von Augustinus bereits praktiziert, Sache des Individuums. Wieder ist es das eigene Gewissen, das zur Instanz des Schuldbekenntnisses wird. »Die Stimme des Gewissens, die der Protestant vernehmen muß und die zum Ausweis seiner Frömmigkeit wird, ist ihrerseits Anlaß zu einer verstärkten Selbstbeobachtung und -thematisierung« (S. 117). Daneben erfordern neue kirchliche Strukturen – beispielsweise können die Gemeinden ihre Pastoren selbst wählen und absetzen, müssen diese freilich auch selbst honorieren – eine entsprechende »Form der sozialen Kontrolle« (S. 126). Im Zuge der »Kombination von staatlicher Verwaltung und protestantischem Visitationswesen« (S. 123) müssen Tauf- und Traubücher bzw. Sterberegister geführt, die jeweils vorgenommenen Visitationen protokolliert werden. Wer in den Genuss des Abendmahls kommen wollte, musste sich zuvor vom Pfarrer examinieren lassen. Auch hier wurden Protokolle angefertigt. Diese können quasi als Ersatz der Beichthandbücher angesehen werden, als »Urform des autobiographischen Narrativs« (S. 128). Verständlicherweise verlangt das protestantische sola-scriptura-Prinzip eine stärkere Konzentration des Seelsorgers auf die Predigt. Deren Text hat die vormals durch die Bilder vermittelte Imagination zu kompensieren, d. h. die »Schriftlichkeit wird immer mehr zur Form der Kommunikation für den einzelnen, sie wird zur Bedingung der Teilnahme an religiöser Kommunikation« (S. 139).

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Die von Puritanern und Calvinisten getätigte »Entdeckung des profanen Lebens als einer Bewährungsmöglichkeit für das Religiöse« (S. 145) machte Selbst- bzw. Fremdbeobachtung zu einer wichtigen Aufgabe von Individuum und Gemeinde. Eine Flut von Erbauungsbüchern, die »Anweisungen zum religiösen Selbstmanagement« (S. 147) boten, begleitete den Prozess der permanenten Selbstprüfung. Sie waren praktikable Ratgeber zur »Entdeckung der Individualität als Steigerungsmöglichkeit des Wissens des Menschen von sich selbst« (S. 148) und erleichterten den Austausch des Beobachteten in der Gemeinde durch Interaktion – und dies bei ständiger Kontrolle durch ein dazu eingerichtetes Gemeindegremium. Die Beobachtungen wurden verschriftlicht, die Texte dienten der gegenseitigen Erbauung. In sie gingen auch Beobachtungen der Körperzeichen ein, »im Zwinkern des Auges, dem Schwitzen und den Sprachverfehlungen« (S. 159) wollte man Zeichen göttlicher Gnade, oder deren Gegenteil, erkennen. Rhetorische Umschreibungen der Beobachtungen waren verpönt: »Es geht um die nackte Wahrheit des Subjekts[,] das, möglichst unbeeinflußt vom sprachlichen Medium, zur Sprache gebracht werden muß« (S. 160).

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3. Pietismus und Empfindsamkeit

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Steimayr plädiert »für eine entschiedene Historisierung des pietistischen Phänomens« und argumentiert gegen bisherige Erklärungen des Verhältnisses von Pietismus und Empfindsamkeit 4 . Ihm stellt sich der Pietismus als ein »Versuch« dar, »eine eigenständige Kommunikation zu differenzieren, die weit über die Dienstbarkeit der Religion hinausgeht« (S. 183) und insofern in der Lage war, als Anschubkraft von »Strukturveränderungen im Sozialen« (S. 295) zu fungieren.

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Von hier aus lässt sich auch die pietistische Kritik an den Künsten begründen, die sich bekanntermaßen nicht als eine Generalabrechnung mit den Künsten verstand. Vielmehr ging es um die »Verstellungskunst«, die im pietistischen Denken, neben der Vorspiegelung falscher Gegebenheiten, auch den Blick für die realen Gegebenheiten verstellt. Stattdessen sollte das »Erlebte« bzw. das »Empfundene« möglichst genau aufgeschrieben und im »Medium einer authentischen Herzenssprache« (S. 196) stilistisch unkompliziert mitgeteilt werden. Dazu bedurfte es keiner poetischen Anweisungen, vielmehr wurde gerade die »Kontingenz der Produktion« (S. 198) gefordert.

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Das pietistische Verdikt der Verstellung betraf nicht nur die Künste, sondern auch das gesellschaftliche Leben. Die von Christian Thomasius, Franckes Kollegen an der halleschen Fridericiana, gepriesene decorum-Lehre, die den Studenten politisch kluges Verhalten zum Weiterkommen in der feudalen Gesellschaft empfahl, stand demzufolge auch im Visier der pietistischen Kritik. An die Stelle einer weltlichen Geselligkeit trat ein pietistisches Geselligkeitsideal, in dem der »Wille zur Transparenz des Inneren« (S. 220) sich in einer »spezifisch pietistischen Gesprächskultur« (S. 216) kundtat. Wo das Gespräch nicht möglich war, erfolgte ein Briefwechsel, der, wie das Gespräch, die Aufgabe hatte, »das Gefühlte und Empfundene ohne Substanzverlust« mitzuteilen. Neben der Bekenntisfunktion verstand sich der Brief als »Medium der Erbauung« (S. 244), in dem das Einfühlungsvermögen des Adressaten vorausgesetzt werden konnte.

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4. Ausblicke in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts

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An drei Beispielen sucht Steinmayr Einflüsse jenes religiösen Individualisierungsprozesses nachzuweisen. Zum einen bezieht er sich auf Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769, in dem er eine »Anthropologisierung des Sprechens« feststellt, d. h. Herders Sprache ist nicht statisch, sondern der jeweiligen Situation angepasst. Sie »kann so flexibel auf die Empfindungen und Leidenschaften reagieren, ja sie sogar ausdrücken« (S. 253). Zudem konstatiert Steinmayr einen »Funktionswandel der Einbildungskraft«, die ihre »Bindung an [die] Gedächtniskunst« (S. 258), die memoria aufgibt und stattdessen sich dergestalt entfaltet, dass sie »im Virtuellen arbeitet und dort Verknüpfungen herstellt« (S. 259). Nicht Details der Seereise stehen im Mittelpunkt des Erzählens, sondern die schriftliche Fixierung dessen, was die Seereise dem Erzähler bedeutet. »Die Schrift ist es, die im Akt der Nachträglichkeit erst das herstellt, was Gegenstand der Reise gewesen sein wird: [...] jene neu entdeckte Individualität«. Eine Datensammlung über das eigene Selbst wird angelegt. »Der Befehl zur inneren Buchführung bildet also die Grundlage der sogenannten Geburt des modernen Individuums aus dem Geiste der Verwaltung seiner selbst«. Ganz in diesem Sinne steht auch Herders Forderung nach »einer national-staatlichen Archivierung der Selbstzeugnisse« (S. 260). Im Unterschied zu den geläufigen Enzyklopädien sei ein solches Archiv kein Hilfsmittel zur Akkumulierung von Wissen. »Sie [die Archive, H.-J. K.] zementieren kein Wissen, sondern zeigen das neu entstandene Wissen in seinem Vollzug.« (S. 264)

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So funktioniere auch, zum anderen, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. Der Roman vermittle »ein Wissen vom Menschen«, das sich aus den »Selbstversuchen des Helden«, seiner »Versuche einer Selbstpoetik« ergibt. Er wird so zu einem »Archiv, das das neue Wissen über den Menschen verschaltet und lesbar gestaltet« (S. 264). Steinmayr deutet die Selbstversuche Anton Reisers als Anknüpfung an die »pietistisch-quietistische[ ] Tradition der Selbstoffenbarung und der Selbstanalyse in Tagebuch und Autobiographie«. Sie stünden »im Schatten eines zur Empfindsamkeit gewandelten Pietismus« (S. 268). Ein derartiges Schreiben »wird nicht mehr als Kulturtechnik betrachtet, sondern als Ausdruck der reinen Natur«. Durch »permanente Selbstbefragung und Selbstbespiegelung« und deren Verschriftlichung entstehe »eine lebende Datenbank« (S. 279) des modernen Menschen.

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Auch Goethes Wilhelm-Meister-Romane widerspiegeln deutliche Einflüsse des anthropologischen Diskurses um 1800. Auch hier wird der Mensch Wilhelm in seiner Doppelexistenz vorgestellt: Er erscheint gleichermaßen als Subjekt wie als Objekt des Wissens um den Menschen. Selbst- und Fremdbeobachtungen, Bekenntnisse etc. werden mitgeteilt und finden ihr Archiv in der Bibliothek der Turmgesellschaft. Diese beherbergt anstelle von gedruckten Schriften Reden und handschriftliche biographische Aufzeichnungen. Die Sammlung entspricht dem »Bauprinzip des Romans« (S. 284). Steinmayr resümiert: »Goethes Wilhelm Meister-Romane können als Versuch bezeichnet werden, eine Selbstbeschreibung der Moderne anzufertigen, die die sich langsam als irreversibel zeigende Ausdifferenzierung der Gesellschaft zum Thema macht«, d.h. die Themen »Theater und Liebe als Schauplätze für Bildung [werden] verabschiedet«, an ihre Stelle treten die »Themen Ökonomie, ,Polizeywissenschaft‘ und Erziehung« (S. 290 f.) – Goethe markiert damit sein Entrée in die Moderne.

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5. Fazit

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Steinmayrs Studie ist aufgrund komplizierter Satzkonstruktionen nicht immer leicht zu lesen. Erschwert wird die Lektüre zudem durch eine unzureichende Lektorierung, die, neben vielen Lässigkeiten orthographischer und syntaktischer Natur, dem Leser sogar unvollendete Sätze und partiell unrichtig wiedergegebene Zitate zumutet. Aus der Fülle der Lässigkeiten seien hier nur folgende mitgeteilt: Da werden Schuldner und Gläubiger verwechselt (»Der Gläubiger [...] ist aufgrund der immensen Schuldenlast seiner Sünden ja geradezu auf Vergebung angewiesen«, S. 107), da findet sich mit »Mäytryerdrama« (S. 196) eine neue Version des Märtyrerdramas. Dass falsch wiedergegebene Zitate den Sinnzusammenhang des Textes entstellen können, zeigt sich im Zusammenhang mit Goethes Werther: Steinmayr zitiert »auf einem Hügel anzulegen« (S. 274), es muss aber heißen: »auf einem der Hügel anzulegen«. Zudem sollten leicht zugängliche Quellen aus dem Original zitiert werden, Gefahren falschen Zitierens lassen sich so minimieren. Unschön wirken allenthalben anzutreffende apodiktische Bemerkungen wie: »Ohne die Reformation wäre die Entwicklung des neuzeitlichen Individuums unmöglich geblieben« (S. 297). Befremdlich erscheint, dass Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht im Register der Forschungsliteratur erscheint (S. 315). Am Ende vermisst man ein Personenregister, das (nicht nur dem Rezensenten) den Zugang zum Text erleichtern würde.

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Ungeachtet solcher Mängel und Schwächen bietet Steinmayrs perspektivenreiche Studie, die vor allem von Ideen und Überlegungen Hans Blumenbergs, Michel Foucaults, Albrecht Koschorkes und Manfred Schneiders inspiriert und angeregt ist, einen umfassenden Bericht über die Entwicklung des religiösen Wissens vom Menschen und dessen Verschriftlichung. Er beginnt beim Apostel Paulus und endet beim Übergang in die Moderne. Neben der Befragung bekannter Texte erweist sich vor allem die Einbeziehung von bislang weniger beachteten Quellen (Visitationstabellen, Beichthandbücher etc.) als höchst aufschlussreich für die Explikation und Entfaltung der Themenstellung. Naturgemäß wird in einem zeitlich so weit gefassten Bericht vieles Bekannte referiert; doch in den Kontext des Wissens vom Menschen gestellt, vermag das Bekannte, beispielsweise im Blick auf Herders Journal oder die Romane von Moritz und Goethe, auch viele neue Facetten zu offenbaren.

 
 

Anmerkungen

Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 25) Tübingen 1989, S. VII (Vorwort).   zurück
Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. 2 Bde. (Studien zur deutschen Literatur 64 / 65) Tübingen 1981, S. 2.   zurück
Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 13.   zurück
Im Wesentlichen stehen sich hier zwei Erklärungsmodelle gegenüber: Das erste (geistesgeschichtlich argumentierende) basiert auf einer These von Hans R. G. Günter: »Der Sentimentalismus im XVIII. Jahrhundert stellt die säkularisierte Form der pietistischen Frömmigkeit dar«; vgl. H. R. G. G.: Psychologie des deutschen Pietismus. In: DVjs 4 (1928); S. 167. Gerhard Sauder hingegen situiert (sozialgeschichtlich argumentierend) den Topos in der englischen bzw. schottischen »Theorie des ›Moral Sense‹«, der »in die Aufstiegsbewegung des Bürgertums eingebunden gewesen« sei; vgl. G. Sauder: »Bürgerliche« Empfindsamkeit? In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung VII) Heidelberg 1981, S. 152 f.   zurück