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Lesen und Zuschauen

Kulturelle Praxen in historischer Perspektive

  • Matthias Rothe: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Aufhebung von Abwesenheit. (Studien zur Kulturpoetik 8) Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 200 S. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8260-3094-9.
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»Ganze Praxis«

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Matthias Rothes Studie verfolgt das Ziel, die kulturellen Praktiken Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert vergleichend zu erkunden. Ausgehend von der Kritik, mit der die Zeitgenossen selbst die Weisen überzogen, die sie im Umgang mit Buch und Bühne bei ihresgleichen auszumachen meinten, sucht die Studie hinter das Paradox zurückzugehen, dass nicht nur der Brief und der Roman, sondern auch Komödie und Tragödie, die sich im Zeichen der Aufklärung als neue literarische Gattungen etablieren, zu ihrer eigenen Wirksamkeit bereits der Rezipienten bedürfen, die sie erst heranbilden müssen (S. 13). Rothe will das in den Blick rücken, »was in all den Auseinandersetzungen um das richtige Lesen und Zuschauen immer schon vorausgesetzt ist« (S. 13).

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Ihm zufolge bietet allein eine an die Systemtheorie anschließende »Praxisanalyse« (S. 51) die Möglichkeiten dazu; zentral ist dabei der Begriff der »ganzen Praxis«. Im Unterschied zu den Auffassungen des Lesens und des Zuschauens, wie sie in der Perspektive der Semiotik (S. 37–42), der Sozial- und Mentalitätsgeschichte (S. 37–42) und der Diskursanalyse (S. 42–51) greifbar werden, behandelt Rothe Lesen und Zuschauen weder als lediglich historisch relevante Stationen einer Geschichte der Kulturtechniken noch als gegebene mentale Vorgänge oder als kognitive Prozesse, deren ›Natur‹ unveränderlich ist. Gegen die ausschließlich »textuelle Mitarbeit« (S. 33), die die Semiotik Lesern und Zuschauern auferlegt, will Rothe die jeweiligen Entstehungs- und Kommunikationssituationen bewusst halten (S. 35). Er will die von Sozial- und Mentalitätsgeschichte ermittelten Daten an die Verhaltensweisen der Lesenden und Zuschauenden zurückbinden (S. 41) und sich weder mit der Aufdeckung der epistemischen Prinzipien (S. 43) begnügen, denen diese sich verdanken, noch mit dem Verweis auf deren Abhängigkeit vom Stand der je gegebenen Materialität und medialen Technik (S. 49).

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Um sich aus diesen Fallen zu befreien, führt Rothe das Lesen und das Zuschauen des 18. Jahrhunderts als jeweils eigenständige, von anderen Praxen unabhängige Praxis vor, als »ganze Praxis«:

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Das Wort ›lesen‹ erscheint als ein Begriff, der eine Vielzahl von Situationen, die auf eine sehr unterschiedliche Art einander ähneln, einer Klasse zuordnet: Jemand, der eine Zeitung liest, tut etwas anderes als jemand, der mühsam Worte buchstabiert (ein Anfänger), oder als jemand, der einem anderen am Telefon ein Gedicht mit großer Emphase vorliest, oder auch als jemand, der liest um etwas auswendig zu lernen. […] Auf die gleiche Weise fasst das Wort ›schreiben‹ je unterschiedliche Verwendungsweisen von Buchstaben zusammen. (S. 57)
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Und wie das Lesen – wobei man vom Schreiben nicht absehen könne –, sei auch das Zuschauen eben kein ›einfacher‹ Vorgang, sondern entspräche einer »Vielzahl von sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltensweisen« (S. 14): »körperliche Haltungen, die eingenommen, Gesten und Bewegungen, die ausgeführt werden, begleitende Äußerungen, Weisen wie die Beteiligten Bezug aufeinander nehmen usw. Eben dieses Verhalten, soweit es wiederholbar ist und bestimmte Wirkungen zu realisieren vermag, macht eine Praxis aus« (S. 14). Ausgehend von der Prämisse, dass diese »eigenständig und relativ stabil [ist], wenn die Akteure, Lesende und Schreibende, Schauspieler und Publikum, kooperieren, das heißt, ihr Verhalten unter den jeweiligen Umständen wiederholt auf ein Spektrum von Wirkungen abstellen, mithin Wirkungserwartungen existieren, die sich einlösen lassen« (S. 14), visiert Rothe eine »Geschichte des Lesen[s] und Zuschauen[s]« an, »die an dem Verhalten ansetzt, das eine Praxis überhaupt erst konstituiert« (S. 15).

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Das Verschwinden des Dichters und des Schauspielers
– Die Erfahrung der Abwesenheit

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Seine Studie kreist gleichzeitig um einen Gedanken, den der Untertitel bereits ankündigt, die These nämlich, dass beide Praxen, Lesen und Zuschauen, unabhängig voneinander der Einübung in den Umgang mit einem Phänomen zuarbeiten, dem der Abwesenheit. Exemplarisch thematisiert am Beispiel von Lessings Versuch, im Laokoon (1766) Malerei und Poesie in ihrem Verhältnis zueinander zu bestimmen, nimmt dieser, wie Rothe nachzeichnet, das Problem gleichwohl nicht systematisch auf. Die »Vorführweisen, Wirkungserwartungen und Aneignungsweisen« von Lesen und Zuschauen, die der Laokoon greifbar werden lässt (S. 17–33), stecken aber ab, wie die beiden Praxen um die Mitte des Jahrhunderts ›funktionieren‹, damit Lessings Bestimmungen haltbar bleiben:

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Nur wenn alle Beteiligten […] auf bestimmte Weise kooperieren: sich wie bei einer Kommunikation zwischen Anwesenden verhalten, sich darauf einstellen, dass es um die täuschende Vergegenwärtigung abwesender Geschehnisse zu tun ist, dass etwas Abwesendes vor die Augen gebracht wird, nur dann können Poesie und Malerei so erfahren werden, wie Lessing sie schließlich definiert. (S. 31)
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Während der Laokoon die Anwesenheit des Dichters imaginär aufrechterhält, indem er Vorleser und Zuhörer gleichsam wie in einer Galerie eine Reihe von Bildern abschreiten lässt (S. 181), drängt sich den Zeitgenossen sowohl im Lesen als auch im Zuschauen die Abwesenheit als alltägliche Erfahrung auf. Als zu überwindende Schranke von Autoren wie Herder reflektiert, von Schiller als Störung der Unmittelbarkeit der Kommunikation mit seinem Leser beklagt, eben nicht mit »dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accompagnement der Gesten auf das Gemüth« (S. 59) wirken zu können, treibt die Abwesenheit nicht nur Dichter um, sondern auch Leser und Zuschauer. So wie der literarische Text als ›Rede‹ des Dichters seine Abwesenheit ersetzen muss, so laufen Leser und Zuschauer, die diese aktiv aufnehmen wollen, mit ihrer Reaktion ins Leere – die Unmittelbarkeit, die Rede und Gespräch auszeichnet, geht sowohl der Lektüre als auch dem Zuschauen ab. In dieser Situation bietet der Brief und in seinem Gefolge der Briefroman eine willkommene Ausflucht, gewährleistet er doch die Möglichkeit eines Gesprächs selbst unter Abwesenden und eröffnet damit den Weg, das Dilemma von An- und Abwesenheit zu umgehen:

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Die Literatur zirkulierte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Briefsystem […]. Die Sender schrieben von sich, indem sie andere handeln ließen, und die Empfänger verhielten sich zu den anderen, um die Sender wieder gegenwärtig zu machen. Die Empfänger hatten die Rede der Figuren zu verstehen und sie dann als Rede eines Senders zu verstehen. Dabei bedienten sie sich einer Technik, die sich im Briefsystem bewährt hatte: des Perspektivwechsels. Sich versuchsweise in die Situation des Anderen zu begeben, um Äußerungen zu verstehen oder Äußerungen herzustellen, die verstanden werden sollten, verlangte eben, sich dem Anderen vorübergehend ähnlich zu machen. Diese Ähnlichkeit konnte als Seelenverwandtschaft im Nachhinein entdeckt und zur Anwesenheit des Anderen verklärt werden: geteilte Umstände, geteilte Gegenwart. (S. 112)
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Auch der Theaterbesuch konfrontierte mit Vorführ- und Aneignungsweisen, die sich im Wandel befanden. Analog zum Verschwinden des Dichters in seinem Text trat die Person des Schauspielers immer mehr hinter die von ihm dargestellte Figur zurück. An die Stelle der dem Publikum bewussten Differenz zwischen Akteur / Person des Schauspielers und der Figur, zwischen Vorführen und Aneignen trat die vollkommene Verkörperung der Figur durch den Schauspieler. »Die Aufmerksamkeit aller Beteiligten stellte sich auf das Verschwinden der Person des Schauspielers in der zu spielenden Figur oder den Grad, in dem dies jeweils gelang, ein.« (S. 177) Die Entwicklung, auf den Begriff gebracht von Diderots Forderung nach der ›Vierten Wand‹ – »Man spiele als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde« (S. 152) –, bringt gleichzeitig das neue Zuschauen hervor: Es »besteht nicht mehr darin, Affekte zu empfangen, sondern die Affekte anderer zu beobachten« (S. 150 f.).

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Wie im Umgang mit Brief und Buch, suchen die Beteiligten auch im Bezug auf die Bühne die Erfahrung der Abwesenheit umgehend aufzuheben – indem sie die Distanz, die sie erlebt haben, durch die Identifizierung mit der vorgeführten Figur überwinden. Die unterstellte Ähnlichkeit mit den präsentierten Figuren erlaubt den »Platzwechsel mit den handelnden Personen«, wie Johann Jakob Engel 1785/86 formuliert, die »gedankliche Operation: ›ich an deiner Stelle‹« (S. 183).

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Ausblicke

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In einem Durchgang durch die Literatur und die Kultur des späten 18. Jahrhunderts führt Rothe beide Praxen vor und eröffnet neue überraschende Einsichten, so in Genieästhetik und Lesesucht, die Onaniedebatte, die Entstehung von Autorschaft und professioneller Kritik. Es ist schade, dass das ambitionierte Vorhaben von einigen Schwachstellen geschmälert wird. Zum einen ist der zentrale Gedanke, die Praxen Lesen und Zuschauen böten Problemlösungen der gesellschaftlich vermittelten Erfahrung der Abwesenheit, nicht aus der »Geschichte« der beiden Praxen freizulegen, sondern ergibt sich aus der Analyse der in beiden Feldern angestellten theoretischen Überlegungen einzelner – die Stellung der »Abwesenheit« in deren Werk, aber auch der Stellenwert des Problems für das 18. Jahrhundert überhaupt ist für Rothe nicht weiter von Interesse. Zum andern bleibt seine ›Geschichtsschreibung‹ eklektisch und unsystematisch – »eher essayistisch« und »spekulativ«, wie er selbst einräumt (S. 116, 117, 123). Dies mag nicht nur daran liegen, dass Rothe nicht immer die neueste Forschung zugrunde legt, so etwa für den Laokoon, die höfische Ästhetik oder das Hoftheater, sondern auch daran, dass er, im Unterschied zu Laokoon, die Exemplarität seiner anderen Fallbeispiele, etwa für den Briefwechsel Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland oder Friedrich Gottlieb und Meta Klopstock, systematisch ausschlägt. Erfahrung wird zwar thematisiert (S. 111), nicht aber als Element gewürdigt, das die beschriebenen Praxen kontextuell und historisch weiter verankert und deshalb in die Untersuchung miteinbezogen werden müsste (S. 54).