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Die Robinsonade als ästhetische Utopie

  • Barbara Schmitz: Robinsons ästhetische Utopie. Michel Tourniers Roman »Vendredi ou les limbes du Pacifique« im Kontext einer Neubewertung des utopischen Paradigmas. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 192) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. 393 S. Gebunden. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 3825313557.
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Fragestellung und Aufbau der Studie

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Mit der Dissertation von Barbara Schmitz liegt der umfangreichen Sekundärliteratur zu Michel Tournier eine aktuelle, sehr detaillierte, fundiert recherchierte und wesentliche Einzelstudie zum 1967 publizierten Erstlingswerk des französischen Schriftstellers vor. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die im Rahmen poststrukturalistischer und postmoderner Theorieansätze formulierte Frage nach einem Paradigmenwechsel der utopischen Literatur sowie die Frage nach der Möglichkeit einer Einordnung der tournierschen Robinsonade innerhalb dieses, neu zu verortenden Paradigmas. Damit schließt die Verfasserin eine der Lücken innerhalb einer dezidiert an der französischen Dekonstruktion und Sprachphilosophie sich orientierenden Interpretation des tournierschen Werks.

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Die Studie ist in drei, hinsichtlich Umfang und Gewichtung etwa gleich große Kapitel unterteilt. Den Einstieg bietet ein theoretisches Grundlagenkapitel zu »Implikationen der Wahl des Robinsonmotivs«, worauf ein Kapitel »Robinson und die Insel« folgt, welches die Phase avant-Vendredi vom Schiffbruch des Protagonisten bis zur Ankunft Freitags näher beleuchtet. Das dritte Kapitel, »avec-Vendredi«, widmet sich der detaillierten Analyse der Inselexistenz im wiedererlangten Modus eines Autrui seit dem Auftauchen des Eingeborenen auf der Insel und untersucht die Metamorphosen Robinsons sowie dessen durch Freitag begonnene und vollendete Initiation zu einem être solaire.

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Implikationen der Wahl des Robinsonmotivs

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Der einleitende, etwa 80-seitige Durchgang durch Geschichte und Theorie der Utopien und Robinsonaden beginnt mit Thomas Morus’ Utopia (1516), Francis Bacon und Henri Neville und setzt sich fort in der Subjektphilosophie Descartes’, der Existenzphilosophie Sartres und der modernen Sprachphilosophie des Strukturalismus (Ferdinand de Saussure, Lévy-Strauss) und Poststrukturalismus (Derrida, Foucault). Er spiegelt den fundamentalen Gegensatz zwischen einer immer schon dialektisch konzipierten, zwischen Statik und Dynamik oszillierenden, aber eindeutig subjektzentrierten Utopie einerseits und der ereignishaften, ›ganz anderen‹, unaufhebbaren Differentialität einer vornehmlich ästhetischen Utopie andererseits. Der von der Verfasserin nachgezeichnete utopische Paradigmenwechsel äußert sich nicht zuletzt in der Verabschiedung des vernunftbasierten Prinzips einer utopischen Gesellschaftsflucht sowie in der Verabschiedung von Subjektzentriertheit und von einer aufklärerisch betriebenen Suche nach einer ›besseren‹ Welt bzw. Seinsweise, sei sie individueller oder politischer Art. Die 1973 von Gilles Lapouge unternommene typologische Differenzierung in utopistes und contre-utopistes begreift die Verfasserin dabei als wegbereitend für diesen utopischen Paradigmenwechsel. Demnach favorisiert der utopiste ein Staatsmodell, »das sich durch strenge Organisation, durch Strukturierung gemäß einem idealisierenden Plan auszeichnet, um mit der Logik der Vernunft eine Formel des ewigen Glücks zu realisieren« (S. 26), während der contre-utopiste als subversives Element gegenüber dem politischen Systemwillen des Utopisten auftritt:

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Wenn das u-topische, dem stets nur Wünschenswerten statt dem gegenwärtig Realisierbaren nachsinnende Denken hier dem Typus des ›contre-utopiste‹ zugeschrieben wird, so scheint es sich dabei um eine, dem funktionsgeschichtlichen Druck gezollte, gattungstypologische Verschiebung des Paradigmas ›Utopie‹ auf das Schema der ›Gegenutopie‹ zu handeln, die allein noch eine realitätstranszendierende, mithin utopische Funktion garantiert. Wo jede Art von System, sei es politischer oder logischer Natur, verdächtig wird, muss sich die Utopie wieder auf ihren subversiven, einem Entwurf des ›ganz Anderen‹ verpflichteten Kern besinnen, der sich dem Vorwurf einer normativen oder totalitären Vereinnahmung durch reale Verhältnisse entzieht. (S. 27)
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Robinsonade als ästhetische Utopie

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Diese Besinnung auf den subversiven Kern der Utopie sieht die Verfasserin vor allem in der Verknüpfung utopischer und ästhetischer Kategorien bei Karl-Heinz Bohrer gegeben, dessen Konzept als Variante zu Lapouges Gegenutopie von einer Utopie ausgeht, die nicht »dieses oder jenes für möglich Gehaltene [ist, sondern] das erzählte Subjekt selbst« (S. 28). Der Versuch einer modernen Rettung des utopischen Moments für die Literatur impliziert bei Bohrer ein Moment der Anarchie und des ›Augenblicks‹, das sich gegen jede Art eines festgeschriebenen oder festzuschreibenden Gesellschaftssystems richtet. Dies beinhaltet zugleich eine Abwendung von historisch-politischen Implikationen der Robinsonade hin zu verstärkt literarisch-ästhetischen Aspekten ihrer Fiktionalisierung. Prototyp einer solchen ästhetischen Utopie ist für Bohrer die Robinsonade Defoes.

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Das von Bohrer vertretene Modell einer modernen ästhetischen Utopie des ›ganz Anderen‹ wird somit zu einer Folie, vor deren Hintergrund die Verfasserin den Roman Tourniers analysiert. Zu einer weiteren Folie wird der »postmoderne Kontext des tournierschen Robinsonromans« (S. 47), von dessen Warte aus sich die Frage nach der Möglichkeit einer ästhetischen Utopie ebenso wie die Frage nach der Möglichkeit eines (immer schwieriger werdenden) Umgangs mit philosophischen Konzepten wie Metaphysik oder Mythos neu stellt. Dabei stützt sich die Verfasserin unter anderem auf das Begriffsinstrumentarium von Deleuze, der sich ebenso wie Tournier auf Autoren wie Leibniz, Spinoza, Bergson und Nietzsche beruft, »die sich nicht umstandslos dem großen Projekt eines nachmetaphysischen Denkens und einer kritischen und krisenhaften Theorie der Moderne zuschlagen lassen« (S. 53). Der von Deleuze vertretene »transzendentale Empirismus« beinhaltet ein neues Verständnis von Metaphysik, »nicht jedoch den postmodernen Versuch ihrer Abschaffung« (S. 56).

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Die mit der Sprachphilosophie aufkommende und vor allem von Roland Barthes und Michel Foucault vertretene These vom ›Tod des Autors‹ spiegelt sich Schmitz zufolge auf zweierlei Art im Text: Einmal in der metaphorischen Bedeutung des tournierschen Robinsons als ein Autorendouble und zum anderen in dessen Verhältnis zur Insel, die als Metapher sowohl für die Schreibfläche als auch für das Schreibmaterial des Schriftstellers fungiert. Die »Insel als Ort schreibender Existenzbewältigung« (S. 89) verbildlicht so die »porös gewordenen Grenzen des Ich, des Autors und seines Werkes« 1 (S. 86), in denen die Funktion des Lesers als kreativer Mitschöpfer des Werkes aufgewertet wird. Die ästhetische Utopie steht damit in deutlichem Kontrast zum ursprünglichen literarischen Genre der Utopie. Im Unterschied zu einem geschichtlichen Prozess wird in ihr die unendlich offene, niemals abschließbare Ereignishaftigkeit betont; poetologische Implikationen des utopischen Diskurses lösen vermehrt die ursprünglich historisch-politischen Implikationen der Utopie ab.

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Intertextualität und différance

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In ihrem zweiten, gut 100 Seiten umfassenden Abschnitt analysiert Schmitz die Existenz Robinsons auf der Insel vor der Ankunft Freitags, wobei es ihr vor allem um die nähere Bestimmung der monde-sans-autrui (Deleuze) hinsichtlich der Frage geht, wie diese Phase des Inselaufenthaltes in den Kontext einer ästhetischen Utopie einzuordnen ist.

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Die Verfasserin, der ein Nachzeichnen aller intertextuellen Verweise in Tourniers Robinsonade zu Recht müßig erscheint (vgl. S. 111), beschränkt sich, nachdem sie in gebotener Kürze die bekannten Intertextualitätsmodelle von Bachtin, Kristeva, Derrida und Genette vorstellt, auf eine enger gefasste Analyse von Intertextualität, die dem Aspekt der Frage nach einem ästhetischen Utopieverständnis nachgeht. Hier erweist sich das derridasche Modell der différance als erhellend auch für ein neues Utopieverständnis:

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Indem die ›différance‹ so in einem Zug das Resultat und den Prozess der Differenzierung betont, determiniert und subvertiert sie zugleich jede Theorie der Bedeutung. Sprache und Text zeichnen sich durch einen ebenso begrenzten wie entgrenzten Sinn aus […]. Die Intertextualität ist in solchem Verständnis nicht nur ein Zeichen von Differenz, sondern – im Hinblick auf die stets aufgeschobene Präsenz einer sinngebenden Struktur – auch ein Zeichen radikaler Utopie. (S. 107)
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Palimpsest und bricolage

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Der Palimpsest des vom Meerwasser gebleichten Logbuchs, das Robinson in dem Versuch einer Aufrechterhaltung des demiurgischen Autor-Ichs zu schreiben beginnt, erweist sich als illusionärer Versuch einer Rückgewinnung eigener Identität im Akt des Schreibens und zugleich als »der erste Schritt in Richtung jener ›anderen Insel‹ des spielerischen ›bateleur‹, die Robinson erst später wahrnehmen wird« (S. 114).

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Die spezifische tourniersche Intertextualität erweise sich jedoch als ein unendlicher Intertext, der »in einem schöpferischen Moment ereignishaften Schreibens und ereignishafter Lektüre immer neu hervorzubringen ist, ohne jemals erschöpfend zu sein« (S. 131). Daher sei der Begriff des Palimpsests in seiner Bedeutung eines ›Übereinander‹ von Sinnstrukturen nur bedingt anwendbar und ihm sei der Begriff der bricolage im Sinne eines gleichberechtigten ›Nebeneinander‹ möglicher Sinnstrukturen vorzuziehen. Dieser Begriff verweist zugleich auf die Rolle der von Lévy-Strauss betonten Strukturalität des Mythos innerhalb der Erzählung, wobei sich der ästhetische Diskurs Tourniers in der Etablierung eines offenen, unabschließbar anderen, pluralen ästhetischen Diskurses vom ethnologischen Diskurs des Strukturalismus erheblich unterscheide. Der Bau der Evasion als eine Form dieser mythischen bricolage sei noch wesentlich einem teleologischen Denken Robinsons verhaftet, einem Diskurs, dem der ästhetisierende Blick fehle und der daher im Fluchtimpuls des Protagonisten stecken bleibe. Ebenso handle es sich bei der von Robinson durchlebten und an die intrauterine Phase eines Embryos erinnernden ›Geburtsvorgang‹ aus der Grotte um eine Form der Initiation, die nicht subjektdezentrierend, sondern vielmehr subjektzentrierend verlaufe und damit noch keine Züge einer ästhetischen, spielerisch offenen Utopie trage.

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Verabschiedung des frühromantischen Mythenkonzepts

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Die nachfolgende Distanzierung der Verfasserin von einem frühromantisch-idealistischen Mythenverständnis zugunsten einer Einordnung der tournierschen Robinsonade in den postmodernen Mythendiskurs ergibt sich für sie aus der Prämisse, dass die Frühromantik und selbst die »typologische Romantik« (S. 170) zwar als »Archäologie der Postmoderne« (S. 172) gelten könne, jedoch zutiefst einer individuellen Sinnsuche sowie einem Ideal von Identität verhaftet bleibe. Dieser lasse sich der Roman Tourniers in seinem Bewusstsein einer Ereignishaftigkeit, die in eine Ästhetik des Spiels und schließlich der Wiederholung und Fragmentarisierung mündet, nicht subsumieren. Die vorliegende Analyse richtet sich somit dezidiert gegen solche am romantischen Mythos orientierten Konzepte der Sekundärliteratur wie diejenigen Bouloumiés, Scheiners oder auch Viernes 2 .

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Schließlich führt auch die folgende Analyse zum Subjekt in seinem Verhältnis zu einer structure autrui bzw. die Analyse der verschiedenen Kompensationen des Protagonisten hinsichtlich der Etablierung eines Diskurses, der autrui künstlich aufrecht erhält, so z.B. die Personifizierung der Insel oder der Dialog mit Gott als dem ›ganz Anderen‹ zu dem Ergebnis, dass der ›homo faber‹ in seiner Phase avant-Vendredi noch nicht zu einem ›homo ludens‹ geworden ist. Alle Bemühungen des Protagonisten zielen noch immer in Richtung einer einseitigen Unterwerfung und Beherrschung der Insel, der Zeit und der Sprache. Von diesem Wunsch nach Beherrschung zeugen auch die (absurden) Ökonomiebestrebungen des ›noch nicht aus der Welt gefallenen Gouverneurs‹ Robinson.

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Die dem Erscheinen Freitags auf der Insel vorausgehenden Ereignisse vermögen zwar vereinzelt Funken des Zweifels am subjekt- und identitätssichernden Diskurs Robinsons zu streuen, wie z.B. die Entdeckung der versteinerten Fußspur im Fels der Insel, die Schmitz als potentielle Ankündigung einer »anderen Insel« deutet (S. 221), oder auch die Entstehung der Mandragore als ästhetisches Produkt eines ›Dritten‹ zwischen der begehrten Insel und dem begehrenden Subjekt (S. 214). Diese aufschimmernden Funken einer zeitlosen ›anderen Insel‹ haben jedoch vor der eigentlichen Ankunft Freitags noch nicht die Macht, Robinson als erkennendes, begehrendes und schreibendes Individuum radikal in Frage zu stellen.

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Robinson und Freitag

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Bereits mit der Ankunft Freitags und dem Beginn der Phase avec-Vendredi, hier mit etwa 150 Seiten das ausführlichste Kapitel der Arbeit, wandelt sich die Situation für Robinson radikal. Der Eingeborene erweist sich von Anfang an als radikale Alterität. Als ein ›drittes Moment‹ zwischen Insel und Robinson sei er in der Lage, diesen im Medium des subversiven, dionysischen Lachens, das wesentliche Anklänge an Nietzsches Zarathustra in sich birgt, für eine ästhetische Initiation zu öffnen. Die Autorität und der Herrschaftsanspruch des ›Gouverneurs‹ und das zunächst sich etablierende hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis werden jedoch bald brüchig, nach und nach gänzlich dekonstruiert und führen zu einer Umwertung aller bisher gültigen Werte und einer Aufhebung der Gegensätze. Das subversive Lachen Freitags verstehe sich als ein »nicht-diskursiver Widerstand« (S. 248) gegenüber der fragwürdig gewordenen Ordnung der Insel:

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Mit dem abgründigen Lachen ist somit das Spielfeld der Dekonstruktion eröffnet, die das fest gefügte Gebilde der Robinsongeschichte in die Pluralität ihrer diskursiven Bestandteile zerlegt, um sie anschließend disseminativ für neue Lesarten, für die Flucht möglicher Interpretationen, zu öffnen. (S. 247)
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Der Störfall, die Explosion der Grotte, werde schließlich zum Ereignis, das aus der Utopie des Systems (Defoe) bei Tournier eine ›chaotische‹ Utopie werden lasse, bei der es sich nicht nur um eine »inversion complète des idées de Defoe« handle, sondern die zugleich auf die »utopisierende Möglichkeit von Sprache und Dichtung selbst [und] auf die im Text liegende ästhetische Sprengkraft« verweise (S. 263). »Nur ein utopisches, die Grenzen der identitären und nach bestimmten Wertvorstellungen identifizierenden Konstrukte sprengendes Denken verwandelt die Welt der Dinge in eine Welt von Ereignissen« (S. 264).

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›Palimpsest des Palimpsests‹

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Die ausführliche Interpretation des dionysischen Vendredi und dessen Affinität zu Nietzsches Übermensch erscheint – trotz der Tatsache, dass bereits Arlette Bouloumié als eine der Tournier-Forscherinnen der ersten Stunde und in ihrer Folge auch andere Autoren diesem Aspekt nietzscheanischer Philosophie im Werk Tourniers ausführlich Beachtung schenken –nicht überflüssig, da diese Analyse sicherlich das Kernstück einer ästhetischen Utopie bildet, innerhalb derer sich die Metamorphose Robinsons »zu einem utopisch entgrenzten, bejahenden Dasein« (S. 270) vollzieht. Der innerhalb einer solchen Ästhetik sich proklamierende nietzscheanisch konnotierte ›Wille zur Macht‹ dürfe allerdings nicht als der Wille zu einer »Unterwerfung oder Veränderung des Anderen« missverstanden werden, sondern sei vielmehr zu verstehen als die »Bejahung jenes Unbekannten, das jedem menschlichen Selbst als ein Spiel differentieller Kräfte zugrundeliegt« (S. 279). Das Inseluniversum wird durch Freitag nach und nach ästhetisiert und Robinson erlebt zeitgleich eine ästhetische Transformation seines eigenen Weltbezugs. So werde auch der Ziegenbock Andoar als Metapher für Robinson, der wiederum als Metapher für den Schriftsteller deutbar sei, zu einem Palimpsest, auf dem der Schriftsteller, nunmehr mit der Albatrosfeder, seine ästhetische Utopie zu schreiben beginnt – eine »neue Art des Schreibens, die sich als Palimpsest des Palimpsests zu behaupten sucht« (S. 297).

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Merkwürdig ist, dass Schmitz nun doch den Begriff des Palimpsestes verwendet; warum wurde er zuvor abgewiesen? Hier erscheint der Terminus aus zwei Gründen konsequent gewählt: Zum einen handelt es sich bei Andoar tatsächlich um ein konkretes Palimpsest: also um ein Stück Pergament (Tierhaut), das von Robinson beschriftet wird, zum anderen jedoch macht die Autorin auch deutlich (wenn ich sie hier richtig verstehe), dass der ›Palimpsest des Palimpsests‹ so etwas wie die ›Apokalypse der Apokalypse‹ (Derrida) sein könnte, also die Negation bzw. (ästhetische) Dekonstruktion des ursprünglichen (Logbuch)-Palimpsests der Virginie- und Gouverneurszeiten. Damit wäre ihre Präferenz des Begriffes der bricolage im Zusammenhang mit dem frühen Palimpsest Robinsons und der tournierschen Intertextualität letztlich nicht in Frage gestellt.

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In dem Auftauchen der Whitebird sieht Schmitz einen geschichtlichen Vorgang begründet, der sich offenbar zunächst gegen eine auf der Insel durch die Initiation und Metamorphose Robinsons etablierte Ereignishaftigkeit richtet und diese gefährdet: Historisches Subjekt und Künstler stehen sich gegenüber und die von Robinson einst so erhoffte Rettung erweist sich mittlerweile als unerwünschtes Eindringen in die zirkuläre Ewigkeit der gelebten Insel-Utopie der Zwillingsbrüder Robinson und Freitag. In dem Aufeinanderprallen zweier so verschiedener Welten spiegeln sich eine geschichtlich strukturierte und eine kosmisch-utopische Perspektive.

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Die Abfahrt und der bald darauf von Robinson bemerkte eigentliche Verlust, nämlich dass Freitag die Insel mit der Whitebird ebenfalls verlassen hat, stürzen diesen in ein finales Rendez-vous mit der Vergangenheit, in dem Konzepte wie Tod, Wahnsinn, Erinnerung und Geschichte erneut eine wesentliche Rolle spielen. Erst das Auftauchen des Schiffjungen Jaan, in dessen Adoption durch Robinson die Verfasserin zugleich eine Auto-Adoption des Protagonisten sieht, vollende die ästhetische Utopie der Insel, die in ihrer werdenden Unabgeschlossenheit, in ihrem ereignishaften und systemsprengenden Spielcharakter zu einem Modell der Kunst und des Schriftstellers wird: »Anstatt die Ungeheuer der Tiefe als Held der Vernunft und der Erkenntnis zu bezwingen, kann er fortan als freier und schöpferischer Geist mit ihnen scherzen« (S. 359). Dies gelte für den Protagonisten der Robinsonade ebenso wie für den Künstler, wie Schmitz mit Salkin-Sbiroli festhält: »La métamorphose du personnage embrasse celle de l’écrivain qui crée un monde où l’activité de l’homme devient un libre jeu de potentialité poétique«(S. 367).

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Fazit

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Barbara Schmitz legt plausibel dar, dass sich die Robinsonade Tourniers als ein ästhetischer Entwurf innerhalb eines utopischen Paradigmenwechsels interpretieren lässt. Die utopische Welt, in der Robinson lebt, ist demnach nicht mehr mit der Vorstellung eines ›Besseren‹ verknüpft, sondern mit der Ereignishaftigkeit eines ›ganz Anderen‹, utopisch Unbestimmten. Tourniers Roman, der im »Kontext einer philosophischen Verabschiedung des Subjektbegriffes« (S. 372) steht, macht so den Ausblick frei auf eine gegen jeden Systemwillen gerichtete contre-utopie, die zugleich die Utopie des Schriftstellers und Künstlers ist, für die Robinson wie auch die Insel selbst als Metapher fungieren.

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Aufgabe des Schriftstellers als Wegbereiter einer neuen, ästhetischen Utopie ist es, unter Verzicht auf die Werkzeuge der Vernunft einen »verrückten« Ort (S. 375) zu entwerfen, dem ordre einen désordre entgegenzuhalten, die erfahrbare Welt zu dekonstruieren und das in ihr lebende Subjekt zu dezentrieren. Diese ästhetische Utopie des Schriftstellers als »Grenzübertritt zwischen dem Gewordenen und dem Möglichen« (S. 374) bleibt dabei in keiner Weise einer pessimistischen oder jenseitig-unrealistischen Konzeption von Welt verhaftet, sondern ist im Gegenteil Ausdruck einer kreativ-schöpferischen positiven Energie, mit der der ästhetische Utopist der diesseitigen Welt begegnet und in der Lage ist, diese zu verwandeln.

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Innerhalb der umfangreichen und überaus heterogenen Tournierforschung, die – bei einem so vielschichtigen und auf Widerspruch angelegten Werk möchte man sagen, zu Recht – die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze von hermeneutischen und poststrukturalistischen Herangehensweisen abdeckt, zeichnet sich die Arbeit von Barbara Schmitz auch dadurch aus, dass sie die wesentlichen theoretischen Eckpunkte der Tournierforschung unter einer sehr konkreten Fragestellung zusammenführt. Dies betrifft z.B. die Mythenanalyse, Theorien von Subjektivität und Identität oder auch aktuelle Intertextualitätstheorien. Die Konzentration auf nur ein Werk des Autors erscheint deshalb als folgerichtig und ergiebig.



Anmerkungen

Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 246.   zurück
Vierne, Simone: Rite, roman, initiation. Presses Universitaires de Grenoble 1973 ; Bouloumié, Arlette: Michel Tournier. Le roman mythologique. Suivi de questions à Michel Tournier. Paris: Corti 1988 ; Scheiner, Barbara: Romantische Themen und Mythen im Frühwerk Michel Tourniers. Ffm., Bern u.a.: Peter Lang 1990.   zurück