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'Sabotierte Ebenen'

Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems im Fokus der narrativen Metafiktion

  • Christian Schuldt: Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems. Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes »Tristram Shandy« und den frühen Romanen Flann O'Briens. (Lettre) Bielefeld: transcript 2005. 154 S. Paperback. EUR (D) 16,80.
    ISBN: 978-3-89942-402-7.
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Einführung

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»Solange die Zeichen noch referierten, konnte man sich Ebenendifferenzen vorstellen.« 1 So leitet Niklas Luhmann in seinem Buch Die Kunst der Gesellschaft seine Erläuterungen zum vorerst letzten Stadium beim Wandel vom Symbol zum Zeichen ein, das er mit dem Ausdruck ›Formenkombinatorik‹ bezeichnet (Luhmann, S. 287). Wenn das Zeichen – wie es im ausdifferenzierten Kunstsystem der Fall ist – nur noch als Differenz denkbar ist und folglich »die Bezeichnung der Einheit aus der Einheit der Differenz herauscopiert [sic]« 2 werden muss, so ist etwas wie »Stimmigkeit« im Zeichengebrauch nur noch durch eine entsprechenden Kombinatorik der verwendeten Formen (Unterscheidungen) möglich. Kurzum: Wenn es nur noch Differenzen gibt, dann müssen sie untereinander zumindest so arrangiert werden, dass sie zueinander passen.

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Zuvor, und darauf zielt Luhmann im obigen Zitat ab, konnten Differenzen noch als Unterscheidung von (einheitlichen) Ebenen gedacht werden, die klar voneinander getrennt bzw. miteinander in Verbindung gebracht werden konnten. Etwas überraschend wählt er an dieser Stelle zur Illustration dieser These kein semiotisches oder linguistisches Beispiel, sondern eines aus der Erzähltheorie: »die klassische Struktur der Erzählung«, die durch die Ebene »des Erzählens und die der erzählten Geschichte« gekennzeichnet ist.

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Relevant wird dies für eine der wichtigsten Funktionen von Kunst: der Darstellung von ›Welt‹. Konnte die unsichtbare, hintergründige Welt im Symbol noch sichtbar gemacht werden, so verschwindet diese nun innerhalb der Ebenendifferenz. Gleichwohl kann dieses ›Unsichtbarmachen‹ selbst wieder auf narrative Art und Weise angezeigt werden, indem nämlich die Trennung der beiden Erzählebenen bewusst überschritten wird. Es scheint auf den ersten Blick einleuchtend, wenn Luhmann als historisches Beispiel für eine solche bewusst inszenierte ›Sabotage‹ der beiden narrativen Ebenen Laurence Sternes Roman Tristram Shandy (1758–67) anführt. Dieser seinerzeit so sonderliche Vertreter einer noch jungen literarischen Gattung, in dem die, sich gerade erst etablierenden Strukturen des neuzeitlich realistischen Romans, bereits gänzlich ad absurdum geführt zu werden scheinen. Jedoch kümmert sich Luhmann an dieser Stelle nicht um den realistischen Roman und dessen Geschichte. Im Gegenteil, ausgehend von seiner Überlegung der sabotierbaren Ebenentrennung springt er zeitlich gesehen direkt in die Gegenwart, wenn er fortführt:

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Die intakte, aber sabotierbare Trennung der Ebenen leistete genau das, was wir von Kunst erwarten: Sichtbarmachen durch Unsichtbarmachen […] Wenn dann aber diese Unterscheidung von Trennung und Sabotierung der Trennung auffällig wird und zum normalen Repertoire künstlerischer Mittel wird (wenn also der Erzähler in der Erzählung auftritt, weil er dies nicht darf), wo steht man dann? Und was wird möglich, wenn man nun davon auszugehen hat? 3
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Das Vorhaben

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Christian Schuldt schließt mit der vorliegenden Monographie an dieses mit Luhmanns Fragen formulierte Problem an. Zugleich legt er eine systemtheoretische Analyse sowohl des genannten Werks von Laurence Sterne als auch der beiden oftmals als postmodern erachteten Romane At-Swim-Two-Birds (1939) und The Third Policeman (1940) des irischen Schriftstellers Flann O’Brien vor. An diesen Romanen arbeitet Schuldt den jeweiligen metafiktional-narrativen Charakter der Texte heraus und deutet diesen dann in einem weiteren Schritt im Sinne einer sich selbst beobachtenden autopoetischen Kunstkommunikation. Im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen und systemtheoretischen Überlegungen stehen der genannte Begriff der ›Ebene‹ und dessen metafiktionale und narrative Problematisierung.

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Ein weiteres Anliegen besteht darin, den jeweiligen sozio-historischen Kontext der Texte – eng angelehnt an Luhmanns eigenen Thesen – aufzuzeigen, um so den betreffenden, sich wandelnden Ausdifferenzierungsstand des Kunstsystems als solchem und dessen fortschreitenden Autonomisierung zu veranschaulichen.

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Im Zentrum dieses anvisierten historischen Grundrisses, wenngleich von Schuldt selbst nicht in den Vordergrund gerückt, stehen spezifische romantheoretische Thesen, die im Rahmen eines noch näher zu erläuternden romangeschichtlichen Dreischritt-Modells verortet werden können. Diesbezüglich sei an dieser Stelle gleich erwähnt, dass Schuldt sowohl mit Blick auf die Lektüre des Tristram Shandy als auch bei den besagten romantheoretischen Thesen mehr oder minder deutliche Anleihen aus den Arbeiten des mittlerweile verstorbenen Anglisten Dietrich Schwanitz nimmt.

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Für die Aufteilung des Buches heißt dies, dass er nach einem kurzen einführenden Kapitel zur Systemtheorie und zur Metafiktion sowohl neben den einzelnen Analysen der betreffenden Romane in einzelnen Abschnitten (››Sattelzeit‹‹, ››Romantik‹‹, ››Postmoderne‹‹, ››Irland des 20. Jahrhunderts‹‹) die Evolution des Kunstsystems nachzeichnet.

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Systemtheorie und Metafiktion
Kunstkommunikation: Die Tarnung der Handlung

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Ein Leitaspekt besteht für Schuldt darin, nach dem Beitrag zu fragen, den metafiktionale Kunstwerke mit ihren komplexen Beobachterverhältnissen zur Selbstreflexion und Autonomisierung des Kunstsystems leisten. Bevor er sich dem jedoch zuwendet, führt er den (systemtheoretisch unerfahrenen) Leser zunächst in den triadischen Kommunikationsbegriff Luhmanns ein, um davon ausgehend das spezifische Attributionsproblem einer Kunstkommunikation zu erläutern, deren Handeln als ›kontingent‹ angesehen zu werden droht. Kommunikation beschreibt sich selbst – und da sie als ein raum-zeitliches Ereignis verhandelbar sein muss, bekanntlich als Handlung, oder wie es Luhmann in Soziale Systeme treffend sagt: »ein Kommunikationssystem [muß] […] als Handlungssystem ausgeflaggt werden« (Soziale Systeme, S. 226). Mit Bezug auf die Kunst bedeutet dies, das dem Künstler (Alter) üblicherweise das Handeln und dem Betrachter (Ego) das Erleben zugerechnet (attribuiert) wird. Das Erleben in der Kunst orientiert sich also an den Handlungen anderer. Kunstkommunikation ist also auf einen Erlebniseffekt aus, und weil Kunstwerke »den Anspruch haben, Erleben zu fesseln und nach ihren Vorgaben zu leiten […], muss die Kunstkommunikation […] ihre Kontingenz, ihr Hergestelltsein verdecken« (S. 14). Um dies zu leisten, muss einer der drei Selektionen der Kommunikation, der Mitteilungsaspekt (neben Information und Verstehen) der Kommunikation versteckt werden. Dies gelingt der Kunst, so Luhmann, mittels einer Umattribuierung von Handeln auf Erleben. Sie macht also paradoxerweise »ihre Selbstbeschreibung als Handlung rückgängig und tarnt sich als Erleben« (S. 14). Laut Schuldts romangeschichtlichem Abriss ist es der realistische Roman nach Laurence Sternes Tristram Shandy, der spezifische Erzähltechniken entwickelt, mit deren Hilfe eine solche Tarnung vollzogen und die Kontingenz der eigentlichen Kommunikationshandlung verdeckt werden kann.

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Metafiktion:
Die Entdeckung der Tarnung durch Selbstbeobachtung

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Um die metafiktionalen Romane der Gegenwart als Instanzen beschreiben zu können, die in der Lage sind, eine solche narrativ abgesicherte Camouflage wieder aufzudecken, wendet sich Schuldt einleitend noch dem Verhältnis von Metafiktion und dem Begriff der Beobachtung zu. Metafiktionale Kunstwerke hinterfragen bekanntlich das Konzept der Fiktionalität. Anstelle einer starren Dichotomie von Realität und Mimesis, setzen sie als Leitunterscheidung vielmehr die Differenz von realer Realität und fiktionaler Realität an. Mit anderen Worten, die Unterscheidung hält in den (unterschiedenen) Realitätsbegriff reflexiv noch einmal Einzug. Ist ein solcher re-entry erst einmal vollzogen, nehmen die entsprechenden Kommunikationsformen mit Bezug auf traditionelle Realitätskonzepte offenkundig dekonstruierende Züge an (Zweifel an ›Referenzialität‹ und ›Repräsentation‹ etc.). Nichtsdestotrotz legen metafiktionale Texte hinsichtlich der Reflexion über die fiktionale Illusion von Kunst und der damit verbundenen Rolle des Lesers auch einen konstruktiven Zugang zur Realitätsdebatte frei. »Anders als konventionelle Romane zwingen metafiktionale Texte den Leser dazu, die Richtigkeit seiner gängigen Unterscheidung von Kunst und Leben zu überprüfen und jegliche Leseerfahrung in Bezug auf den Akt des Schreibens und Lesens wahrzunehmen« (S. 24). Metafiktionen regen den Leser also zur Selbstbeobachtung zweiter Ordnung an. Sowohl dieser Anreiz zum Beobachten von Beobachtungen als auch das dekonstruktive Spiel mit der realistisch-fiktionalen Illusion sind laut Schuldt als »Vermengung von Beobachtungsebenen« beschreibbar. Das wichtigste analytische Instrument stellt für Schuldt deshalb der Begriff der Metalepse dar. Diese, stets durch eine metafiktionale Selbstbeobachtung zweiter oder dritter Ordnung herbeigeführten Interferenzen zwischen zwei festen Ebenen, ganz gleich ob im narrativen (Erzählen/Erzähltes) oder fiktionalen Sinne (Fiktion/Realität), zeigen eine bewusst herbeigeführte Asymmetrisierung (oder ›Sabotage‹!) dieser Ordnungsebenen an.

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Damit hat Schuldt sein entscheidendes Scharnier zur Verbindung von Systemtheorie, Metafiktion und Romantheorie eingesetzt. Sowohl mit dem Ebenenbegriff als auch dem der ›Asymmetrisierung‹ vermag Schuldt so, vermeintlich disparate Begriffskomplexe wie die systemtheoretische Attribution der Kommunikation (Handeln/Erleben), der literaturwissenschaftlichen Narration (Erzählen/Erzähltes) sowie der Fiktionalität (Realität/Fiktion) miteinander in Beziehung zu setzen.

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Tristram Shandy:
Ein interaktives Erzähler-Leser-Verhältnis

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Schuldts Ausgangspunkt für seine Analyse des Tristram Shandy (Kap. 2.2) ist das sich in der Sattelzeit etablierende Verständnis von Kommunikation als einem Modell der Verständigung. Laut Schuldt kommt mit dem Tristram Shandy gegenüber diesem Anspruch eine skeptische Haltung zum Ausdruck; und das nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch formaler Ebene. Schuldt blickt deshalb zunächst auf das den Text daher kennzeichnende – und bereits häufig kommentierte – Erzähl- und Kommunikationsmodell zwischen Erzähler und fiktivem Leser.

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Bekanntlich verzichtet der Erzähler Tristram in programmatischer Selbstdeklaration auf traditionelle Erzählkonventionen und Normen, insofern er sich beim Erzählen ausschließlich auf seine (wechselnden) subjektiven Impulse verlässt. Schuldt beschreibt hieran anknüpfend, wie mittels dieser Erzählweise der fiktive Leser in den Erzählakt kommunikativ integriert werden kann. Dies geschieht, indem »eine pseudo-interaktive Situation zwischen fiktivem Leser und Erzähler« (S. 33) etabliert wird, die zugleich, da sie im Erzähltempus des Präsens gehalten ist, auch den realen Leser kommunikativ und situativ an den Erzählvorgang zu binden vermag. Da im Text nun fortwährend Kommunikationsprobleme thematisiert werden, betreffen diese – quasi performativ – zu einem großen Teil auch immer den fiktiven bzw. realen Leser. So wird es letzteren etwa überlassen, die im Text permanent vollzogenen, sexuellen Auslassungen und Andeutungen zu konkretisieren. Auch das Insistieren des Erzählers Tristram auf die Eindeutigkeit einiger von ihm gebrauchten (mehrdeutigen) Ausdrücke – zu erwähnen sei hier etwa Tristrams penetrantes Beharren darauf, dass von ihm so häufig verwendete Wort ›nose‹ diene ausschließlich zur Bezeichnung des entsprechenden Körperteils – und andere vom Erzähler bewusst kalkulierte Missverständnisse bewirken letztlich Distanzierungs- und damit auch Beobachtungsanreize für den realen Leser.

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Das Tristram-Shandy-Erzählproblem:
Fehlende Asymmetrien

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Eine wichtige Voraussetzung für das Zustandkommen dieser (präsentischen) Erzähler-Leser-Interaktion ist die fiktive zeitliche Gleichsetzung von Lesen und Schreiben. So kann inszeniert werden, wie Tristram bei dem Versuch scheitert sein Erzählen (dem Leser) zu erzählen. Narrativ gesehen erscheint Selbstbeobachtung eigentlich in Form der nachträglichen Reflexion über das bereits Erzählte. Indem es aber Schuldts Ansicht nach dem Text gelingt, durch die permanente Thematisierung des scheinbar gegenwärtigen Momentes (des Schreibens und des Lesens) »die Nachträglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung im Akt des realen Lesens zu verschleiern und damit eine Identifikation des Lesers mit dem Erzähler zu motivieren« (S. 41), wird der reale Leser in die Lage zu versetzt, »das zentrale Problem literarischer Selbstbeobachtung« (S. 42) zu beobachten: »die Nichterzählbarkeit des eigenen Erzählens« (ebd.).

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Wenn Tristram sich dem zeitbedingtem Konflikt ausgeliefert sieht, dass, je länger seine chronologisch-autobiographischen Schreibversuche andauern, sich immer mehr ›tatsächliche‹ Erlebnisse anhäufen, die einer Erzählung harren, wenn also Erzählzeit mit erzählter Zeit gleichgesetzt wird, oder wenn der Erzähler den fiktiven Leser von der extradiegetischen auf die diegetische Ebene befördert, dann sind dies Beispiele für die wohlbekannten temporalen und erzähllogischen Paradoxien des Romans.

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Schuldt beton nun, dass diese Überschreitungen schlichtweg die Folge des kühnen Selbstbeobachtungsversuchs des Romans darstellen. Infolge der sich daraus ergebenden Überlagerung der Ebenen des Erzählten und des Erzählens, werden entscheidende Asymmetrien aufgehoben, die für eine eindeutige Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz des selbstreferenziellen Erzählens notwendig sind. Schuldt selbst spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Oszillieren zwischen […] der Eigengesetzlichkeit des Erzählens (Opinions) und der Kausalität des Erzählten (Life), das zu temporalen und logischen Paradoxien in Form von Interferenzen beider Ebenen führt« (S. 44).

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Die Sabotage besteht also darin, dass die eigentlichen temporalen und erzähllogischen Asymmetrien zwischen Erzählen und Erzähltem durch gezielt herbeigeführte Interferenzen umgangen werden. Genau darin liegt sowohl das selbstreflexive Moment des Selbstbeobachtens begründet als auch der Anreiz für den Leser, dieses Moment wiederum selbst zu beobachten.

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Schwanitz und das
»Problem-Lösungs-Modell« des modernen Romans

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Spätestens an diesem Punkt der Argumentation, die durch die Analogie zwischen Erzählen und Beobachten bestimmt ist, rücken die bei Dietrich Schwanitz genommenen gedanklichen Anleihen in Schuldts Darlegungen allmählich in den Vordergrund. 4 Schwanitz’ zentraler Ansatz bei der Übersetzung systemtheoretischer in literaturwissenschaftliche Zusammenhänge bestand darin, die sich aus der autopoietischen Konstitution des Bewusstseins ergebende unaufhebbare temporale Differenz zwischen Vorstellung und beobachtenden Gedanken und deren korrespondierenden Differenz von Fremd- und Selbstreferenz auf narrative Zusammenhänge zu übertragen. Demzufolge kann, analog zum Gedanken, auch das Erzählen, welches »mit dem Rücken des Fortschreitens das Erzählte als Einheit von ›Erzähltem‹ und ›Erzählen‹ konstituiert« 5 (Schwanitz, S. 167), die Irreversibilität der Zeit nicht aufheben. Sobald das Erzählen versucht, sich im Moment des Erzählens selbst zu beobachten (zu erzählen), kommt es zu Interferenzen zwischen den Erzählebenen bzw. zwischen Fremd- und Selbstreferenz. Ein direkter Vergleich mit Schwanitz’ Analysen lässt in Bezug auf Schuldts Ausführungen leider die Einschätzung zu, dass letztere im Grunde nicht viel mehr anbieten, als diese Problematik der Irreversibilität der Zeit beim Erzählen anhand des Tristram Shandy erneut herauszuarbeiten.

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Für Schwanitz dient dieser Befund zudem als ein wichtiger Baustein für seine literarhistorischen und gattungstheoretischen Thesen in Bezug auf die Entwicklung des modernen Romans, so dass er den im 18. Jahrhundert aufkommenden, realistischen Roman als ein Symptom einer generell zunehmenden Problematisierung der Irreversibilität der Zeit liest, und zwar insofern er sich die unaufhebbare Grunddifferenz von Erzählen und Erzähltem entweder latent oder, wie im Tristram Shandy explizit, zum Thema macht. Da im Falle des letzteren die selbstreferenziellen Paradoxien des Erzählens endgültig freigesetzt werden, spricht er diesbezüglich auch von einem aufgeworfenen »Erzählproblem für den Roman«. Gleichwohl dient dieser bewusst herbeigeführte Ebenenkollaps gleichsam auch als Garant für die Weiterentwicklung des Genres, insofern er einen Bedarf an »Lösungen« für diese Probleme produziert wird.

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Invisibilisierung

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Schuldt folgt Schwanitz auch in der romanhistorischen Deutung dieses Befundes und übernimmt neben der Interpretation des Erzählproblems auch den nächsten Entwicklungsschritt, den Schwanitz als eine entsprechende »Lösung« liest (er referiert die entsprechenden Ausführungen in einem gesonderten Kapitel [3.2]). Schwanitz sieht den Lösungsbedarf zumindest vorübergehend gestillt, insofern die weitere Entwicklung des realistischen Romans vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass die narrative Anfälligkeit für einen solchen Wegfall der notwendigen Asymmetrien sozusagen ›verdeckt‹ wurde. Demnach wird in den Romanen fortan eine Differenz geschaffen, die die Relation zwischen Erzählen und Erzählten atemporalisiert, so dass die »Ebenendifferenz zwischen der autopoietischen Selbstkonstitution der Geschichte (der Differenz Erzählen / Erzähltes) und ihrer Selbstbeschreibung (als Einheit der Differenz) […] verschleiert« wird (S. 57). Die Pointe liegt also darin, dass die im Tristram Shandy noch offen zu Tage tretenden Selbstreferenzparadoxien und deren Entfaltung in die Ebene der Geschichte selbst verlegt werden. Dort wird fortan nicht länger versucht – wie zuvor noch auf der Erzählebene – in einer Art offenen Modus eine laufende Vermittlung zwischen offener Zukunft und Vergangenheit zu vollziehen. Dies gelingt, indem die »Zukunft als temporaler Ort des Erzählers« regelrecht abgeschnitten wird (S.58). Indem die retrospektive Perspektive des Erzählers bis zum Ende suspendiert wird, kann auf der Figurenebene eine offene und kontingente Zukunft (etwa der offene Ausgang einer Liebesgeschichte in den Romanen Jane Austens) verhandelt werden. Der Erzähler – und dessen Mitteilungsselektion – wird also gleichsam invisibilisiert und »lässt dann den kontingenten Horizont der verdrängten Zukunft [für die Figuren und den Leser der Geschichte] progressiv erfahrbar werden, bis am Ende das Erzählte das Erzählen eingeholt hat und die Zukunftsorientiertheit in rückblickende Aufklärung umschlägt« (S. 59). Mitteilen tarnt sich als Erleben. »Die Zeithorizonte von Leser, Erzähler und Erzähltem verschmelzen, und die Frage, wem das erzählte Geschehen zurechenbar ist – der Kommunikation des Erzählers oder dem Erleben der Figur –, wird unentscheidbar gemacht« (S. 58).

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Die am Ende der Geschichte rückblickende Erzählsituation wandelt dann jegliche Kontingenz in aufgeklärte Notwendigkeit um, und verhindert so die im Tristram Shandy noch vorhandenen und durch fehlende Asymmetrien verursachten Paradoxien.

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Metafiktion und Postmoderne

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Schuldt übernimmt also Schwanitz’ Problem- und Invisibilisierungsmetaphorik. Um mit diesem Modell den Sprung in die Postmoderne zu vollziehen, modifiziert Schuldt es um einen dritten Schritt, demzufolge die verdeckten Paradoxien in der Postmoderne, repräsentativ bei Flann O’Brien, wieder freigelegt werden. In der Postmoderne ist die Umstellung auf die Beobachtung zweiter Ordnung erwartungsgemäß voll erfolgt. Die Kunst übernimmt die Funktion, den damit einher gehenden Verlust von Konzepten wie ›Repräsentation‹ und ›Autorität‹ darzustellen. Indem sie die Welt nicht länger einfach mimetisch reproduziert, sondern nunmehr die mittlerweile selbst konstatierte Unsichtbarkeit der Welt selbst nachahmt und insofern also dabei hilft, ein kompensatorisches Kontingenzbewusstsein aufzubauen. Diese und andere Thesen Luhmanns sind es, die Schuldt anführt, um seine abschließende historische Skizze des Kunstsystems einzuleiten. Bei der Darstellung der generellen Veränderungen, die mit der Postmoderne einhergehen, dient ihm vor allem der Begriff des Grand Récit. Der eigentliche Übergang von der Moderne zur Postmoderne liege – und das ist nicht weiter überraschend – in einem Bruch mit den in der Moderne immer noch geltenden aufklärerisch-narrativen Strukturen und Sinnansprüchen. Ist die Moderne noch bemüht, die Gesellschaft von Problemen der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung freizuhalten, gelänge dies, so Schuldt, mit dem endgültigen Obsoletwerden des Grand Récit in der Postmoderne nicht länger.

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Indem Metafiktionen im allgemeinen Zusammenhang mit »einer postmodernen Problematisierung des Realitätskonzepts« stünden (S. 67) und sich im Besonderen gegen die sich selbst hervorbringenden Handlungsmuster realistischer Romane wendeten, etwa indem sie das Merkmal der Polyphonie zeigten, bestehe eine naturgemäß enge Affinität zwischen Metafiktion und Postmoderne:

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Indem postmoderne Metafiktion also die Paradoxiepotenziale offen legt, die durch das Erzählmuster des Grand Récit verborgen wurden, reflektiert sie die ››multiplicity of reality‹‹ und erfüllt zugleich die Kunstfunktion, eine alternative, polykontexturale Version von Realität zu schaffen. Auch die damit erfolgenden radikalisierten re-entrys müssen aber – trotz des Verzichts auf vereinheitlichende narrative Konventionen – auf das kunstcharakteristische Sichtbarmachen von Nicht-Beliebigkeit hinauslaufen. (S. 71)
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Die Wiederoffenlegung:
O’Briens At Swim-Two-Birds

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Sowohl O’Briens Roman At Swim-Two-Birds als auch The Third Policeman stellen – so die Grundthese von Schuldt – eine postmodern-metafiktionale Dekonstruktion des Grand Récit dar, indem sie die Mechanismen des selbstaufklärerischen Erzählmusters und der realistischen Erzählabsicherung der invisibilisierten Erzählsituation aufdecken, um letztlich die im Tristram Shandy noch offen zutage tretenden Paradoxien wieder freizulegen (S. 125).

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Schuldt beginnt seine Ausführungen über At Swim-Two-Birds zunächst mit der recht trivialen Beobachtung, dass der Text einen metafiktionalen Roman darstellt »der sich selbst auf mehreren Ebenen, als Roman im Roman im Roman, offen thematisiert« (S. 80.). Auch hier werden also Erzählebenen verschoben und miteinander in Beziehung gesetzt; jedoch dient dies nicht länger – wie noch im Tristram Shandy – dazu, »die Erzählerstimme zu unterminieren, erzähltechnische Paradoxien zu produzieren und auf Plausibilitätsnotstände zu verweisen« (S. 134). Sabotage wird hier vielmehr zum offenen Kalkül. Durch das Arrangement mehrerer Ebenen wird die Einheit von Erzählen und Erzähltem des realistischen Romans bewusst gebrochen. Mit Schuldts eigenen Worten: Die »Ebenenvermischung von Erzählen und Erzähltem« erfährt in »den erzählerischen re-entrys zweiter und dritter Ordnung« (S. 134) eine »Radikalisierung in der Mehrebenenstruktur« (ebd.). Dieses offen dargelegte und kalkulierte Mehrebenenspiel dekonstruiert demnach die zahlreichen Konventionen des Grand Récit und deckt deren Artifizialität auf. So etwa den Mythos vom Autor als Schöpfergott, der schlichtweg als »asymmetrische Autor-Figuren-Relation im konventionellen Roman« (S. 84) deklariert werden kann und im Modus der selbstreferentiellen Metafiktionen keinerlei Geltung mehr besitzt. Auch die vielen intertextuellen Strategien des Textes weisen die Tendenzen des realistischen Romans zurück, sich »als eine erzählerische Einheit sui generis [zu] plausibilisieren« (S. 85).

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Es irritiert an dieser Stelle ein wenig, dass Schuldt das zuvor aufgeworfene Problem der Einheit der Unterscheidung von Erzählen und Erzähltem, welche durch den temporalen Aufschub von kontingenter Mitteilung einerseits und abschließender Umkehr zu retrospektiver Notwendigkeit (auf der Ebene des Erzählten) andererseits etabliert wurde, letztlich nicht mehr weiter verfolgt. Vielmehr rückt die ebenfalls daran gekoppelte Einheit der Unterscheidung von Realität und Fiktionalität in den Vordergrund.

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The Third Policeman
Die Unbeobachtbarkeit der realen Realität

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So auch in der Darstellung zu The Third Policeman. Vollzieht sich die intendierte Ebenenmanipulation in At Swim-Two-Birds noch offen und direkt, so arbeiten die metafiktionalen Strategien in diesem Text in verdeckter Form. Die metaleptischen Strategien sind weniger präsent und wirken vielmehr im Hintergrund innerhalb eines vermeintlich traditionell realistischen Erzählmusters. Durch das Oszillieren zwischen Tradition und Metafiktion wird der Leser verunsichert, etwa, wenn das klassische Detektiv-Genre unterminiert wird, insofern der Leser »dem Erzähler-Detektiv (der hier selbst ein Mörder ist) misstraut und selbst die richtige (metafiktionale) Interpretation für das polyphone Handlungsgeschehen herausfinden muss« (S. 105). Diese Umkehr des klassischen Erzähler-Leser-Verhältnisses (am Ende weiß nur der Leser, dass der Erzähler während des Erzählvorgangs bereits tot ist, nicht aber dieser selbst) gleicht einer Annäherung an den Erzählvorgang. Der Leser wird nicht nur zur Beobachtung der Selbstbeobachtung des Erzählens angestiftet (wie noch im Tristram Shandy!), sondern allen voran zur Selbstbeobachtung des eigenen »Erzählens« der Realität (S. 99). »Der gesamte Roman ist durchzogen von dem Bestreben, die Kontingenz und Willkürlichkeit der ›Realitäts‹-Strukturierung« bloßzulegen« (S. 121).

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Wie schon in At Swim-Two-Birds steht also auch in diesem Roman den metaleptischen Distanzierungstechniken (Verweigerung von Einheit, Geschlossenheit und Erkenntnis etc.) »das dichte Geflecht interner Parallelisierungen und die starke Verwobenheit der verschiedenen Erzählebenen und selbstreflexiven Metaphern entgegen« (S. 122). Dies und das metafiktionale Spiel mehrerer Erzählebenen setzt also die aus der selbstreferentiellen Behandlung der Differenz von Erzählen und Erzähltem hervorgegangenen Paradoxien insofern wieder frei, als dass sie nun zu einer »Darstellung der Unbeobachtbarkeit der ›realen Realität‹ in einer Wirklichkeit, die diskursiv konstruiert ist« (S. 134), führen.

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Fazit

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Wie bereits deutlich geworden sein sollte, verdanken sich recht viele Ausführungen in dieser Monographie den romantheoretischen bzw. systemtheoretisch-literaturwissenschaftlichen Überlegungen Dietrich Schwanitz’. Christian Schuldt verleiht diesem Umstand auch Ausdruck, indem er die Arbeit in memoriam für Dietrich Schwanitz verfasst hat. Sachlich erscheint das Gewicht der übernommenen Thesen und Konzepte dem Rezensenten doch etwas groß geraten. Dies gilt auch für den anderen Quelltext von Schuldt, Luhmanns Arbeit zum Kunstsystem. Wer neue Erkenntnisse über Letzteres erwartet (allein die Frage, ob es eines solches überhaupt gibt, wird gar nicht erst behandelt), dürfte hier nicht wirklich fündig werden. Gleiches gilt für die analysierten Romane, deren Interpretationen sich an klassischen Lesarten der Texte orientieren. Die auf historischen Skizzen zum jeweiligen ›Stand des Kunstsystems‹ basierende, und die einzelnen Textanalysen verbindende diachrone Gesamtdarstellung ist sachlich sicherlich weitgehend richtig, wirkt aber bisweilen auch konstruiert und ist im Falle der Darstellung des »irischen Kunstsystems des 20. Jahrhunderts« (Kap. 5.1) so reduktiv, dass sie nahezu überflüssig wird. Hätte dieses Buch nicht – wie der Umschlagtext vermuten lässt – eher den Laien als Adressaten, dann hätte es vielleicht einer so holzschnitzartigen Gesamtdarstellung der Evolution des Kunstsystems (mit der ›Autopoiesis der Kommunikation‹ als eine historische Kategorie und der ›Autonomie‹ als deren Telos) nicht bedurft. Und dann hätte sich womöglich auch der umständlich wirkende Beleg der abschließenden These, dass es sich bei den Romanen O’Briens um »Anschlusskommunikationen« zum Tristram Shandy handelt, schlichtweg erübrigt. Denn unterm Strich bleiben die grundlegenden romantheoretischen Fragestellungen, die Schuldt aufwirft, höchst interessant. Wenn die Leitdifferenz ›Erzählen‹/›Erzähltes‹ im modernen neuzeitlichen Roman per se selbstreferentiell oder -reflexiv thematisiert wird, dann stellt sich in der Tat die Frage, inwiefern die Differenz und Einheit dieser Unterscheidung in den Texten verhandelt werden und vor allem, ob und inwieweit hierbei ein Ebenenbegriff – etwa im Sinne der ›Ebene des Erzählens‹ – Aufschluss über diese Verhandlung geben kann.

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S. 287.   zurück
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Vgl. vor allem Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 1990. Aber auch die Aufsätze »Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama. Zur wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie und Literatur«, in: Dirk Baecker u.a. (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1987, S. 181–213 und »Laurence Sternes Tristram Shandy und der Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte«, in: Paul Geyer, Roland Hagenbüchle (Hrsg.): Das Paradox: Signatur der Krise. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Tübingen: Königshausen und Neumann 1992, S. 409–430.   zurück
Schwanitz 1990, S. 167.   zurück