IASLonline

Was vom Tage übrigbleibt

Die Siegfried Jacobsohn-Werkausgabe ist erschienen!

  • Siegfried Jacobsohn: Gesammelte Schriften. Hg. von Gunther Nickel und Alexander Weigel in Zusammenarbeit mit Hanne Knickmann und Johanna Schrön. 5 Bände. (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 85) Göttingen: Wallstein 2005. 2684 S. 118 s/w Abb. Gebunden im Schuber. EUR (D) 149,00.
    ISBN: 3-89244-672-5.
[1] 

Gilt schon die Kunst des Schauspielers als flüchtig – vermeintlich flicht ja hier die Nachwelt keine Kränze – so scheint die Kunst des Kritikers noch mehr dem Tag verpflichtet und eine noch kürzere Halbwertszeit zu haben.

[2] 

Angesichts dieser Tatsache mag das Unternehmen einer fünfbändigen Ausgabe gesammelter Schriften auf den ersten Blick erstaunen. Auf der anderen Seite hingegen erscheint der Autor, Siegfried Jacobsohn (1881–1926), allein schon als Person und Zeuge der Zeitgeschichte von großem Interesse zu sein: Er war Gründer und Herausgeber der Schaubühne, später Weltbühne, die eines der wichtigsten Foren ästhetischer, kultureller und politischer Auseinandersetzung war. In dieser Funktion war er mit einer Fülle bekannter Autoren in Kontakt – hier wäre eine lange Reihe zu nennen, aus der sicherlich Kurt Tucholsky, für den er Freund und Mentor war, besonders heraussticht. Die 1989 herausgegebenen Briefe Jacobsohns an Tucholsky 1 sind ein anrührendes Zeugnis dieser Freundschaft, aber auch Dokument eines Berufsethos, ja fast eines Sendungsbewusstseins, das angesichts der heutigen Schnelligkeit von Medien nur noch als heilsamer Anachronismus verstanden werden kann. Jacobsohn entwickelte seine Zeitschrift mit einer klaren Zielvorgabe, die zunehmende Politisierung, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Umbenennung in Weltbühne nach dem Ersten Weltkrieg fand, ist hierbei weniger als Bruch zu verstehen, als dass sie deutlich macht, wie sehr das Theater in der Wilhelminischen Gesellschaft ein Ort politischer Auseinandersetzung war, die andernorts nicht stattfinden konnte.

[3] 

Glücklicherweise sind die Schaubühne und die Weltbühne durch Nachdrucke stets verfügbar und erhältlich gewesen, anders als viele Zeitschriften, die teilweise selbst in Spezialarchiven nur noch fragmentarisch zu finden sind. Was also bietet die neue Jacobsohn-Ausgabe mehr?

[4] 

Jacobsohn neu entdecken

[5] 

Die vorliegende Ausgabe erlaubt es, den Autor Jacobsohn zu entdecken. Dies ist zum einen dadurch zu erklären, dass Jacobsohn keineswegs exklusiv für die Schaubühne schrieb, so dass viele seiner Texte – und auch die Reichweite seiner publizistischen Tätigkeit – sich in den Nachdrucken nicht finden. Hinzukommt, dass durch die Konzentration der Texte sich neue Linien und Schwerpunkte ergeben, die in der Fülle der Zeitschrift unterzugehen drohen. So ist das erste, was dem Leser ins Auge sticht, die Fülle des hier dargebotenen Materials: drei Textbände, ein Band mit Kommentaren sowie ein Registerband, der auch einen einführenden Essay zu Siegfried Jacobsohn enthält. Aber als sei dies nicht ohnehin genug, verdeutlicht die sorgfältig erstellte Gesamtbibliographie, wie viel immer noch außen vorgelassen werden musste. Ausführlich schildern die Herausgeber in ihrem editorischen Essay ihre Entscheidungsprozesse – und angesichts dieser Masse kann man die Qual der Wahl gut nachvollziehen.

[6] 

Die Quantität der Arbeiten gründet in dem besonderen beruflichen Selbstverständnis Jacobsohns: Er verstand den Beruf des Kritikers als eine ausfüllende Tätigkeit, die er mit Leidenschaft ausübte. Er schielte nicht auf eine mögliche weitere Karriere als Theaterleiter, wie etwa Otto Brahm oder Paul Schlenther dies taten. Er hielt sich auch nicht für einen noch unentdeckten Romancier oder Literaten, der eigentlich nur zum Nebenerwerb Kritiken schrieb, wie Alfred Kerr oder Fritz Mauthner. Nein, Jacobsohn hatte sich früh für die kleine Form entschieden, hier entwickelte er seine größte stilistische Präzision – umfangreichere Arbeiten sind kaum erhalten.

[7] 

Eine Ausnahme bietet hier – und es ist nicht der kleinste Verdienst der Ausgabe, dieses wichtige Dokument wieder zugänglich gemacht zu haben – die frühe Schrift Das Theater der Reichshauptstadt (1904), die Jacobsohn selbst als »freiwillige Dissertation« betrachtete und die die Theaterentwicklung in Berlin seit 1871 beleuchtete. Man soll sich hier allerdings nicht vertun: Auch in dieser scheinbar rein historiographischen Schrift steckt der Theaterkritiker, der in seiner Lesart der Vergangenheit die Spuren der Gegenwart und der Zukunft (im Guten wie im Schlechten) zu erkennen vermag. Jacobsohn legt eine deutliche Spur aus, die von dem Theaterboom, der durch die Gewährung der Gewerbefreiheit 1869 über den Naturalismus bis in seine Gegenwart reicht. 1904 ist für Jacobsohn Max Reinhardt noch der große Hoffnungsträger, der die Beschränkungen des Naturalismus in einem sinnenfrohen Theater aufzuheben verspricht. Wer jedoch in der Ausgabe weiter liest, wird schnell erkennen, wie sehr diese Hoffnung bald schwand und Jacobsohn auch Reinhardt immer kritischer gegenüber trat.

[8] 

Theater als Spiegel der Zeit

[9] 

Die kleine Schrift zeigt aber auch, wie sehr für Siegfried Jacobsohn das Theater ein Spiegel seiner Zeit ist. Lustvoll kanzelt er das neureiche Berliner Publikum ab, das im Theater eher sein Vergnügen als ein Kunst- oder Bildungserlebnis sucht:

[10] 
Auch in den teureren Theatern saß jetzt ein Publikum, dessen Aufnahmefähigkeit nicht über eine Reihe bunter Bilder, ein leichtes Ballet, eine prickelnde Musik hinausreichte. Die neue Unrast des ganzen täglichen Lebens mit ihren gehäuften Ansprüchen an das moderne Nervensystem half Ferien erzeugen, in denen kein Verstand der Verständigen einen Sinn entdeckte, die aber erschlaffte Nerven für einen Abend angenehm zu beleben vermochten. (Bd. 1, 15 f.)
[11] 

Jacobsohns Furor wird in den kommenden Jahren nicht nachlassen. Nicht lange und er überwirft sich auch mit Reinhardt, dessen Experimente mit dem Zirkus er strikt ablehnt. Er pflegt seine Feindschaften mit Eifer und literarischen Spitzen, etwa mit Alfred Kerr oder mit dem heute vergessenen Ernst Bergmann, dessen Streit mit Jacobsohn schließlich vor Gericht landete. 2 Die Ausgabe stellt Zeugnisse solcher Scharmützel und Zwistigkeiten, die sich oft auf den zweiten Blick als Oberflächensymptome einer tiefergehenden Auseinandersetzung darstellen, neben beziehungsweise zwischen die Kritiken. Die chronologische Ordnung der Ausgabe erscheint hier manchmal zu starr, weil sie manchen Faden, der zu knüpfen wäre, nicht zusammenfügt. Auf der anderen Seite wird an der zeitlichen Zusammenschau erkennbar, wie lebendig, widersprüchlich und vielseitig das Feuilleton dieser Zeit war. Theaterkritik wird lesbar als Spur kultureller Wirklichkeit und Spannungen einer Gesellschaft, von denen die scheinbar ephemere Form in viel stärkerem Maße durchdrungen ist als etwa literarische Zeugnisse.

[12] 

Allerdings ist diese Spurensuche nicht ohne einen ausführlichen Handapparat möglich: Zu viel ist tatsächlich so vergessen, dass es nur dank des philologischen Eifers der Herausgeber und ihrer Mitstreiterinnen wieder ans Tageslicht zurückgeholt werden kann. Wer kennt heute noch Ferdinand Bonn? Oder Martin Zickel? Oder Josef Kainz? Selbst bekanntere Namen wie Otto Brahm oder Leopold Jeßner rufen oftmals kaum mehr als lexikalisches Wissen hervor. Es ist hilfreich und dem vollbrachten Aufwand nach bewundernswert, mit welcher Genauigkeit und Fülle hier Hintergründe rekonstruiert, Zusammenhänge aufgezeigt und historisches Faktenwissen bereitgestellt werden. Wer sich dieser – nur auf den ersten Blick mühsamen – Doppellektüre von Kommentar und Text unterzieht, dem eröffnet sich ein Blick auf das frühe 20. Jahrhundert in seltener Farbigkeit.

[13] 

Man mag im Vergleich die stilisierten Boshaftigkeiten Kerrs für literarisch wertvoller halten oder Polgars Sprachkraft höher schätzen, solche ›lukullischen Urteile‹ verfehlen aber die Bedeutung der vorliegenden Edition im Kern. Jacobsohns Stärke liegt in der Klarheit seines Urteils sowie in seinem Blickwinkel, der auch den kulturellen Kontext stets in seine Texte einwebt.

[14] 

Fazit

[15] 

Man mag darüber räsonieren, ob das Mammutwerk einer solchen Edition noch zeitgemäß ist. Man mag sich auch darüber streiten, ob Jacobsohns Kritiken den heutigen Leser noch hinreichend amüsieren können. Diese Überlegungen sind durchaus berechtigt, allerdings greifen sie zu kurz: Die vorliegende Ausgabe macht deutlich, wie sehr die scheinbar randständige Gattung der Theaterkritik zu einem sprechenden und lebendigen Zeugnis historischer Erfahrung – weit über das Theater hinaus – werden kann. Dies mag nicht ohne Aufwand möglich sein, lohnt der Mühe aber in jedem Fall. Insofern ist die vorliegende Ausgabe kein Abschluss – außer der Arbeit der Editoren – , nun gilt es, den hier so sorgsam aufbereiteten und auch bibliographisch ansprechend gestalteten Schatz zu heben. Man wünscht der Edition, dass sie gebraucht, gelesen und bearbeitet wird, denn nur dann wird sich ihr wahrer Nutzen entdecken.



Anmerkungen

Siegfried Jacobsohn: Briefe an Kurt Tucholsky: 1915–1926. »Der beste Brotherr dem schlechtesten Mitarbeiter.« München: Knaus 1989.   zurück
Ernst Bergmann: Der Fall Reinhardt oder Der künstlerische Bankerott des Deutschen Theaters zu Berlin. Eine kritische Studie. Berlin: Dr. E. Bergmann 1906.   zurück